Tunesien: Kurzeinschätzung

Samstag, 15. Januar 2011

(zas) Gemeinhin beschränkt sich dieser Blog auf die Amerikas. Nur ausnahmsweise erlauben wir uns einen Ausflug in andere Gefilde. Die dramatischen Vorgänge und die übliche Medienmanipulation hier gebieten es, die paar spannenden Zeilen eines deutschen Genossen aus dem Maghreb zu bringen.
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TUNESIEN: SOZIALREVOLTE, WIRTSCHAFTSLIBERALISMUS

Mit der Demonstration heute in Tunis, in Sfax und in vielen anderen Staedten Tunesiens ist ein Umbruch suedlich von Europa eingeleitet, deren Folgen noch nicht abgeschaetzt werden koennen.

Manches sah aus wie 1989/90 in Osteuropa: Die Mengen, die klassenuebergreifenden Momente der Mobilisierung in Tunis, die Halluzi-Reden von Ben Ali ans Volk (gestern abend: "manchmal habt ihr mich schlecht behandelt", "ich verstehe euch"), die absurden TV-Programmme Tunesiens waehrend der landesweiten entscheidenden Mobilisierung, und schliesslich die Hubschrauber-Flucht von Ben Ali.

Die wochenlange Revolte, die seit ein paar Tagen Tunis erreicht hat, veraendert sich mit der Hauptstadt-Zusammensetzung: Sie wird liberal und national, waehrend sie im Landesinneren sozial und armutbezogen war. Warten wir ab, was die Botschaft aus Sfax ist, der Wirtschaftsmetropole im Sueden, wo eine beispiellose arbeiterproletarische Mobilisierung stattfindet.

Europa, die EU, aber auch die landlaeufigen Meinungen haben sich seit Jahrzehnten nicht fuer den Sueden von Europa interessiert und Verstaendnis fuer die Diktatur gegen den angeblichen Islamismus gezeigt. Das bricht bislang anscheinend nicht auf, obwohl die Gruende und Forderungen aus Tunesien eindeutig sozial und antidiktatorisch sind.

Die frz. Regierung und der frz. administrative Apparat hat bis gestern, (ja: bis gestern!) Ben Ali explizit gestuetzt und bessere Unterstuetzung bei der Aufstandsbekaempfung angeboten. Die Kapitalverbaende, die sich in Tunesien engagieren, liessen ihre Kanaele allesamt ueber die Ben-Ali-Bande laufen und unterstellten waehrend des Aufstands ihre Investitionsstrategien der laufenden Aufstandsbekaempfung. EU-weit wurde dem kaum widersprochen. Wenige Risse wurden sichtbar, nur von versprengten Sozialisten und ein paar linken Gruppen.

Waehrend nun schon manche Presseorgane darueber spekulieren, ob der Maghreb im Zukunft nicht nur Teroristen, sondern auch vermehrt Armutsfluechtlinge exportieren und das liebe Desertec-Projekt damit sterben wird, ist festzuhalten:

Das, was in diesen Tagen in Tunesien stattfindet, ist das historisch wichtigste Ereignis seit den Unabhaengigkeitskaempfen. Es koennte ein Beispiel abgeben nicht nur fuer den Maghreb, sondern auch fuer die gesamte arabische Welt und fuer die angrenzenden afrikanischen Laender. Man spricht bereits von einer Dominotheorie.

Dabei ist nicht ausgemacht, ob die Richtung in eine liberale, auch in eine wirtschaftsliberale Richtung geht (Tunesien war eine Art reaktionaere DDR, wenn der Vergleich nur mal kurz erlaubt ist), oder ob eine sozialrevolutionaere Weiter-Entwicklung aus dem Landesinneren und aus den Unterklassen ansteht. Und es ist nicht ausgemacht, ob die Abschottungstendenzen Europas und die wachsenden Kriegstendenzen nicht zu voellig ungewissen Zeiten fuehren werden. Warten wir ab, wann Frontex-Europa seine ersten Warnungen vor "Masseninvasionen" aus dem Maghreb abgeben wird.

Und noch eins: Beunruhigend ist die Aufspaltung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Einerseits eine Gemeinde von Jazeera, Internethacker und politisch Bewegten: Auf Jazeera lief Tunesien seit zwei Wochen immer an erster Stelle, heute den ganzen Tag life uebertragung. Das Internet war als Hilfsmittel unerlaesslch. - Und andererseits die Mehrheit Europas, die bislang die Entwicklung kaum wahrnimmt und wohl auch nicht wahrnehmen will, denn schliesslich handelt es sich nur um ein Land, in dem der Massentourismus beherbergt wird.



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Auf der Homepage der Gruppe "Materialien" findet sich übrigens ein Artikel von Helmuth Dietrich (2009) zum Thema: "Migrantinnen und Migranten, Bodenschätze, Sicherheitszonen. Aufstand in den Phosphatgebieten Tunesiens".