Massaker in Gaza ignorieren, für Demokratie in Tel Aviv protestieren

Dienstag, 25. März 2025

 

Hanin Majadli*

Israel verübte kürzlich das grösste Massaker an Kindern seiner Geschichte. An einem Tag wurden 200 Kinder und 100 Frauen getötet. Insgesamt wurden rund 400 Zivilpersonen getötet. Diese Zahlen werden in den israelischen Medien nicht genannt – und wenn doch, auf haarsträubende Weise.

So berichtete Chanell 12 News, der israelische Mainstreamsender, die 400 Tote seien «operatives», «Agenten», gewesen. Wie kann man behaupten, alle seinen «operatives» gewesen, wenn vollkommen klar ist, dass die ganze Welt die entsetzlichen Bilder von zu Tode gebombten Babys und Kindern sieht? (…)

Die Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit, die gegen den Krieg ist, ist der Meinung, dass der Krieg das Leben der Geiseln gefährdet und dass die Kämpfe aus politischen Gründen wieder aufgenommen wurden. Ich konnte die israelische Reaktion zu Beginn des Krieges, nach dem 7. Oktober 2023, irgendwie verstehen, auch wenn sie sich nicht direkt auf die palästinensischen Opfer bezog. Damals sollte die Reaktion davor schützen, als „Verräter“ abgestempelt zu werden. Aber nach 18 Monaten des Massenmords, der als ewige Schande in die Geschichtsbücher eingehen wird, kann dieser Mechanismus nicht mehr funktionieren.

Die Wiederaufnahme des Krieges wird zwar die Geiseln töten, aber vor allem Massen von palästinensischen Männern, Frauen, Kindern und älteren Menschen. Wann werden die israelischen Kriegsgegner laut aussprechen, was gesagt werden sollte, und aufhören, euphemistisch zu sein? Wie ich höre, haben sich einige damit abgefunden, als „Kindermörder“ abgestempelt zu werden. Ist es möglich, einen tieferen moralischen Tiefpunkt zu erreichen? Erschreckt es sie nicht, als solche bezeichnet zu werden?

In Israel ist es bereits unmöglich, zwischen den Dingen zu unterscheiden. Es ist unmöglich, zwischen den Medien und der Öffentlichkeit zu unterscheiden. Denn selbst diejenigen, die den Krieg ablehnen, haben Angst zu sagen, dass auch die Menschen im Gazastreifen Menschen sind. Denn es ist unmöglich, den Piloten von der Bombe zu trennen. Man sagt ihm, er soll den Knopf drücken, und er drückt ihn. Die Mehrheit der Bevölkerung duldet nicht nur die Massenabschlachtung, sondern fordert sie sogar, entweder ausdrücklich oder stillschweigend.

Das ist nicht ein Problem, das von den Medien vertuscht oder manipuliert wird. Es ist die Frucht einer militaristischen rassistischen Indoktrination, die im Kindergarten beginnt und bis zum Tod andauert. Eine Indoktrination, die zerstört werden muss, um die Existenz des Zionismus zu rechtfertigen.

Das Narrativ, das derzeit von der liberalen jüdischen Öffentlichkeit in Israel als Kampf zur Rettung der israelischen Demokratie dargestellt wird, hat etwas Verdrehtes an sich. Dieser Kampf besteht darin, dass die tödlichen Folgen des Krieges für den Gazastreifen und die Menschen im Gazastreifen fast überhaupt nicht erwähnt werden.

Wie ist es möglich, die Verteidigung demokratischer Werte mit einer Situation in Einklang zu bringen, in der auf der anderen Seite Zehntausende von Menschenleben mit einem einzigen Schlag ausgelöscht werden? Es klingt unglaublich.

·       Haaretz, 21.3.25: Ignoring Massacres in Gaza City While Protesting for Democracy in Tel Aviv

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(zas) Soweit der Schrei der Autorin. Was sie für Israel beschreibt, reflektiert sich hier im Grossteil der medialen «Vermittlung». Kritik an Israel? Ähm, respektiert Netanyahu die israelische Demokratie? Wenn es um drohenden Tod geht, dann meistens und fast «automatisch» um jenen israelischer Geiseln und solcher aus anderen Ländern in den Händen der Hamas. Ja, es gibt Ausnahmen der Ehrlichkeit. Aber sie sind das: Ausnahmen. Das ist nicht so, weil den Israelis einfach nachgeschwatzt würde. Sondern weil die Medien nicht anders können, als die eigenen, westlichen Kriege zu unterstützen. Und für linke Sensibilitäten gibt es einen Mechanismus, um nichts gegen den Genozid zu machen: «Kampf gegen Antisemitismus». Dieser «Kampf» neutralisiert – wer wüsste das nicht? – den Völkermord. Denn wie ginge das zusammen, den Völkermord in Palästina zu verurteilen, ohne antisemitisch zu sein?

El Salvador/USA: His master’s voice

Sonntag, 23. März 2025

 

(zas, 22.3.25) Am 19. März tweetete Nayib Bukele «The U.S. is facing a judicial coup” (original Englisch). Elon Musk antwortete: “1000%”. Bukele sekundierte damit Trumps Forderung nach einem Impeachment des US-Bundesrichters Boasberg. Am 14. März hatte Trump befohlen, illegal eingewanderte VenezolanerInnen ab 14 Jahren, die Mitglieder der kriminellen Organisation Tren de Aragua (Venezuela) seien, zu verhaften und «abzuschieben». Dem folgte zwei Tage später die Deportation von über 200 angeblichen Mitgliedern des Tren de Aragua nach El Salvador. Zuvor hatte Trump schon das Alien Enemies-Gesetz (von 1798), das erlaubt, BürgerInnen von Ländern im Krieg mit den USA zu internieren, reaktiviert. Doch Richter Boasberg untersagte die Deportation von fünf appellierenden VenezolanerInnen, worauf Justizministerin Pam Bondi sagte, «das Justizministerium hält (…) unbeirrt daran fest, diese Invasion zu stoppen and Make America Save Again». Ihr Ministerium rekurrierte gegen die Entscheidung, worauf Boasberg seinerseits befahl, wegen Verdachts auf Verfassungswidrigkeit vorerst sämtliche Deportation unter der Alien Enemy Act auszusetzen und allenfalls schon gestartete Flüge zurückzurufen.

Der für einen Rückruf höchstwahrscheinlich erreichbarer Flug nach San Salvador - die Regierung verweigert bis heute dem Richter Auskunft über die Flugzeit - wurde nicht gestoppt, und Bukele «empfing» die Deportierten auf seine gewohnten Weise. Er verbreitete Videos, wie sie aus dem Flugzeug brutal in Transportfahrzeuge verfrachtet und im Riesengefängnis CECOT gedemütigt wurden. Die US-Medien bombardierten die Bevölkerung damit. Das Weisse Haus unterstützte das «Anliegen» mit einem eigenen Video mit einem spöttischen Abschiedslied für einen zu deportierenden Migranten. Die Sprecherin des Weissen Hauses, Karoline Leavitt, meinte dazu, das sollte «illegale Immigranten zu aktiver Selbst-Deportation» ermutigen, «um sich so vielleicht davor zu retten, sich selber in so einem Spassvideo zu befinden.» Grausamkeit als Programm.

Vieles spielt in diese Vorgänge rein. Etwa die schreiende Rechtlosigkeit in Washington und San Salvador. Oder die vom Weissen Haus geschürte Paranoia unter Millionen von MigrantInnen (Bukele verfasste praktisch alle seine Tweets zum Thema auf Englisch – er kennt seine Aufgabe). Oder die Fassungslosigkeit in Venezuela. Parlamentspräsident Jorge Rodríguez nannte Bukele einen negrero, einen Händler mit schwarzen Versklavten. Nebst Erlösen aus Zwangsarbeit erhält das Bukele-Regime, wie letzten Februar mit Marco Rubio vereinbart, für seine Dienstbarkeit den zehnfachen Betrag pro Gefangener, den es sonst ausgibt.) Doch hier nur ein paar Infos zur salvadorianischen Dynamik.

 

Tren de Aragua

Bukele sprach am 16. März von «angelieferten» «238 Mitgliedern der venezolanischen kriminellen Organisation Tren de Aragua» und 23 salvadorianischen Mitgliedern der Mara 13. Aber die US-Behörden gaben bekannt, dass 101 der 238 Deportierten wegen illegaler Einwanderung festgenommen wurden, nix Tren de Aragua. Ob und wenn ja wie viele Mitglieder des Trens sich unter den 238 befinden, ist ungewiss – Washington schweigt sich zu seinen «Ermittlungen» dazu aus. Was stimmt, ist das der Tren de Aragua eine venezolanische Gangsterbande ist. Seit geraumer Zeit wird er von Medien im Umkreis des US-Sicherheitsapparats wie Insight Crime als von Maduro dirigiertes extrem mächtiges Kartell beschrieben. Nun, der Tren existiert tatsächlich. Nach Angaben venezolanischer Behörden konnten sie ihn allerdings massiv schwächen. Und klar ist, trotz westlich-medialer Vertuschung, dass der Tren de Aragua bei den Präsidentschaftswahlen von letztem Sommer im antichavistischen Lager operierte.[i]

 

Die Protektion

Und die 23 angeblichen Mara-Mitglieder, die Trump gleich «mitgeliefert» hat? Im oben verlinkten Tweet sprach Bukele von zwei Mara-Anführern unter den 23. Einer ist als César López Larios alias Greñas - ein Topchef der Mara Salvatrucha (MS-13) - identifiziert. Der Mann war nach 15 Jahre Knast in El Salvador in die USA gezogen, wurde dort verhaftet und nach El Salvador ausgeliefert, wo er nach Absitzen der maximalen Dauer von 3 Jahren Untersuchungshaft 2020 freigelassen wurde. Im gleichen Jahr integrierte ihn die Staatsanwaltschaft des Eastern District of New York in ein Verfahren gegen weitere Mitglieder der MS-13-Führung des Terrorismus, Drogenhandels u. ä. 2024 fassten ihn mexikanische Dienste und lieferten ihn an die USA aus.

Eine schon unter der letzten FMLN-Regierung installierte, US-geleitete Sondereinheit in Staatsanwaltschaft und Polizei von El Salvador hatte viele Erkenntnisse über geheime Absprachen von Bukele-Vertrauten und Maras an die US-Behörden weitergeleitet, die diese manchmal leakten. So etwa über eine Geheimoperation, in der hohe Bukele-Funktionäre den wichtigen Mara-Boss Crook 2021 aus dem Gefängnis holen, ihn in einer Luxusloge unterbringen und danach sicher nach Guatemala begleiteten. Crook wurde wie auch andere MS-Grössen, waren offiziell im salvadorianischen Knast, wurden aber in Mexiko verhaftet und an die USA ausgeliefert. Dort wird ihnen ein Prozess wegen Verbrechen in den USA, aber auch zu ihren Absprachen mit Bukele gemacht. Die Biden-Administration hatte trotz allgemeinem Entgegenkommen zu Bukele dessen Dauerbitten, die Mara-Bosse in El Salvador verurteilen zu können, nicht erfüllt. Würde der US-Prozess zu Ende geführt, drohte Bukele ein Schaden.

Trumps weiss das und protegiert seinen Peón. Das zum bisherigen regionalen Soft-Power-Apparat der USA gehörende salvadorianische Medium El Faro erhielt dazu ein Dokument der Eastern District-Staatsanwaltschaft vom 11. März zugespielt, das diese eigentlich versiegelt hatte. Wenige Tage vor der Auslieferung Greñas’ schrieb Staatsanwalt John Durham an die zuständige Richterin: «(…) Wie unten dargelegt, hat die USA entschieden, dass sensitive und wichtige aussenpolitische Überlegungen unter Einbezug aller Umstände das Interesse der Regierung an einem weiteren Verfahren gegen den Angeklagten überwiegen, und beantragt deshalb die Einstellung des Falls.» Wenige Tage danach erhielt das kolumbianische Medium 2lasorillas.co, politisch ähnlich beheimatet wie El Faro, ein weiteres Schreiben des Staatsanwaltes Durham vom 16. März. Darin beschwert er sich über das Leaken versiegelter Unterlagen, womit der Schutz der Operation (Überstellung von Greñnas) und der beteiligten Agenten gefährdet worden sei.   

Bukele ist zu einem Kerkermeister von US-Gnaden avanciert und hilft in den USA mit, die Stimmung für die Trump-Hetze gegen MigrantInnen aufzuheizen. Auch dafür wird er juristisch-politisch protegiert.

 

Parallelen

Kein Zufall, spricht Bukele von einem Justizputsch gegen Trump. Bevor er dank Parlamentsmehrheit auch den Justizsektor fundamental «säuberte», griff er dessen ihm nicht genehmen Sektoren an als Volksfeinde an. In den USA betreibt oder propagiert das Trump-Lager derzeit Impeachment-Verfahren gegen RichterInnen, die sich einzelnen Durchmarschbefehlen der Rechtsradikalen widersetzen. Die Bukele-Clique nimmt bei massiven trumpistischen Einschüchterungen von Medien, Oppositionellen, eigenen ParlamentarierInnen, Unternehmen oder anderen Regierungen vertrauten Stallgeruch wahr. Insbesondere die migrantischen Teile der Unterklassen in den USA sollen in Angst und Schrecken leben. Bukele betreibt Ähnliches als Kriminalitätsbekämpfung in den Armutszonen. Vor und nach seinem Wahlsieg 2019 war seine Unterstützung durch die US-Botschaft offensichtlich. Oft kam seither der Eindruck eines Freiland-Experiments in El Salvador hoch. Angstmache, Repression hüben und drüben. Gestern schrieb die New York Times, Trump sinniere in einem Social Media-Post über die Deportation nach El Salvador von Leuten - «einschliesslich US-Bürger» -, die Tesla-Wagen zerstören. Das Blatt zitiert ihn so: «Ich freu mich darauf, zu sehen wie diese terroristischen Verbrecher ein Urteil von 20 Jahren Knast bekommen für das, was sie Elon Musk und Tesla antun (…) Vielleicht könnten sie die Zeit in salvadorianischen Gefängnissen absitzen, die kürzlich für ihre so reizenden Bedingungen bekannt wurden.» 

Natürlich wissen Trump & Co., dass sie keine 10-12 Millionen MigrantInnen abschieben können. Sie gehen anders vor. Das Zerreissen von Familien, die Festnahme von Eltern, die ihre Kinder in der Schule abholen, die mediale Inszenierung von Razzien, von Deportationen (die unter Trump bisher faktisch unter der Zahl der Vorjahresperiode liegen), zielen auf Verängstigung, auf Lähmung, Fertigmachen (Prekarisierung). Um Ähnliches dürfte es beim Tesla-Gegeifer gehen.


[i] Vorgestern berichtete die New York Times über ein Papier der US-Geheimdienste, wonach sie alle ausser teilweise dem FBI, das sich auf «Informationen stützt, die die anderen Dienste als unglaubwürdig» einstufen, den Tren und die Regierung Maduro als «verfeindet» ansehen. Zudem sei der Tren zu desorganisiert und zu arm an Ressourcen, um im Regierungsauftrag zu handeln. In einem Statement antwortet das Weisse Haus so: «Es werden zahlreiche Geheimdiensteinschätzungen aus einer Vielzahl von Gründen zu Themen gemacht. Der Präsident handelte klar im Rahmen seiner gesetzlichen und verfassungsmässigen Autorität, als er sich auf die Alien Enemies Act berief, um illegale ausländische Terroristen aus unserem Land zu treiben.» Um dieses Gesetz benutzen zu können, bezeichnete Trump, so die Times, den Tren als Instrument der Regierung Maduro, um die USA via Migration zu destabilisieren.