(zas, 7. 2.23) Eine Stimme aus der Ukraine, die eines Deserteurs, wie wir sie praktisch nie zu hören bekommen. Wir können sie fast immer bloss postulieren, etwa, wenn die Gefängnisstrafen in der Ukraine für Deserteure oder Flüchten vor einem Blutbad drastisch verschärft werden. Spiegelbildlich gilt das natürlich auch für Russland. Es sind solche Stimmen, von ukrainischen, von russischen Deserteuren, die uns angehen, nicht das Kriegsgebrüll der Mächtigen und ihrer Medien.
______
https:/Kriegsverweigerers/communaut.org/de/hinter-den-frontlinien
Direkt nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine vor einem knappen Jahr haben Teile der deutschen und europäischen Linken Kontakte zu ukrainischen Genoss:innen aufgenommen. Diese Vernetzung zielte zunächst auf die solidarische Unterstützung vor Ort, Linke leisteten praktische Hilfe. Das ist wichtig, ebenso wie der Austausch. Genoss:innen die Möglichkeit zu geben, ihre Erfahrungen in unserem Milieu zu verbreiten, ist auch Teil unseres Selbstverständnisses.
Problematisch wird es, wenn auf diese Weise eine linke Kriegsunterstützung legitimiert wird. Indem eine eigenständige Analyse durch den Verweis auf die Betroffenheit der ukrainischen Genoss:innen ersetzt wird, erscheint die eigene Position (etwa die Befürwortung von Waffenlieferungen) durch eine moralisch unanfechtbare Instanz verbürgt. Das ist eine gegenwärtig verbreitete und durchaus bedenkliche Tendenz: Unmittelbare Betroffenheit gilt als Quelle besonderer Urteilsfähigkeit, zumeist einhergehend mit Kritik an der angeblichen bequemen Arroganz der Nicht-Betroffenen. Doch selbstverständlich müssen auch Aussagen von betroffenen Genoss:innen in den Rahmen einer allgemeinen Analyse gestellt und hinterfragt werden.
Schwierig ist in diesem Fall aber nicht nur solche fehlende Reflexion, sondern ebenso, dass die einseitige Auswahl der Gesprächspartner:innen dazu beiträgt, eine Geschlossenheit „der“ ukrainischen Linken zu suggerieren: Sicherlich sind die Zustimmungswerte innerhalb der Ukraine zu diesem Krieg hoch, aber die Positionierung von antiautoritären Linken ist gar nicht so einheitlich, wie hierzulande oft suggeriert wird. Wir können und möchten hier nicht über genaue Zahlen und Zustimmungswerte spekulieren, aber klar ist, dass es durchaus Genoss:innen gibt, die sich nicht kritiklos hinter ihrer Regierung und Militärführung versammeln und es nicht als ihre Aufgabe ansehen, mit ihr in den Krieg zu ziehen; die die Generalmobilmachung und das Vorgehen gegen Deserteure kritisieren und die an den militärischen Zielen Selenskyjs zweifeln.
Nicht um eine umfassende Analyse des Kriegsgeschehens und seiner Hintergründe zu ersetzen, sondern um eine solche kritische Stimme auch im deutschsprachigen Raum vernehmbar zu machen, haben wir ein Gespräch mit einem Genossen geführt, der sich nicht in die Gemeinschaft der nationalen Kriegseuphoriker einreiht, sondern klar bei einer sozialrevolutionären Perspektive bleibt. Er hatte sich zunächst vor seiner Einberufung versteckt, ist mittlerweile geflohen und im Exil. Das Gespräch haben wir per Telefon im Oktober 2022 geführt.
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft
***
Freundinnen: Du hast schon frühzeitig sehr klar Position dagegen bezogen, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. In einem Interview vom Frühjahr 2022 meintest du: „Wir sollten Massendesertionen und Meuterei auf beiden Seiten unterstützen, da dies der einzige realistische Weg ist, über die rein individuelle Wehrdienstverweigerung hinauszugehen und so die Einberufung zu stoppen. Wir sollten dem von der Ukraine konstruierten Bild eines erfolgreichen Feldzugs entgegentreten: Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen und jede Minute, in der das geleugnet wird, tötet mehr und mehr Menschen.“ Nach den militärischen Erfolgen der Ukraine im September 2022 haben wir in den letzten Wochen eine weitere Eskalation erlebt. Bis in die Linke hinein gibt es viele Stimmen, die weiterhin hoffen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann und Putins Regime dann zusammenbrechen wird. Hältst du an deiner sozialrevolutionär-defätistischen Position noch immer fest? Und wenn ja, warum?
Andrew: Auf jeden Fall halte ich an meiner Position fest. Und gegenüber diesem neuen Optimismus habe ich Vorbehalte, vor allem zwei. Erstens denke ich nicht, dass die groß angelegte russische Invasion etwas völlig Neues darstellt, und die Erwartung, dass die in letzter Zeit verhängten Maßnahmen später wieder aufgehoben werden, halte ich für naiv. Wenn man sich die letzten acht Jahre in der Ukraine anschaut, dann war der Ausnahmezustand die Regel. Seit 2014 wird der Konflikt im Donbass genutzt, um jede Art von Dissens, von Aufbegehren und Kritik am ukrainischen Staat zum Schweigen zu bringen. Selbst Linke haben Proteste gegen die steigenden Lebenshaltungskosten als „prorussisch“ etikettiert. Der Tenor lautete, dass man in der jetzigen Situation bestimmte Opfer für die strahlende Zukunft eines europäischen Wohlstands bringen muss. Den Organisator:innen und Teilnehmer:innn solcher Proteste wurde unterstellt, dass sie russische Interessen fördern. Diese Anschuldigungen kamen von rechten Nationalist:innen und diversen Nazis, die solche Hetzkampagnen oft zusammen orchestriert haben.
Allein die Feststellung, dass es in der Ukraine Nazis gibt, wurde als potenziell schädlich für die nationale Sache gewertet. Vielen Anarchist:innen war es wichtiger, ein vorteilhaftes Bild des eigenen Staates zu zeichnen und so den Beitritt zur Europäischen Union zu beschleunigen, denn damit verbinden sie die Hoffnung, dass sich die Situation in der Ukraine verbessert. Aus meiner Sicht war der russische Einmarsch im Februar kein völliger Bruch mit dem, was ohnehin schon lief. Er hat lediglich dazu geführt, dass es immer üblicher wird, kurzerhand alles, was einem nicht gefällt, als „prorussisch“ zu bezeichnen, und die beschriebenen Dynamiken verstärkt. Ich halte es für ziemlich naiv zu meinen, dass die Zentralisierung der Macht, die mit der drastischen Einschränkung von Arbeiter:innenrechten stattgefunden hat, rückgängig gemacht wird, sobald wieder stabile politische Verhältnisse herrschen. Dass die ukrainische Regierung einfach so auf den rechtlichen Rahmen verzichtet, den sie seit Kriegsbeginn zur Unterdrückung von Protesten und zivilgesellschaftlicher Mitsprache geschaffen hat, und in dem jeder, der von der offiziellen Linie abweicht, als Putin-Agent oder was auch immer gebrandmarkt werden kann – das scheint mir schwer vorstellbar.
Mein zweiter Vorbehalt gegenüber dem neuen Optimismus hat mit der Frage zu tun, was genau in diesem Krieg eigentlich ausgefochten wird. Ich bin kein Militärstratege oder -experte, aber selbst die größten Optimisten, was die neueren Entwicklungen betrifft – Selenskyj, seine Generäle, verschiedene Nationalisten – haben kein klar definiertes Ziel, das als Sieg zählen würde. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn wie ein solcher Sieg aussehen sollte, lässt sich überhaupt nicht sagen. Geht es darum, die Grenzen wiederherzustellen, wie sie bis Februar 2022 verliefen? In dem Fall könnte Russland die Ukraine von der anderen Seite aus weiter bombardieren, selbst aus der Oblast Belgorod. Geht es darum, die Krim zurückzuerobern oder zu „befreien“? Das dürfte sehr schwierig werden, denn die schmale Landbrücke, die die Halbinsel mit dem Festland verbindet, dient seit Jahrhunderten als eine Art natürliche militärische Befestigung. Der Versuch, ein solches geografisches Hindernis zu überwinden oder eine Stadt wie Mariupol einzunehmen, würde zig Tausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Soldaten das Leben kosten, wenn er halbwegs erfolgreich sein soll. Von den zivilen Opfern ganz zu schweigen. Wenn wir über solche Kriegsspiel-Szenarien reden, vergessen wir oft, dass die ukrainische Armee nicht aus Freiwilligen besteht, sondern fast ausschließlich aus Wehrpflichtigen. Für eine derartige Offensive müsste der Staat noch mehr Soldaten mobilisieren, also seine bisherigen Beschränkungen bei der Einberufung aufheben. Die ukrainische Regierung weigert sich zuzugeben, wie viele Menschen jede Woche, jeden Monat in diesem Fleischwolf ums Leben kommen. Als jemand, der selbst in diesem Land mit geschlossenen Grenzen gelebt hat und gerade noch fliehen konnte, habe ich mitbekommen, wie ganz unterschiedliche Leute versuchen, da rauszukommen oder sich irgendwie der Einberufung zu entziehen. Dass es eine massenhafte Bereitschaft gäbe, für diesen völlig unklaren, undefinierten Sieg zu sterben, ist daher ein falsches Bild, dem ich widersprechen möchte.
Auch wenn du ein paar Monate nach Beginn des russischen Einmarschs geflohen bist, hast du ja wahrscheinlich noch Kontakte in die Ukraine und kannst viel besser einschätzen als wir, wie die Situation vor Ort ist. Wie würdest du die Stimmung nach mehr als sechs Monaten Krieg beschreiben? Hat sich da zuletzt etwas verschoben? In Deutschland wird immer das Bild einer ungebrochenen Moral gezeichnet, es gibt Berichte, wie sich Tausende freiwillig zum Militär melden. Hat diese Kriegsbegeisterung inzwischen nachgelassen? Welche Klassensegmente unterstützen den Krieg, und aus welchen Gründen – ist das reiner Nationalismus, Angst vor dem russischen Regime oder vielleicht auch eine Frage von finanziellen Anreizen, meint: Leute aus den ärmeren Schichten kämpfen im Donbass, weil sie dafür einen relativ „guten“ Lohn bekommen oder zumindest nicht arbeitslos sind? Viele Linke hier meinten, dass sich Leute melden, um Kiew zu verteidigen. Sitzen die inzwischen an der Front im Donbass im Panzer? Und über welche Klassenlagen sprechen wir hier?
Es ist extrem schwierig, ein vollständiges Bild der Situation zu bekommen, deshalb beschränke ich mich auf ein paar Aspekte. Die Realität hat jedenfalls sehr wenig mit dem zu tun, was die ukrainischen und noch stärker die westlichen Medien behaupten. Die Kriegsbegeisterung hat in den letzten Monaten definitiv abgenommen. Etwa seit März hat es keine massenhaften Wellen von Kriegsfreiwilligen mehr gegeben. Allgemein gilt: Je mehr jemand selbst oder über Verwandte vom Militär mitbekommt, umso weniger nationalistisch ist er. Wer die Demütigungen beim militärischen Drill erlebt hat oder die miserable Ausrüstung der Soldaten, wer die Horrorgeschichten über die Offiziere kennt, über ihre mangelhafte Ausbildung und die irrwitzigen Befehle, kaum bewaffnet in wenigen Tagen eine Stadt einzunehmen, der wird die optimistischen Geschichten über die zügige Rückeroberung „unserer verlorenen Gebiete“, die Selenskyj uns tagtäglich eintrichtert, eher nicht glauben…
Ja, was du gerade meintest, stimmt: Anfangs haben sich viele Leute freiwillig für die Territorialen Verteidigungseinheiten gemeldet, das sind im Grunde lokale Milizen. Aber bei denen, die dann in den Süden des Landes geschickt wurden, an die Front im Donbass – bei denen hat die Kriegsbegeisterung schnell nachgelassen. Die hatten bislang an den Zufahrtsstraßen nach Kiew Ausweise kontrolliert, Patrouille geschoben, an den Checkpoints gestanden, und jetzt sind sie plötzlich an der Front, kaum ausgebildet und minimal bewaffnet. Auch wenn der ein oder andere vielleicht Panzer fahren durfte, sofern ihnen überhaupt Panzer zur Verfügung gestellt wurden.
Die Kriegsbegeisterung hat also definitiv nachgelassen. Und natürlich ist es eine Klassenfrage, wie man von den Realitäten des Krieges betroffen ist. Die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung ist viel höher, wenn man nicht das nötige Bestechungsgeld hat. Vor dem Krieg konnte man sich vielleicht mit Tausend Dollar bei den zuständigen Militäroffizieren freikaufen; heute kostet es wahrscheinlich deutlich mehr. Und wer das Geld früher nicht hatte, der wird es jetzt wohl auch nicht haben.
Es ist auch wahrscheinlicher, eingezogen zu werden, wenn du die Schule abgebrochen hast oder nie studiert hast. Außerdem kommst du an der Einberufungsbehörde nicht vorbei, wenn du Papiere für eine offizielle Beschäftigung brauchst. Wenn du nicht zum Militär willst, bleibst du also schneller im informellen Sektor und in der Armut hängen; du hast dadurch einfach weniger Optionen.
Was noch erwähnt werden sollte, ist, dass ukrainische Universitäten etwas proletarischer sind als westliche. Es gibt immer noch einige Überbleibsel des sowjetischen Systems, als Bildung vom Staat bezahlt wurde und entweder günstig oder komplett umsonst war. Aber fast jede Universität in der Ukraine verlangt, dass du einen militärischen Vorbereitungskurs absolviert hast, so dass registriert ist, dass du bereits Erfahrung mit Waffen hast.
Für soziale Kämpfe oder Klassenkämpfe in der Ukraine gibt es zurzeit leider keine besonders sichtbaren Beispiele. Aber es gibt viel Widerstand, der natürlich nicht für Schlagzeilen sorgt oder in der New York Times auftaucht. Leider ist er fast immer isoliert.
Viele Ukrainer versuchen sich individuell vor den Militärbehörden und der Polizei zu verstecken, um einer Einberufung zu entgehen. Manche versuchen mit dubiosen Papieren über die Grenze zu kommen, andere zahlen dafür, als Pfleger*innen für behinderte Menschen registriert zu werden, da man so das Land verlassen darf. Wieder andere versuchen mit ärztlichen Attesten das Land zu verlassen oder bewerben sich an ausländischen Universitäten, was jedoch in den letzten Wochen für illegal erklärt wurde.
Aber kollektive Aktionen waren nicht sehr erfolgreich. Nach dem Einmarsch im Februar wurde der Ausnahmezustand verhängt, seitdem hat die Polizei sämtliche Proteste, die nicht komplett friedlich oder auf Regierungslinie waren, unterdrückt. Außerdem verteilen sie Einberufungsbefehle an Männer auf der Straße, um Demonstrationen zu unterdrücken. Wenn du männlich bist und bei einer Demo aufkreuzt, drückt dir ein Polizist einfach einen Einberufungsbefehl in die Hand. Du bist dann verpflichtet, am nächsten Tag oder in der nächsten Woche bei der Einberufungsbehörde zu erscheinen. Dadurch nehmen natürlich weniger Menschen an Straßenprotesten teil. In letzter Zeit sind deshalb in erster Linie Frauen auf die Straße gegangen, vor allem um internationale Aufmerksamkeit zu erreichen, aber das waren auch nie mehr als hundert Leute.
Was Arbeitskämpfe betrifft, hat es in den letzten Monaten eine massive Einschränkung von Rechten gegeben. Und es ist nicht so, dass es in der Ukraine vorher eine aktive Arbeiterbewegung gegeben hätte. Es gab nur einige Arbeitsniederlegungen und Streiks samt Demonstrationen vor allem von Bergarbeitern in den wenigen verbliebenen Industriegebieten in der Ukraine rund um Lwiw or Krywyj Rih. Aber selbst die werden nur als Verteidigung des Staates gegen die korrupten Oligarchen angesehen. Also kein Grund für viel Hoffnung.
Der Krieg in der Ukraine wird ja oft als Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland interpretiert. Aber müssen wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass in Russland eine aggressive revanchistische Ideologie vorherrscht, nach der die Ukraine ein künstliches Gebilde ohne eigene Kultur ist, das keine Souveränität verdient? Einige Publikationen fordern sogar eine „ De-Ukrainisierung“, also die Auslöschung der kulturellen Identität des Landes. Was sagst du zu der Forderung, in diesem Konflikt Partei für eine Seite zu ergreifen? Wenn man von einem interimperialistischen Konflikt ausgeht, bezieht man natürlich eine strikt neutrale Position. Aber ist das nicht zynisch, wischt man damit nicht das Selbstverteidigungsrecht der ukrainischen Bevölkerung gegen einen russischen Angriffskrieg einfach weg?
Um deine letzte Frage zu beantworten: Der Vorwurf der „Neutralität“ – dass man den Ukrainer:innen ihr Recht auf Selbstverteidigung abspricht – hat in meinen Augen nichts mit radikaler Politik tun. Er kommt meistens von Leuten, die lieber leere Solidaritätsparolen anstimmen, anstatt darüber nachzudenken, was es für eine wirklich emanzipatorische Bewegung braucht. Das sind hohle Parolen, weil es keine starke linksradikale oder auch nur linke Bewegung mehr gibt, am allerwenigsten in Russland und der Ukraine. Unsere Aufgabe sollte es sein, zu überlegen, worin die Bedingungen für unsere Befreiung bestehen und welche Klassensegmente überhaupt noch etwas durchsetzen könnten.
Fragen wie: „Verlangst du als revolutionärer Defätist von den Ukrainern, in den sicheren Tod zu gehen?“ erscheinen mir ähnlich dumm und irreführend wie die Erwiderung darauf: „Verlangst von mir, dass ich aufhöre, Kommunist zu sein, und die Errungenschaften der europäischen Zivilisation aufgebe?“ Beide Fragen verweisen auf das Problem der Klassenzusammensetzung. Eine bisher ungelöste Aufgabe, die nur historisch gelöst werden kann. Aber unsere Aufgabe als Kommunist:innen ist es nicht, die Vorstellung vom Kommunismus als dumm oder utopisch zu verwerfen, sondern – im Gegenteil – derartige Vorwürfe als haltlos zu entlarven.
Revolutionärer Defätismus heißt nicht, dass man die ukrainische Bevölkerung dazu auffordert, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Sondern es geht darum zu erkennen, welche Art von Widerstand die russisch-nationalistische genozidale Maschinerie zerstören kann. Dazu zählen sicherlich Kriegsdienstverweigerer und Streikende in der Ukraine, Russland und dem Donbas. Es spielt keine Rolle, ob solche Aktionen gegen den Krieg bewusst oder unbewusst ausgeführt werden, denn in jedem Fall tragen sie dazu bei, ein Klima der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation zu schaffen. Die Aufrechterhaltung von Privateigentum bedeutet, dass Bereiche wie Transport, Logistik, Lebensmittel, Heizung ohne fossile Brennstoffe nicht funktionieren, und die Kriegsmaschinerie erzeugt auf russischer wie ukrainischer Seite immenses Leid für die Zivilbevölkerung hinter den Frontlinien.
Die Besonderheiten dieses Kriegs zwingen uns dazu, bestimmte Positionen und alte Strategien zu überdenken. Beide kriegsführende Nationen haben aktuell mehr Polizei- als Streitkräfte oder ungefähr genauso viele, wenn man die nicht direkt am Krieg beteiligten Beamten der Nationalgarde wie etwa den Grenzschutz mitzählt. Die meisten sorgen hinter den Frontlinien dafür, dass sich alle dem vermeintlich natürlichen Patriotismus fügen. Um dem durch die endlose Kapitalakkumulation erzeugten Leiden ein Ende zu bereiten, müssten die Polizeikräfte bezwungen und unterwandert werden, anstatt sich nur Scharmützel mit ihnen auf der Straße zu liefern.
Das wirft eine Menge Fragen darüber auf, wie konventionelle Kriege heute geführt werden, die von Finanzströmen und der unsicheren Zufuhr von fossilen Brennstoffen und Waffen abhängig sind. Ich kann mir nur schwer eine emanzipatorische Bewegung vorstellen, die nicht die unterschiedlichen Kriegsschauplätze, die Frontlinien und die Heimatfront mit einbezieht. Man muss die Illusionen bekämpfen, die durch Kriege oft erzeugt werden. Eine Organisation, die den Status Quo in der Ukraine in Frage stellen will, muss sich Gedanken darüber machen, wie sie sich ausweiten und gegen die Polizei und die verschiedenen Nationalisten verteidigen kann. Als Kommunist:innen sollten wir davon ausgehen, dass sich nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland eine soziale Bewegung entwickeln kann, die die Kriegsmaschinerie zum Erliegen bringt. Besonders jetzt, da ein größerer Teil der russischen Armee aus Wehrpflichtigen bestehen wird.
Wir müssen über Staatsgrenzen hinaus schauen, denn was sich in der Ukraine an sozialer Bewegung entwickeln könnte, hängt nicht nur von den Bedingungen vor Ort ab; der ukrainische Staatshaushalt ist zurzeit auf monatliche Kredite und Anleihen angewiesen. Eine Bewegung könnte auch irgendwo in der ‚Dritten Welt‘ anfangen und sich dann auf Europa, Russland und die Ukraine auswirken. Bewegungen könnten sich gleichzeitig entwickeln und gegenseitig beflügeln. Und das könnte vielleicht letztlich dazu führen, dass die Soldat:innen an der Front ihre Waffen niederlegen und sich verbünden.