Mexiko/Permanentes Völkertribunal: der gelüftete Schleier

Sonntag, 30. November 2014




Silvia Ribeiro*


Daniel Feierstein, Mitarbeiter des argentinischen Centro de Estudios sobre Genocidio und der Jury der Schlussverhandlung des  Permanenten Völkertribunals, Kapitel Mexiko (Tribunal Permanente de los Pueblos,TPP), äusserte angesichts der dem Tribunal vorgelegten Tatsachen, dass sie in anderen Ländern schon Fälle von Folter, aussergerichtlichen Hinrichtungen, gewaltsamem Verschwindenlassen, Politmorden, Vergewaltigungen, Repression von Bewegungen und hohem Grad von Straflosigkeit analysieren mussten … aber stets bei Diktaturen. Mexiko, fügte er an, ist das einzige Land, wo all dies unter der Demokratie geschieht.
Das Massaker der Studierenden von Ayotzinapa und die von Empörung und Solidarität getragene Reaktion im ganzen Land und weltweit lüftet unwiderruflich den Schleier und wirft ein Schlaglicht auf eine harte Realität (s. Mexiko/Ayotzinapa: Die Schrift an der Wand und Mexiko: Das Massaker in Iguala). Alles, was das Tribunal während drei arbeitsintensiven Jahren dokumentiert hatte, kondensierte sich in ein paar Stunden der Barbarei in Iguala, schreibt die Jury in der Einleitung zu ihrem Urteil vom 15. November 2014. In diesem Reich der Straflosigkeit, das Mexiko heute ist, gibt es Morde ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne Täter – ein permanentes Abwälzen von Verantwortung, bei dem anscheinend abertausende von Massakern, Morden und systematischen Verletzungen der Rechte der Völker stets isolierte Einzelfälle oder marginale Momente sind, und nicht reale Verbrechen, für die der Staat die Verantwortung trägt.
Drei Jahre Verfahrensdauer, über tausend beteiligte soziale Bewegungen und Organisationen, Dutzende von Foren und Vorbereitungsworkshops der Sessionen im ganzen Land erbrachten, systematisierten und dokumentierten über 500 Fälle von Verletzungen des Völkerrechts: Gewalt gegen MigrantInnen, ArbeiterInnen, Medienarbeitende, Junge, Feminizide und andere Formen der sexistischen Gewalt, Umweltzerstörung, Gewalt gegen die Völker des Mais und die Ernährungssouveränität, Angriffe auf das Erziehungswesen und die Lehrpersonen, schmutziger Krieg mit seinem Schatten auf das Heute, Enteignungen, Massaker und Kriege, die kein Ende haben und die sozialen Bewegungen mit Repression überziehen. Und über all dem ein Tuch der Legalität und Straflosigkeit.

*aus TPP: el velo rasgado La Jornada, 29.11.14
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(zas) Soviel aus dem Artikel von Silvia Ribeiro. Die Autorin ist Lateinamerika-Direktorin der vorallem in Lateinamerika, Asien und Afrika arbeitenden ETC Group, die sich als Ziel u. a. die „Erhaltung und nachhaltige Förderung von kultureller und ökologischer Diversität und Menschenrechten“ (etcgroup.org)  setzt. Ribeiro beschreibt im Artikel weiter die minutiöse Arbeit des TPP in Mexiko seit 2011, seine Unterstützung etwa durch Personal des Internationale Strafgerichtshofs und sein Urteil, das mexikanische Regierungen bis zur heutigen von Präsident Enrique Peña Nieto wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Peña Nieto galt dem Medienmainstream gerade noch als ein Wunder an Reformkraft, als einer, der Mexiko von seinem „Reformstau“ befreie, während er heute wegen seiner offensichtlichen Versuche bzw. deren Scheitern, das Massaker von Ayotzinapa zu marginalisieren, als inkompetent abgehandelt wird. „Einen Präsidenten wie den mexikanischen wünschen sich viele Lateinamerikaner. Er ist jung, dynamisch und scheut sich nicht, Tabus zu brechen … Mäuschenstill war es im Saal, als der Rockstar der lateinamerikanischen Politszene, der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto, am World Economic Forum in Panama seine Reformagenda entblätterte“ (NZZ. 14.4.14: Mexiko setzt zum Sprung an,Autor: Richard Bauer).
Erinnern wir uns an die transnationalen Medienelogen zur Privatisierung des mexikanischen Öls oder zur neoliberalen Konterreform im Erziehungswesen, die als Aufräumen mit alteingesessenen Gewerkschaftskartellen präsentiert wurde. Im Visier standen dabei solche Dinge wie die Escuelas Normales Rurales, LehrerInnenseminare, zu denen die Schule von Ayotzinapa gehört: Eingeführt noch unter dem Einfluss der mexikanischen Revolution, stellten sie eine Möglichkeit für „marginalisierte“ Indígenas dar, im Erziehungsbereich aktiv zu werden. Seit ihrer Gründung sind sie Angriffsziele der Reaktion, gelten sie als Horte der Guerillas, der Subversion. Wegen solcher Dinge muss das TPP „Angriffe auf das Erziehungswesen und die Lehrpersonen“ untersuchen. „Ayotzinapa“ muss mitdenken, wer sich für die Konterreform im Unterrichtswesen begeistert.
Von alldem auch heute nicht der Hauch einer Ahnung beim Medienchor, der seine Lobeslitanei auf die „Reformen“ zwischendurch – wie jetzt angesichts des Widerstands gegen „Ayotzinapa“ - kurz aussetzen muss, damit ihr Zusammenhang mit der Logik des Massakers nicht zu offensichtlich werde oder gar ihm selbst dämmere.

Brasilien plant Unterseekabel ohne die USA

Samstag, 29. November 2014

29.11.2014 Brasilien / EU / USA / Medien / Politik

Brasilien plant Unterseekabel ohne die USA

Die heute existierenden Unterseekabel zwischen Nord- und Südamerika sowie Europa und Afrika. "Atlantis 2" verbindet Argentinien, Brasilien, Senegal, Kapverden, Kanarische Inseln und Portugal. Es ist für den Internet-Datenverkehr nicht geeignet und wird nur für konventionelle Telefongespräche verwendet
Die heute existierenden Unterseekabel zwischen Nord- und Südamerika sowie Europa und Afrika. "Atlantis 2" verbindet Argentinien, Brasilien, Senegal, Kapverden, Kanarische Inseln und Portugal. Es ist für den Internet-Datenverkehr nicht geeignet und wird nur für konventionelle Telefongespräche verwendet
Brasília. Im Zuge der Enthüllungen des Ex-NSA-Mitarbeiters Edward Snowden über die weltweiten Spionageaktivitäten US-amerikanischer und britischer Geheimdienste wird Brasilien ein Unterseekabel für die Telekommunikation ohne die Beteiligung der USA verlegen. Das Breitbandkabel soll das südamerikanische Land über Portugal mit Europa verbinden.
Wie das spanischsprachige Nachrichtenportal Contrainjerencia berichtet, wird die brasilianische Regierung auch US-Konzerne von der Zusammenarbeit ausschließen. Präsidentin Dilma Rousseff verwies darauf, dass die Unterseekabel das Hauptziel US-amerikanischer Überwachung seien.
Für die Umsetzung des Vorhabens wird das zuständige staatliche Unternehmen Telebras auf die Zusammenarbeit mit Konzernen aus Ländern Europas, Asien und Afrikas, wie Alcatel, Huawei oder Ericsson, zurückgreifen.
Branchenkenner wiesen jedoch darauf hin, dass nur wenige Projekte solchen Umfangs ohne Kooperation mit Unternehmen aus den USA umzusetzen seien. Vielerorts fehle das nötige Know-how. Dennoch zeige das Umdenken vieler Regierungen nach Bekanntwerden der Spionage bereits wirtschaftliche Auswirkungen auf US-Konzerne. Von der Entscheidung der brasilianischen Regierung sei vor allem das Unternehmen Cisco betroffen, dessen weltweite Umsätze seit den Spionageenthüllungen ohnehin bereits eingebrochen seien, wie das Nachrichtenportal schreibt. Cisco hatte noch im Jahr 2012 angekündigt, eine Milliarde US-Dollar in Brasilien investieren zu wollen. Unter anderem sollte es am Bau von Unterseekabeln beteiligt werden.
Der Beginn des Kabelprojektes mit einer Konstruktionsdauer von 18 Monaten ist für die erste Hälfte des Jahres 2015 geplant. Gegen Ende 2016 soll die Verbindung zwischen der Stadt Fortaleza im Nordosten Brasiliens und Lissabon stehen. Darüber hinaus plane die Regierung Rousseff die digitale Infrastruktur auch nach Afrika und Asien auszubauen, ohne dabei über Strukturen der USA gehen zu müssen. Die Abkehr von US-Beteilungen werten Analysten auch als Chance für die Entwicklung digitaler Industrien in anderen Weltregionen.
Die Vereinbarung für das Unterseekabel zwischen Brasilien und Westeuropa war bereits im Februar dieses Jahres bei einem Besuch Rousseffs in Brüssel mit der Europäischen Union getroffen worden. Die Präsidentin sagte, das Projekt ziele darauf ab, "die Neutraliät des Internet sicherzustellen" und den Datenverkehr "vor der Überwachung durch die USA zu schützen."

Honduras: Eine Polizeirevolte und US-Wohltäter

Sonntag, 23. November 2014




(zas, 23.11.14) Die letzten beiden Tage erlebte Honduras so etwas wie eine Polizeirevolte. Auslöser: Sicherheitsminister Arturo Corrales, ein wichtiges diplomatisch-politisches Element in der Putschregie von 2009, gab letzten Freitag die Entlassung des weniger als ein Jahr als Chef der Policía Nacional (PN) amtierenden Ramón Antonio Sabillón zugunsten von dessen bisherigem Vize bekannt. Die meisten hochrangigen Polizeichefs strömten darauf ins Polizeihauptquartier Casamata, wo sich Sabillón bis spät gestern Nacht (Ortszeit) verbarrikadiert hatte, unter dem Schutz von Einheiten der Polizeielitetruppe Cobras gegen einen allfälligen Armeeangriff. Gestern Nacht nun räumte Sabillón das Feld.
Hintergrund der Auseinandersetzung ist offenbar  der mit der Absetzung von Sabillón noch verschärfte Prozess der Relegierung der zivilen Polizei zugunsten der vom jetzigen Staatspräsidenten Juan Orlando Hernández in seiner Zeit als (äusserst mächtiger) Parlamentspräsident geschaffenen Policía Militar (PM). Die PN ist bekannt als korrupt und brutal, einen Ruf, den sich die PM in der kurzen Zeit ihrer Existenz natürlich ebenfalls erworben hat. 
PM in Honduras. Quelle: Eric
 
Feminzid unwichtig, wichtig die Miss-Wahl
Als Beispiel für die von der PN verteidigte Unsicherheit und Straflosigkeit sehen wir dieser Tage vor dem 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wie die PN den Mord an zwei Schwestern im Departement Santa Bárbara binnen sechs Tagen aufgeklärt zu haben scheint: Die Leichen der beiden Ermordeten  wurden gefunden, der mutmassliche Täter ist gefasst. Hintergrund: Die eine der beiden Schwestern sollte demnächst als Miss Honduras am internationalen Wettbewerb teilnehmen. In diesem Fall gab es ein grosses mediales Echo im In- und Ausland, worauf die PN flugs zeigte, dass sie auch ermitteln kann. Bis zum Tag des Mordes an den beiden sind in Honduras in diesem Jahr weitere 328 Frauen Opfer eines Feminizids geworden; in der Regel bleiben 98 Prozent von Feminiziden ungestraft. Der Kontrast ist klar, und noch etwas, wie Gladys Lanza von der feministischen Gruppe Visitación Padilla festhält: „Man hat dem Schönheitswettbewerb viel Gewicht gegeben, es scheint, dass er das Wichtigste ist. Aber ich denke, es geht um eine Frau mit dem Recht auf Leben, und das reicht, um klar zu machen: Trotz ich weiss nicht wieviel Polizei und wieviel Armee auf der Strasse ist es nicht möglich, die Ermordung, Entführung oder Folter von Frauen einzudämmen.“

Der Besuch des Southcom und die Wagenkolonne der Botschaft
Dieser „Umstand“ kümmert den Präsidenten Hernández und seine Entourage wenig. JOH ist ein ergebener Verfechter der Durchmilitarisierung aller Sicherheitsbereiche, die die Gewalteskalation in diesem Land mit der laut UNO weltweit höchsten Mordrate im Jahr 2013 anheizt. Wer einer „Säuberung“ der PN fordert, ohne die anderen Sicherheitskräfte einzubeziehen, redet einer weiteren Militarisierung der Gesellschaft das Wort.
Mitglieder der Linkspartei Libre – ihrerseits gerade in einer schweren inneren Krise – sind in den beiden Tagen der Revolte ins Polizeiquartier geströmt, um dem Abgesetzten ihre Solidarität zu bekunden. So die ehemalige Ex-Direktorin des polizeiinternen Disziplinardienstes und heutige Libre-Vertreterin in der Stadtregierung von Tegucigalpa, der zufolge die Absetzung von Sabillón illegal ist, da sämtliche für einen solchen Fall vorgesehenen institutionellen Prozederes missachtet wurden.
Es scheint sich auch nicht allein um eine diktatorische  „Anwandlung“ des Präsidenten zu handeln. Das Jesuitenradio Eric  jedenfalls berichtete letzten Freitag: „Der Absetzung des Polizeichefs ging ein unerwarteter Landesbesuch einer zahlreichen Gruppe von Personen des US-Pentagons unter Leitung von John Kelly, Chef des Südkommandos der US-Streitkräfte, voraus. Er war …. an der Entscheidung, der Policía Nacional das Genick zu brechen, beteiligt … Die direkte US-Präsenz in der Krise war sichtbar und liess sich nicht verheimlichen. So bewegte sich zum Beispiel in der Nacht eine Wagenkolonne von der Botschaft zur Casamata, um die Krise zu beenden.  Wir müssen zugeben, dass wir unter nordamerikanischer Kontrolle stehen.“
Selbst die Regimemedien, die die Affaire zur Bagatelle herunterspeilten, kamen nicht ganz umhin, eine US-spur anzudeuten. Das tönte dann in El Tiempo Online spät nachts letzten Freitag dann so: „Aufmerksamkeit erheischte die Ankunft von Personen mit US-Nationalität [in der Casamata], denen die Polizisten einen Grussboten, weshalb man spekulierte, dass es um Bürger der USA gehe, die Wohltäter der Polizei sind“.
Hernández in Honduras tanzt nach der gleichen Pfeife wie Amtskollege Peña Nieto in Mexiko. Mordraten oder Massaker sind dann stets das Argument, die Protektoren (und oft auch die Täter) erst recht aufzurüsten und zu stärken. Schliesslich ist der Pentagon- „Drogenkrieg“ auch in Honduras äusserst produktiv im Sinne der umfassenden Erschliessung des mesoamerikanischen Grossraums.

Das Comeback des Jim Crow

Samstag, 22. November 2014



(zas, 22.11.14) Im Juni letzten Jahres schuf der Supreme Court der USA Sektion 4 des US-Wahlrechtsgesetzes von 1965 ab (s. Elections – American Style). Seither müssen 16 Staaten, die berüchtigt waren und sind dafür, schwarzen und anderen minority- Angehörigen Hindernisse für die Ausübung ihres Wahlrechts in den Weg zu legen, die entsprechenden Regulierungen nicht mehr dem US-Justizministerium zur Genehmigung vorlegen. Dieses hatte etwa Florida bei den letzten Präsidentschaftswahlen gezwungen, 180‘000 US-BürgerInnen, „illegale AusländerInnen“ mit meist mexikanischen Namen, wieder in sein WählerInnenregister aufzunehmen.

Damals hatten der Recherchierjournalist Greg Palast und Joseph Kennedy Jr. diverse Wahlbehinderungsmechanismen publik gemacht, die Millionen von Unterklassenmenschen betrafen. „Publik“ meint natürlich nicht, dass die Mainstreammedien davon Notiz genommen hätten. Genau so wenig wie aktuelle Innovationen der Wahlbeteiligungsverhinderung in den USA  (ich habe bloss in Daniel Sterns WoZ-Artikel Die grosse Unzufriedenheit einen Hinweis darauf gesehen).
Dieser Tage hat Greg Plast einen weiteren Bericht in seiner Serie zu neuen Modalitäten der Verhinderung von Wahlbeteiligung primär von Unterklassensegmenten in den USA veröffentlicht (The Secret Lists that Swiped the Senate). Er kommt zum Schluss, dass die Republikaner einzig dank dieser Art von Wahlbetrug bei den Midterm-Wahlen von Beginn dieses Monats die Mehrheit im US-Senat errungen haben.  Paranoide Verschwörungstheorie? Wer 2000 bei Bushs Wahl zum Präsidenten nichts bemerkt hat, wer den bis in die 1960er Jahre selbstverständlichen Wahlausschluss von Schwarzen in - vorallem, aber nicht nur - den Südstaaten in vorgeschichtlicher Zeit datiert, wird  eine solche Aussage unbesehen als Verschwörungsstory  verwerfen und vergessen.

Der Hype der Ultras
27 meist republikanisch regierte Bundesstaaten bedienen sich des Softwareprogramms Crosscheck, um „mutmassliche“ DoppelwählerInnen dingfest zu machen, also Leute, die bei der gleichen Wahl in zwei Staaten ihre Stimme abgeben haben. Es ist der grosse Hype der republikanischen Ultras, dass die Demokraten nur dank solchem Wahlbetrug überhaupt Siegeschancen haben. Crosscheck eruiere mögliche DoppelwählerInnen, so die Behauptung der beteiligen Wahlbehörden, dank des Vergleichs der WählerInnenregister der beteiligten Staaten in Bezug auf Vornamen, Mittelnamen, Geschlechtsnamen, Namensuffix (etwa das an den Namen angehängte „Jr.“), Geburtsdatum  und social security-Nummer. Ergebnis: fast 7 Millionen eventuelle  DoppelwählerInnen in den ursprünglich 28 beteiligten Staaten (Washington ist nach Vorliegen der Crosscheck-Resultate aus dem Unternehmen ausgestiegen), von einer Gesamtzahl von 110 Millionen Wahlregistereinträgen. Palast und sein Team haben lange vergeblich um die Herausgabe der Verdachtslisten ersucht: Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes der mutmasslichen GesetzesbrecherInnen bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung sei dies unmöglich, so die zuständigen staatlichen Wahlbehörden.

Millionen DoppelwählerInnen?
Aber dank sogenannter open ressource requests gelangte Palast im Namen von Al Jazeera America letzten Oktober in den Besitz der Listen der drei Staaten Georgia, Virginia und Washington mit über 2 Millionen Hits und zur Erkenntnis: Verglichen wurden nur Vor- und Nachnamen, „nicht einmal Geburtsdaten scheinen in Betracht gezogen worden zu sein“, wie Palast am 29. Oktober 2014 in seinem ersten Crosscheck-Beitrag Jim Crow Returns festhält. Palast dort weiter: „“Die Listen der drei Staaten enthalten schwergewichtig Namen wie Jackson, García, Patel und Kim – Namen, die einst unter den Minderheiten, die überwiegend demokratisch wählen, verbreitet waren. Tatsächlich wird 1 von 7 AfroamerikanerInnen als DoppelwählerIn verdächtigt. Dies gilt auch für 1 von 8 Asian Americans und 1 von 8 Hispanics.  Auch weise WählerInnen haben im Verhältnis von 1 zu 11 das Risiko, aus dem Wahlregister entfernt zu werden, allerdings ist es weniger hoch als bei den Minderheiten.“ 

Helen Butler arbeitet für die Georgia Coalition for the Peoples‘ Agenda als Organisatorin der Wahlbeteiligung. Jede auf Namen basierende „Säuberung“ der Wahlregister ist implizit anti-afroamerikanisch, da, wie Palast sie zitiert: „Wir [AfroamerikanerInnen] den Namen unseres Sklavenhalters angenommen haben“. (53 % der „Jacksons“ sind schwarz).  Helen Ho von Asian Americans Advancing Justice in Atlanta: „Ich denke, alle, die mal auf die Asian American Namen und Vornamen geachtet haben,  müssten wissen, dass das eine unverhältnismässige Wirkung zeitigt. Ich bin sicher, das gilt auch für die Latino-Community.“  „Tatsächlich“, fügt Palast an, „teilt sich ein Sechstel der Asian Americans 30 Nachnamen und 50 Prozent der Minderheiten haben gemeinsame Nachnamen, im Gegensatz zu 30 Prozent der Weissen.“
Kris Kobach, Innenminister von Kansas und Crosscheck-Promoter, gibt stolz an, 14 WählerInnen wegen Doppelwählen angezeigt zu haben. In North Carolina haben die Behörden einen Ex-FBI-Agenten zum Überprüfen „ihrer“ 192‘207 Crosscheck-Verdächtigen angeheuert. Nach fünf Monaten Schnüffeln hat der Mann nicht einen Fall erhärten können.
Der Rechtsstaat geht natürlich auch bei Crosscheck vor. So erhalten alle „Verdächtigen“ eine Postkarte, in der sie aufgefordert werden, Namen und Adresse zu verifizieren. Nur „sieht sie“, so Helen Butler über die in Georgia verschickte Karte, „aus wie ein Stück Trashpost, die du jeden Tag erhältst und fortschmeisst“ (id.). Zur gleichen Karte hält direct-mail-Experte Michael Wychocki erstens fest, dass sowieso 4 bis 20 Prozent aller Post verloren geht, und betont zweitens „den Unterschied zwischen Arm und Reich“ (Palast), wenn er sagt : „Die afroamerikanische Familie Williams – sie mietet – zieht möglicherweise jedes Jahr um, während die Whitehall-Familie im Einemillionhaus wird kaum je umzieht“ (id.). Wychoki weiter: „Es sieht so aus, dass sie jede direct-marketing-Regel  verletzt haben“, indem sie, so Palast Wychoki resümierend, „eine Karte entworfen haben, für die es garantiert scheint, dass sie nicht beantwortet wird. Er erklärt, dass Marketingprofis wissen, dass die Leute unerbetene Post nur zwei Sekunden lang anschauen, und dieser Einmal-Approach – keine folgende Telefonanrufe, Emails, Radiokampagnen oder anderes –garantiert eine tiefe Antwortquote.“

Wahlen gewinnen
 In seinem neuesten Beitrag (The Secret Lists that Swiped the Senate) geht Palast erst auf den in den USA berühmten Wahlstatistiker Nate Silver ein, der nicht versteht, dass die Demokraten bei den Midtermwahlen vom 4. November 2014 nicht mit 4 Prozent Stimmenvorsprung gewonnen haben. „Crosscheck“, erklärt Palast. So gab es knappe republikanische Sitzgewinne in North Carolina (48‘511 Stimmen Vorsprung, 589‘393 Crosscheck-Namen) und Colorado (49‘729 Stimmen Vorsprung, 300‘842 Crosscheck-Namen). Palast: „Die Crosscheck-Säuberung liess auch Wahlen in Alaska und Georgia kentern und verschaffte vermutlich die Siegesmargen für die republikanischen Gouverneurskandidaten in Kansas und Massachusetts. Typisch ist Virginia,  das stolz 64‘581 ‚Duplikate’ aus seinem Wahlregister von 2013 strich, was 19 Prozent seiner Crosscheckliste entspricht. Andere Staaten verweigern Zahlenangaben, aber ihre Schrubbmethoden sind wie die von Virginia oder noch aggressiver. Wir können konservativ annehmen, dass die Säuberung von 19 Prozent der Crosschecklisten bei mindestens drei republikanischen Senatsgewinnen und damit der Kontrolle des Senats den Ausschlag gab.“
Zu Nate Silvers Statistikkofpweh hat sich auch der bekannte Wahlrechtsblogger Brad Friedman geäussert, der zur Erklärung nebst Crosscheck auch auf bestandene Methoden der Wahlbeteiligungverhinderung hinweist: „von ID-Fotorestriktionen über fehlende Wahlregistereinträge zum geplanten Papiermangel in den Wahlkreisen der Minderheiten. Allein in Georgia sind 56‘000, von einer Koalition von Minderheitenwahlrechtsgruppen  gesammelte  Registeranträge schlicht nicht aufgenommen worden“ (Palast).
Was Wunder, sagt einer, der Bescheid weiss: „Es ist wieder ganz Jim Crow“ (Jim Crow Returns).  (Nach der Bürgerkriegs-Schlachterei von 1861-65 erhielten die Schwarzen die juristische Gleichberechtigung mit Weissen und  das Wahlrecht. Beides wurde ihnen in den Südstaaten standa pede, abgesegnet vom Supreme Court, via Diskriminierungsgesetzte und -massnahmen unter dem Motto von equal but separate wieder verwehrt. Als Propaganda diente die Figur des unterbelichteten Schwarzen Jim Crow, damals „populär“ gemacht in den minstrel shows, in denen Weisse Schwarze verhunzten.) Die Jim-Crow-Periode gilt ab 1965 als beendet. Der jetzt wieder Jim Crow sieht, ist Rev. Joseph Lowery. In den USA ein bekannter Mann: Er hatte mit Martin Luther King Jr. die in den civil rights-Kämpfen berühmt gewordene Southern Christian Leadership Conference gegründet. 
4.11.14: Protest gegen elektorale Reaktion. Quelle: gregpalast.com
 
Zeitgenösssischer Faschismus?
Zwei Dinge noch: Es ist unbezweifelbar, dass die neue Jim-Crow-Periode primär von der Republikanischen Partei als Mittel für ihre Wahlsiege promoviert wird. Palast betont in seinen Recherchen diesen Strang. Allerdings machen bei Crosscheck auch von der anderen Partei regierte Staaten mit. Jim Crow zielt vielleicht auf das Ende einer in den 60er Jahren angefangenen Periode, ähnlich wie der heutige Workfare-und Krisenterrorismus auch das Umdrehen aller unter dem Eindruck der sowjetischen Bedrohung gemachten sozialen Zugeständnisse des Kapitals anstrebt und dabei einen neuen Faschismus aktiviert.
Und natürlich stellt sich die Frage nach dem Sinn einer Wahlbeteiligung unter Bedingungen, wie sie etwa in den USA herrschen. Dass aber diese Frage einzig die potenziellen WählerInnen beantworten können, sollte klar sein.