Guatemala-Stadt, Ende Juli 2015
In den letzten Wochen haben wir neue
Verhaftungswellen1 erlebt, die die Hoffnung auf Säuberung
aufrecht erhalten, uns allerdings gleichzeitig Ausmasse von Korruption vor Augen
führen, die an Zynismus kaum noch zu überbieten ist. Institutionalität ist
heute in Guatemala ein irreales Konzept, das lediglich dazu zu dienen scheint,
die korrupten Kräfte im Spiel zu halten, „damit nicht gleich alles zusammenbricht“.
Die Demonstrationen haben etwas an Massivität verloren, allerdings nicht an
Kraft, da die Bewegung neben der Strasse auch an der Ausarbeitung der Reformen
teilnimmt, zu denen der Kongress erst noch gezwungen werden muss. Die wichtigsten
Forderungen sind nach wie vor die nach Rücktritt des Präsidenten2, nach Reformen des politischen und Justizsystems und – wenn es auch
immer schwieriger erscheint – nach Verschiebung der Wahlen.
Man könnte also meinen, die Säuberungen gehen
weiter und alles läuft gut. Tatsache ist, dass sich Strafermittlungen und
Verhaftungen als Mittel demokratischer Reformen nicht eignen und schnell
totlaufen, wenn das System keinen Willen zur Veränderung hat. Tatsache ist
auch, dass sich die politischen Kräfte des Landes in die aufteilen, die Reformen
und eine unabhängige Justiz wollen und die, die den Status Quo verteidigen.
Letzterer Sektor hat wichtige Niederlagen erlitten, dann aber gezeigt, dass er
nach wie vor die Fähigkeit zum Handeln und Obstruieren hat, z.B. haben die
Parteien Patriota und Lider einen neuen Verfassungsrichter nominiert, der
direkt aus dem Umfeld von OPM kommt und das alte Verhältnis von 3:2 gegen die Reformer
wieder herstellt. Parallel versuchen Lider und Patriota im Kongress die
Suspendierung des Verfahrens zur Immunitätsaufhebung von OPM zur Bedingung
dafür zu machen, dass die von der Bewegung vorgeschlagenen Reformen überhaupt
diskutiert werden.
Darum geht es im Augenblick bei allen
Fragen: An den runden Tischen, im Kongress, in der Justiz: Wie garantieren,
dass die Veränderungen sich im Rahmen halten, kontrollierbar sind und vor allem
nicht gleich wirksam werden? US-Botschaft und CACIF wollen Veränderungen, aber
auf keinen Fall die Strasse zu sehr stärken, weswegen sie für Reformen
plädieren, aber Otto Pérez Molina symbolisch an der Macht halten.
Während ich dies schreibe, platzen zwei neue
Bomben, die die Konjunktur wieder verändern könnten. Am 15.7. werden drei neue
Immunitätsaufhebungsverfahren gegen 3 Abgeordnete beantragt und 11 weitere Personen
verhaftet. Wieder ist es ein Schlag ins Zentrum des „perversen Systems der Korruption“,
wie die CICIG einen Tag später bei der Veröffentlichung ihres Berichts zur Parteifinanzierung
sagen wird. Es sind drei Abgeordnete des Lider, der in den Umfragen führenden
Partei. Das Delikate an diesem Vorgang ist, dass es sich unter anderem um die
Brüder Barquín handelt, von denen Edgar zur Zeit der Taten 2011 Präsident der
Bank von Guatemala war und heute Kandidat des Lider zur Vizepräsidentschaft ist.
Sie sollen mindestens 937 Millionen Q (!!) aus öffentlichen Quellen
erschlichen, falsch ausgewiesen und teils in die eigene Tasche, teils in die ihrer
damaligen Partei GANA umgeleitet haben. Wenn Edgar Barquín fällt, steht die Kandidatur
von Manuel Baldizón auch rechtlich auf Messers Schneide.
Einen Tag später veröffentlicht die CICIG
ihren bereits erwähnten Bericht und kommt zu dem Schluss, dass die „Korruption
das Element ist, dass dieses politische System zusammenhält“. Am gleichen Tag
kommentiert die US – Botschaft, dass „...das eben dabei rauskommt, wenn man
schwache Institutionen damit beauftragt, die Korruption zu kontrollieren“ und „...dass
dieses perverse System jahrelang seine Bevölkerung verspottet hat“. Die
Wortwahl ist nicht mehr diplomatisch, die Situation mehr als dramatisch. Lider
hat das verstanden und ruft für die kommende Woche zu einem Marsch von 100 000
gegen die CICIG auf, was sehr leicht zu Ausschreitungen führen kann, wie sie
Ríos Montt 2003 am „schwarzen Donnerstag“ provozierte. Jetzt steht alles auf
dem Spiel und Tatsache ist, dass sogar die Verschiebung der Wahlen wieder
möglich erscheint und die Reformen noch vorher in Kraft treten könnten.
In dieser Situation steht die
Wiederaufnahme des Prozesses gegen Ríos Montt und Rodríguez Sánchez wegen
Völkermords und Kriegsverbrechen für den 23.7. an. Es könnte ein guter Moment
für solche Prozesse sein und wir sind im Augenblick dabei, mehrere von ihnen
wieder anzustossen. Der Schulterschluss von Unternehmern und Militärs, der noch
2013 die betrügerische Annullierung des Urteils ermöglichte, ist durch die
jüngsten Skandale nicht mehr der gleiche. Ríos Montt lässt folgerichtig
verlauten, dass er einem Verfahren mental nicht mehr folgen kann; Rodríguez
Sánchez kann das auch nicht, aber wegen seines Knies. Sie scheinen dem System
im Augenblick nicht zu trauen, obwohl sie in den letzten Monaten heftig auf eine
ihnen günstige ad hoc Besetzung des Gerichts hingearbeitet haben. Sie wollen
den Prozess zumindest jetzt nicht.
Miguel Mörth