Gaza: Tote Kinder nicht zählen

Samstag, 20. Juli 2024

(zas, 20.7.24) Erinnert sich wer noch an die «roten Linien» Bidens, die Israel in Rafah nicht überschreiten durfte? Da brauchte es laut Weissem Haus u. a. eine fürsorgliche humanitäre Betreuung der hierher vertriebenen Bevölkerung des Gazastreifens. Das war Ende Winter, Anfang Frühling. Von den roten Linien hört man nichts mehr. Dafür sieht es in Rafah heute wie auf dem Bild unten aus. Wie es der Bevölkerung ergeht, ersehen wir aus dem ersten Teil der folgenden Zeilen. In einem zweiten Teil schauen wir uns ein Juwel der verschleiernden Berichterstattung an, ein schon etwas älteres von letztem März. Es steht geradezu paradigmatisch für wiederholte, heute kaum modifizierte Versuche, das Dauermassaker schön zu reden, indem die Opfer, die Umgebrachten, die Leidenden in den Unschärfebereich zwischen islamistischer Propaganda und bedauernswerter «humanitärer Not» entsorgt werden. Schützenhilfe zum Genozid, nicht anders als das oft übliche mediale Dauerschweigen zu den Geschehnissen, das von gelegentlichen Kurzmeldungen eher unterstrichen als durchbrochen wird. Auch jetzt, in einer Phase, wo sich die Westbank und der Libanon in Gaza zu spiegeln drohen.

So sieht es in Rafah heute aus.

Abertausende ermordeter Kinder

Am 11. Juli 2024 berichtete auch Guardian-Journalist Chris McGreal (Israeli weapons packed with shrapnel causing devastating injuries to children in Gaza, doctors say) über die erschreckende Lage verletzter Kinder in Gaza. Er hatte sechs internationale ÄrztInnen, die in den letzten drei Monaten im European Hospital bei Khan Younis im Süden oder im Al-Agsa Hospital in Deir-al-Balah in der Mitte des Gazastreifens im freiwilligen Einsatz waren, interviewt. Feroze Sidwha, kalifornischer Wiederherstellungschirurg, der im European Hospital gearbeitet hatte, sagte: «Etwa die Hälfte der von mir behandelten Verletzungen betrafen junge Kinder. Wir sahen viele sogenannte Splitterverletzungen, die sehr, sehr klein waren, so dass man sie bei der Untersuchung leicht übersehen konnte. Viel, viel kleiner als irgendetwas, das ich zuvor gesehen habe, die aber im Körper enorme Verletzungen bewirkt haben.»

Alle sechs befragten Ärzte «fanden», so der Guardian, «grosse, von Splitterbomben bewirkte Verletzungen, die seit Kriegsbeginn zu einer alarmierenden Zahl von Amputationen geführt haben.» Nochmals Sidwha: «Kinder mit ihren kleineren Körpern sind bei Einschlagverletzungen verwundbarer. Die lebenswichtigen Organe sind kleiner und leichter zu zerstören.» So auch die Blutgefässe. Denn «die Arterie zum Fuss etwa hat in einem kleinen Kind nur die Dicke einer Nudel, sehr, sehr klein. So dass ihre Wiederherstellung, um das an sie angeschlossene Bein zu behalten, sehr schwer ist.»

Befragte Waffenexperten halten die geschilderten Verletzungen für übereinstimmend mit solchen, die von bestimmten israelischen, von Tanks oder Drohnen abgefeuerten Geschossen verursacht werden. Geschosse, die in Spezialmaterial gekleidet sind, das beim Einschlagen aufsplittert. Ein für die US-Regierung arbeitender Waffenexperte meinte: «Es wird gesagt, diese Waffen seien genauer und begrenzten Todesfälle auf eine kleinere Zone. Aber wenn sie in Gegenden mit einer hohen Konzentration von Zivilpersonen, die im Offenen, ohne irgendwelchen Schutz, leben, eingesetzt werden, weiss das Militär, dass die meisten Todesopfer Zivilpersonen sein werden.»

Der Guardian weiter: «In vielen der von den Chirurgen geschilderten Fällen ging es um Kinder, die schwer verletzt wurden, als Geschosse in oder nahe von Zonen einschlugen, wo hunderttausende PalästinenserInnen nach ihrer Vertreibung durch israelische Angriffe in Zelten lebten».

Wir lesen, dass Unicef von einer «bestürzenden» Anzahl verletzter Kinder in Gaza spricht und von «bestätigten 8000 toten Kindern, obwohl die reale Zahl vermutlich viel höher liegt. Im Juni setzte die UNO Israel auf eine Liste von Staaten, die in einem Konflikt Verletzungen gegen Kinder begehen, und beschrieb das Töten in Gaza als ‘von nie dagewesenem Ausmass und Intensität von schweren Verletzungen an Kindern’, begangen primär von den israelischen Kräften.»

 «Die Ärzte sagten, viele Glieder hätten unter normaleren Bedingungen gerettet werden können, aber der Mangel an Medikamenten (…) schränkten die Chirurgen auf Notmassnahmen zur Lebensrettung ein. Einige Kinder erlitten Amputationen ohne Anästhesie oder danach Schmerzmittel, was ihre Erholung zusammen mit dem Problem der zunehmenden Infektionen wegen unhygienischer Verhältnisse und fehlenden Antibiotika erschwerte (...) Einige der im Operationssaal geretteten Kinder starben später, die unter anderen Umständen hätten gerettet werden können.»

…… 

„So sind Kriege nicht.“

Am 13. Juli ging ein Raketenhagel auf ein mit Flüchtlingen absolut überfülltes Gebiet in der «sicheren Zone» von Al-Mawasi bei Rafah nieder. Nach palästinensischen Angaben starben dabei 90 Menschen und 300 wurden verletzt. Israels Begründung für sein Vorgehen: Der Angriff habe dem obersten Militärchef der Hamas gegolten.  Im Artikel «They Were Told They Were in a Safe Area. Then Came the Missiles.» (New York Times, 15.7.24) sagt Scott Anderson, ein führender UN-Funktionär in Gaza, zu seinem Besuch im Nasser-Spital in Khan Younis, das nach seiner Zerstörung letzten Februar notfallmässig wieder hergerichtet worden ist, wo viele Verletzte aus Al-Mawasi hingebracht worden sind: «Man konnte beim Betreten das Blut riechen (…) eine der schlimmsten Sachen, die ich in den 9 Monaten, die ich in hier bin, gesehen habe.» Die Times weiter: «Viele der Verletzten schienen Kinder zu sein, sagte er, während andere Leute im Spital ohne viel Glück nach Angehörigen suchten, die sie bei den Bombardierungen verloren hatten.»   

Der palästinensische Journalist Tareq. S. Hajjaj beschreibt in Testimonies from the Mawasi massacre: 90 people buried in the sand (mondoweiss.net, 14.7.24), wie Ambulanzen in Al-Mawasi unter Beschuss kamen und zwei Leute der Erste-Hilfe-Teams dabei starben. (Die New York Times bestätigte nach Prüfung verschiedener Videos den Beschuss.) Tareq Hajjaj beschreibt furchtbare Szenen. Und er vermittelt das Entsetzen der 82-jährigen Fawzia Sheikh Youssef: «Sie erzählt Mondoweiss, dass sie bereits während der Nakba 1948 vertrieben wurde, als sie erst 6 Jahre alt war. Sie kam in das Gebiet von Khan Younis und lebte mit ihrer Familie zwei Jahre lang in einem Zelt. 76 Jahre später fand sie sich dort wieder, wo sie begonnen hatte, doch diesmal wurde sie Zeugin von Massakern, wie sie sie nicht einmal während der Nakba erlebt hatte. ‘Es gibt kein Land auf der ganzen Welt, das Kindern, Frauen und Zivilisten so etwas antut’, sagt sie. ‘So sind Kriege nicht.’»[1]

«Fawzia war gerade am Frühstück, als die Bombe in ihr Lager einschlug und ihr Zelt zerstörte. Sie fand sich mit Sand bedeckt und eingeklemmt im Zelt wieder, war aber nicht lebensgefährlich verletzt. Sie begann, auf dem Boden zu kriechen, befreite sich aus dem Zelt und flüchtete schliesslich an einen Ort, der weit weg von den Granatsplittern und Raketen war und näher an der Hauptstrasse lag. ‘Ich sah vor meinen Augen, wie eine Rakete nach der anderen neben den Zelten niederging. Raketen, die ich in all den Kriegen in Gaza noch nie gesehen habe. Ist das nicht international verboten? Sollte die Zivilbevölkerung nicht geschützt werden und nicht mit Völkermord und Massentötung konfrontiert werden? Ist das nicht verboten? Sie haben junge Menschen und alte Frauen getötet. Sie respektieren die Menschen nicht. Sind wir denn keine Menschen?’, fährt sie fort. ‘Es gibt nichts, was uns vor diesen Raketen schützt. Die Zelte fielen uns auf den Kopf, und ich wurde von zwei Splittern in meinem Bein getroffen. Vielleicht werde ich vergiftet, aber ich habe niemanden verletzt.’»

Fawzia Sheikh Youssef

 

……

Mathematik für die IDF

Seinen medial breit aufgegriffenen Artikel «Die Hamas operiert mit zweifelhaften Opferzahlen – und viele Medien übernehmen sie kritiklos» (NZZ, 17.3.24), zuerst auf einer US-zionistischen Homepage mit bemerkenswertem, folglich NZZ-kompatiblem Rechtsdrall veröffentlicht, beginnt Abraham Wyner, Statistikdozent an der University of Pennsylvania, mit der Klage, Joe Biden und manche Medien übernähmen blind die Opferzahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza. Dann stellt er klar, wer sich dazu äussern darf: «Die Zahlen sind nicht real. Das ist für jeden offensichtlich, der weiss, wie natürliche Zahlen funktionieren.» Er bezieht sich auf die Angaben des Gesundheitsministeriums für den Zeitraum vom 26. Oktober bis zum 10. November 2023.

Er insistiert auf einer von der Hamas-Behörde veröffentlichten fast linearen Zunahme der Todesfälle, mit Variationen von höchstens 15 Prozent von einem Tag zum nächsten in dem von ihm einzig behandelte kurzen Zeitraum (er thematisiert nicht, dass und warum er die damals veröffentlichten Daten der folgenden Monate nicht beachtet). «Diese Regelmässigkeit kommt in der Wirklichkeit kaum vor.» Das stimmt wohl. Nur: Er nahm die Tage intensiver und repetitiver, also «linearer» Bombardierungen ganzer Quartiere in Gaza, gepaart mit der anlaufenden Bodeninvasion nach stets gleichem, damals in den Medien mit Genugtuung kommentierten Schema. Also Hochhaus nach Hochhaus, Strassenzug nach Strassenzug bombardiert pulverisiert. Aufgrund der im Raum Gaza-Stadt auf extrem wenig Raum verteilten Besiedlung ist wohl von einer ziemlich homogenen Bevölkerungsdichte auszugehen. Wenn nicht, müsste das erwähnt und belegt werden. «Lineares» Vorgehen der IDF gegen mutmasslich ziemlich «linear» verteilte und gleich wehrlose Bevölkerung wie am Vortag – könnte das nicht zu in dieser Zeit ähnlichen Sterbensraten geführt haben? Wäre diese Gleichheit der Bedingungen nicht gegeben gewesen, hätte der Statistiker das nicht erwähnt? Dafür schlussfolgert er: «Das Gaza-Ministerium gibt gefälschte tägliche Zahlen heraus, weil es keine klare Vorstellung vom Verhalten der natürlich vorkommenden Zahlen hat.»

Einen Punkt bringt der Akademiker, der wohl tatsächlich einer Erklärung bedarf, falls seine Aussage stimmt: «An Tagen, an denen es viele weibliche Todesopfer gibt, sollten auch viele getötete Kinder zu beklagen sein – und umgekehrt. In den Statistiken der Hamas gibt es diese Korrelation nicht.» Bei den Frauen variiert die Opferzahl, bei den Kindern nicht.

Der Rest seiner weiteren Argumentation zeigt, warum er sein Zeugs geschrieben hat. «Sind tatsächlich 79 Prozent der Opfer Frauen und Kinder, so liegt diese Zahl weit über den Zahlen, die bei früheren Konflikten mit Israel gemeldet wurden.» «Frühere Konflikte mit Israel» … tja. Nur: Ausser Wyner hatte damals schon die ganze Welt mitgeschnitten, dass dieser Krieg eine neue Dimension der Brutalität aufweist. Aber das stört die angerufene «statistische Tatsache der Variabilität des Zufalls». Folglich vernachlässigbar.

Nächster Punkt: «Die Hamas selber hat am 15. Februar erklärt, sie habe bisher 6000 ihrer Kämpfer in diesem Krieg verloren.» Das wäre fast das Total der bis dann vom Ministerium gezählten getöteten Männer. Du begreifst: Die Hamas gibt zu, dass praktisch die Gesamtheit der bis damals getöteten Männer zu ihren Kämpfern gehörten und will so, wie Israel, das internationale Entsetzen dämpfen. Nur: Die Zahl der 6000 getöteten Kämpfer will Reuters am 16. Februar von einem anonymen Hamas-Offiziellen erhalten haben. Die Hamas dementierte die Angabe umgehend – no news for Wyner.

Doch Wyner lebt nicht auf der seligen Insel der mathematischen Gewissheiten. Auch er weiss, dass heute in Gaza etwas Neues passiert. Zwar mögen «Zahlen der Hamas» mal zutreffend gewesen sein, doch «ist dieser Krieg, was Umfang und Ausmass betrifft, völlig anders.[2] Internationale Beobachter fehlen diesmal. Der Nebel des Krieges ist im Gazastreifen besonders dicht – und er macht es unmöglich, die Zahl der zivilen Todesopfer schnell und genau zu bestimmen.» Spielt er etwa darauf an, dass Israel keine BeobachterInnen rein lässt? Nicht doch,. Unbeobachtet nämlich «macht die Hamas Israel für alle Todesfälle verantwortlich. Selbst wenn diese durch fehlgeleitete Raketen der Hamas, versehentliche Explosionen, vorsätzliche Tötungen oder interne Kämpfe verursacht wurden.»

Ein Gegenargument erwähnt er, das einer Forschergruppe de John Hopkins Bloomberg School of Public Health (geissermassen Berufskollegen, erwähnungsberechtigt). «Sie argumentierten, dass die Zahlen der Hamas nicht übertrieben sein könnten, da die Todeszahlen unter UNRWA-Mitarbeitern ungefähr gleich seien.» Falsch, weiss Wynen. Denn sie setzten voraus, «dass UNRWA-Mitarbeitende «nicht häufiger getötet würden als die allgemeine Bevölkerung. Diese Annahme geriet ins Wanken, als aufgedeckt wurde, dass ein Teil der UNRWA-Mitarbeiter mutmasslich mit der Hamas in Verbindung steht und die Hamas UNRWA-Gebäude als Infrastruktur benutzt», plus sei die UNRWA am 7. Oktober beteiligt gewesen. «Aufgedeckt» - er meint die seither auch offiziell als Lügen entlarvten israelischen Verlautbarungen. Sie reichen, um seriösere Untersuchungen als irrelevant hinzustellen.

Doch jetzt ist unser doctor mathematicus in Fahrt. Er schliesst damit, dass Israel unterdessen von 12'000 getöteten Hamas-Kämpfern spreche. «Wenn sich diese Zahl auch nur einigermassen bewahrheitet, dann ist das Verhältnis von Opfern unter den nicht am Kampf Beteiligten zu den Kämpfern bemerkenswert niedrig: höchstens 1,4 zu 1 oder sogar 1 zu 1.» Ein «erfolgreicher Versuch, unnötige Verluste an Menschenleben zu vermeiden und gleichzeitig einen unerbittlichen Feind zu bekämpfen, der sich mit Zivilisten schützt.»

Der Genozid als Vorbild.



[1] Der im UK arbeitende israelische Rechtsgelehrte Neve Gordon und sein Kollege Nicola Perugini beschreiben in «Like Sri Lanka once did, Israel has turned ‘safe zones’ into killing fields» (Al Jazeera, 11.6.24), dass die srilankischen Machthaber 2015 bei ihrer Vernichtung des tamilischen Widerstands ebenfalls «sichere Zonen» für die Bevölkerung ausgerufen und diese wenige Tage danach bombardiert haben. Mit einem wichtigen Unterschied zu Gaza: «Der Genozid in Gaza findet nicht im Versteckten statt.»

[2] Natürlich sind auch Angaben des Gesundheitsministeriums hinterfragbar, auch wenn sie die USA oder die israelischen Geheimdienste übernehmen. Es scheint allerdings, dass sie ziemlich zutreffend waren und es noch sind, soweit das Ausmass der Zerstörung eine halbwegs seriöse Erhebung überhaupt noch zulässt. Jedenfalls heisst «hinterfragbar» nicht «wegmanipulierbar».

“Ihr Sohn existiert hier nicht»

Donnerstag, 18. Juli 2024

 

Aus der Einleitung zum Bericht “Su hijo no existe aquí” (16. Juli 2024) von Human Rights Watch:

 

Am 1. Juli 2022 verhafteten Polizisten und Soldaten in El Salvador Carolina González (Pseudonym), eine 17-jährige Schülerin aus einer ländlichen Stadt im Departement Sonsonate. Sie legten ihr keinen Haftbefehl vor. Sie warfen ihr vor, mit Banden zusammenzuarbeiten. Nach Angaben von Carolina wurde sie auf eine Polizeistation gebracht, wo sie sieben Tage lang mit erwachsenen Frauen festgehalten wurde. Ein Polizeibeamter versuchte, sie zu zwingen, ein Bandenmitglied, das sie nicht kannte, zu identifizieren, um sie im Gegenzug freizulassen.

Zwei Wochen später verlegte die Polizei sie in eine Jugendstrafanstalt, wo sie in einer kleinen, unhygienischen Zelle mit 25 anderen Mädchen und Jugendlichen festgehalten wurde. Monate später setzte ein Richter Carolina und sieben weitere Minderjährige unter Druck, sich gemeinsam der Zusammenarbeit mit der MS-13-Bande schuldig zu bekennen, was sie jedoch bestreitet. Carolina und drei andere Jugendliche erinnern sich, dass der Richter sagte, dass sie alle doppelt so lange Strafen verbüssen würden, wenn einer von ihnen die Vereinbarung ablehnen würde. Sie bekannten sich alle schuldig und wurden zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. „Wir hatten keine andere Wahl“, sagte Carolina. „Wir wollten alle bei unserer Mutter sein.“

Carolina ist eines von etwa 3’000 Kindern und Jugendlichen, die bei wahllosen Razzien festgenommen wurden, seit Präsident Nayib Bukele im März 2022 im Rahmen eines „Kriegs gegen die Banden“ den Ausnahmezustand verhängte. Sie ist auch eine von mehr als 1’000 Minderjährigen, die während des Ausnahmezustands verurteilt wurden, hauptsächlich wegen Bandenmitgliedschaft. Die Sicherheitskräfte haben viele dieser Kinder und Jugendlichen während ihrer Verhaftung, Inhaftierung und sogar nach ihrer Freilassung schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

Kolumbien: Multis und Paramilitärs in kapitalistischer Harmonie

Mittwoch, 17. Juli 2024

 

Neben Chiquita soll auch Coca-Cola Paramilitärs in Kolumbien finanziert haben

Inhaftierter Paramilitär spricht von Killerarmeen im Dienste der Unternehmen in Urabá. Ziel sei die Vernichtung der Gewerkschaften gewesen

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Der Anführer des Bananenblocks "HH" sei mit dem Befehl nach Urabá gekommen, die Gewerkschaften und die Linkspartei Unión Patriótica (UP) zu vernichten
Der Anführer des Bananenblocks "HH" sei mit dem Befehl nach Urabá gekommen, die Gewerkschaften und die Linkspartei Unión Patriótica (UP) zu vernichten

Bogotá. Nach dem Urteil gegen den Bananenkonzern Chiquita wegen der Finanzierung der ehemaligen paramilitärischen Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC) (amerika21 berichtete) hat ein Ex-Kommandant der AUC weitere Großunternehmen des gleichen Verbrechens beschuldigt. Darunter auch Coca-Cola.

Es handelt sich um den Ex-Chef des Bananenblocks der AUC, Éverth Veloza, auch bekannt als "HH". In einem Interview mit dem Radiosender La W sagte der inhaftierte Ex-Paramilitär, die AUC seien vor allem gegründet worden, um die Geschäfte legaler Großunternehmen zu fördern. Dies widerspricht der in Kolumbien verbreiteten Darstellung, die AUC seien in erster Linie zur Guerillabekämpfung entstanden.

Im Fall von Coca-Cola hatte die Gewerkschaft der Lebensmittelindustrie (Sinaltrainal) bereits in den Nullerjahren angedeutet, dass die AUC den Interessen des Getränkekonzerns dienten, indem sie Gewerkschafter der Coca-Cola-Abfüllanlage verfolgten und ermordeten. Diese "mörderische Gewalt" habe es Coca-Cola ermöglicht, "die Löhne in ihren kolumbianischen Betrieben auf ein Drittel zu senken und die Arbeitsverhältnisse insgesamt zu prekarisieren", hieß es in einer Solidaritätskampagne mit Sinaltrainal in Deutschland.

"Ich wurde zu Gunsten einiger weniger benutzt", sagte "HH" gegenüber La W. Zudem sei es ein Fehler der "journalistischen Perspektive" darzustellen, dass Gruppen wie die AUC nur auf der Ebene der illegalen Wirtschaft aufgebaut seien. Die meisten von ihnen hätten "ein legales Ziel in der legalen Wirtschaft", betonte Veloza. Er ist für tausende Morde in Urabá und Cauca verantwortlich.

Im Interview nannte er mehrere Beispiele. Im Auftrag der AUC-Bosse habe er den Calima-Block im Departemento Cauca eingesetzt, um "die lokalen Gemeinschaften auszulöschen". Es ging darum, "die Zone für die Unternehmer zu säubern". Diese hätten ein besonderes Interesse daran gehabt, sich das Land für ihre Unternehmen anzueignen, um von dem dort geltenden Sondergesetz mit der Steuerbefreiung zu profitieren.

Veloza erwähnte auch den Landraub in Urabá durch die AUC für Unternehmer:innen, für die die gewaltsam angeeigneten Ländereien in der Zone von Chigorodó ein gutes Geschäft im Hinblick auf den damals geplanten Bau einer Autobahn darstellten.

Der Ex-Paramilitär erzählte auch, wie die Bananenfirmen der Region wirtschaftlich von den Morden der AUC profitierten. Darunter auch Chiquita. Veloza widersprach der Behauptung des Unternehmens, die AUC habe es zur Zahlung von Schutzgeldern gezwungen. Dies hat die US-Justiz mit ihrem Urteil inzwischen auch widerlegt.

Laut "HH" haben die Bananenunternehmen von Urabá den paramilitärischen Bananenblock gerufen, um "die Gewerkschaften am Streiken zu hindern". Der Anführer des Bananenblocks sei mit dem Befehl gekommen, die Gewerkschaften und die linke Partei Unión Patriótica (UP) zu vernichten.

Laut dem Urteil der US-Justiz gegen Chiquita habe der Bananenkonzern die AUC zwischen 1997 und 2004 mitfinanziert. Dies sei nicht richtig, sagt Veloza. Der Bananenblock startete 1995 die Verfolgung gegen die Gewerkschaften in Urabá im Auftrag der Bananenunternehmen der Region. Bis 1997 habe die Finanzierung auf illegalen Wegen funktioniert. Danach benutzten die AUC die Strukturen der legalen ländlichen Bürgerwehren Convivir, um die Finanzierung "zu legalisieren".

"Ich ging in allen Gemeinden von Finca zu Finca, um die Arbeiter zu versammeln und ihnen mitzuteilen, dass von nun an Streiks in der Region verboten seien und dass jeder, der streike, ein militärisches Ziel sei", gestand Veloza.

Das Ziel war es, den Produktionsstillstand zu verhindern, wenn die Schiffe im Hafen auf ihre Bananenladung warteten, denn das kostete die Unternehmen viel Geld. Eben deshalb streikten die Arbeiter:innen gerade dann, wenn die Schiffe vor Anker lagen. "All diese Probleme haben wir gelöst. Zu wessen Gunsten? Zu Gunsten der Bananenunternehmen", so Veloza.

Bevor der Bananenblock in Urabá aktiv wurde, hatten die Bananenunternehmen ihre eigenen "Sicherheitsstrukturen" mit Vorarbeitern auf den Fincas aufgebaut. Später gehörten sie zur AUC, wurden aber weiter von den Unternehmen bezahlt, erklärte "HH".

Die AUC funktionierten eng mit den Streitkräften zusammen. "Ohne die Unterstützung der Streitkräfte und der Polizei wäre alles für uns unmöglich gewesen", äußerte Veloza.

Weitere Unternehmen, die mit diesem Gewaltmodell in Urabá arbeiteten und die "HH" im Interview namentlich nennt, sind der kolumbianische Getränkekonzern Postobón und der US-Bananenkonzern Dole.

Es sei wichtig, dass Leute wie er die Wahrheit über die Finanzierung der Paramilitärs sagten, damit sich die Geschichte nicht wiederhole, betonte er. Sonst werden die Friedensprozesse einige Gruppen verschwinden lassen, aber andere werden weiter bestehen, solange diejenigen, die sie finanzieren, unangetastet bleiben.