Notizen eines deutschen Anwalts in Guatemala

Mittwoch, 5. August 2015

http://www.guatemalanetz.ch/guate_joomla/images/stories/pdf/MM04_NotizenEinesAnwalts_Juli2015.pdf


Guatemala-Stadt, Ende Juli 2015


In den letzten Wochen haben wir neue Verhaftungswellen1 erlebt, die die Hoffnung auf Säuberung aufrecht erhalten, uns allerdings gleichzeitig Ausmasse von Korruption vor Augen führen, die an Zynismus kaum noch zu überbieten ist. Institutionalität ist heute in Guatemala ein irreales Konzept, das lediglich dazu zu dienen scheint, die korrupten Kräfte im Spiel zu halten, „damit nicht gleich alles zusammenbricht“. Die Demonstrationen haben etwas an Massivität verloren, allerdings nicht an Kraft, da die Bewegung neben der Strasse auch an der Ausarbeitung der Reformen teilnimmt, zu denen der Kongress erst noch gezwungen werden muss. Die wichtigsten Forderungen sind nach wie vor die nach Rücktritt des Präsidenten2, nach Reformen des politischen und Justizsystems und – wenn es auch immer schwieriger erscheint – nach Verschiebung der Wahlen.
Man könnte also meinen, die Säuberungen gehen weiter und alles läuft gut. Tatsache ist, dass sich Strafermittlungen und Verhaftungen als Mittel demokratischer Reformen nicht eignen und schnell totlaufen, wenn das System keinen Willen zur Veränderung hat. Tatsache ist auch, dass sich die politischen Kräfte des Landes in die aufteilen, die Reformen und eine unabhängige Justiz wollen und die, die den Status Quo verteidigen. Letzterer Sektor hat wichtige Niederlagen erlitten, dann aber gezeigt, dass er nach wie vor die Fähigkeit zum Handeln und Obstruieren hat, z.B. haben die Parteien Patriota und Lider einen neuen Verfassungsrichter nominiert, der direkt aus dem Umfeld von OPM kommt und das alte Verhältnis von 3:2 gegen die Reformer wieder herstellt. Parallel versuchen Lider und Patriota im Kongress die Suspendierung des Verfahrens zur Immunitätsaufhebung von OPM zur Bedingung dafür zu machen, dass die von der Bewegung vorgeschlagenen Reformen überhaupt diskutiert werden.
Darum geht es im Augenblick bei allen Fragen: An den runden Tischen, im Kongress, in der Justiz: Wie garantieren, dass die Veränderungen sich im Rahmen halten, kontrollierbar sind und vor allem nicht gleich wirksam werden? US-Botschaft und CACIF wollen Veränderungen, aber auf keinen Fall die Strasse zu sehr stärken, weswegen sie für Reformen plädieren, aber Otto Pérez Molina symbolisch an der Macht halten.
Während ich dies schreibe, platzen zwei neue Bomben, die die Konjunktur wieder verändern könnten. Am 15.7. werden drei neue Immunitätsaufhebungsverfahren gegen 3 Abgeordnete beantragt und 11 weitere Personen verhaftet. Wieder ist es ein Schlag ins Zentrum des „perversen Systems der Korruption“, wie die CICIG einen Tag später bei der Veröffentlichung ihres Berichts zur Parteifinanzierung sagen wird. Es sind drei Abgeordnete des Lider, der in den Umfragen führenden Partei. Das Delikate an diesem Vorgang ist, dass es sich unter anderem um die Brüder Barquín handelt, von denen Edgar zur Zeit der Taten 2011 Präsident der Bank von Guatemala war und heute Kandidat des Lider zur Vizepräsidentschaft ist. Sie sollen mindestens 937 Millionen Q (!!) aus öffentlichen Quellen erschlichen, falsch ausgewiesen und teils in die eigene Tasche, teils in die ihrer damaligen Partei GANA umgeleitet haben. Wenn Edgar Barquín fällt, steht die Kandidatur von Manuel Baldizón auch rechtlich auf Messers Schneide.
Einen Tag später veröffentlicht die CICIG ihren bereits erwähnten Bericht und kommt zu dem Schluss, dass die „Korruption das Element ist, dass dieses politische System zusammenhält“. Am gleichen Tag kommentiert die US – Botschaft, dass „...das eben dabei rauskommt, wenn man schwache Institutionen damit beauftragt, die Korruption zu kontrollieren“ und „...dass dieses perverse System jahrelang seine Bevölkerung verspottet hat“. Die Wortwahl ist nicht mehr diplomatisch, die Situation mehr als dramatisch. Lider hat das verstanden und ruft für die kommende Woche zu einem Marsch von 100 000 gegen die CICIG auf, was sehr leicht zu Ausschreitungen führen kann, wie sie Ríos Montt 2003 am „schwarzen Donnerstag“ provozierte. Jetzt steht alles auf dem Spiel und Tatsache ist, dass sogar die Verschiebung der Wahlen wieder möglich erscheint und die Reformen noch vorher in Kraft treten könnten.
In dieser Situation steht die Wiederaufnahme des Prozesses gegen Ríos Montt und Rodríguez Sánchez wegen Völkermords und Kriegsverbrechen für den 23.7. an. Es könnte ein guter Moment für solche Prozesse sein und wir sind im Augenblick dabei, mehrere von ihnen wieder anzustossen. Der Schulterschluss von Unternehmern und Militärs, der noch 2013 die betrügerische Annullierung des Urteils ermöglichte, ist durch die jüngsten Skandale nicht mehr der gleiche. Ríos Montt lässt folgerichtig verlauten, dass er einem Verfahren mental nicht mehr folgen kann; Rodríguez Sánchez kann das auch nicht, aber wegen seines Knies. Sie scheinen dem System im Augenblick nicht zu trauen, obwohl sie in den letzten Monaten heftig auf eine ihnen günstige ad hoc Besetzung des Gerichts hingearbeitet haben. Sie wollen den Prozess zumindest jetzt nicht.
Miguel Mörth

 1 Durchsuchungen und Verhaftungen im Kongress, zahlreiche Immunitätsaufhebungsverfahren gegen Abgeordnete, darunter der Kongresspräsident von 2013 /14; eine Kommission empfiehlt, die Immunität von Otto Pérez Molina (OPM)aufzuheben, der Kongress weigert sich aber, diese auf die Agenda zu setzen. Am 9.7. dann wird der Generalsekretär (bis 2.6.) und Schwiegersohn von OPM verhaftet! 2 wohlwissend dass dieser Rücktritt eher symbolischer Natur ist und keinen qualitativen Wechsel mehr darstellt