Brasilien: Landlosenbewegung kritisiert Stillstand der Agrarreform unter Lula

Dienstag, 17. Dezember 2024

 https://amerika21.de/2024/12/272925/brasilien-landlosenbewegung-mst-kritik

 

 

São Paulo. Zum Jahresende sind die Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST), ihre Unterstützer:innen und Minister:innen der brasilianischen Regierung zusammengekommen. Beim diesjährigen "Treffen der Freundinnen und Freunde" wurde für 2024 eine Bilanz des politischen Kampfes gezogen und Prognosen für das nächste Jahr vorgestellt.

Scharfe Kritik wurde am Stand der Agrarreform geübt, die trotz Politikwechsel seit zwei Jahren mit dem linksgerichteten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ins Stocken geraten sei.

Für João Pedro Stedile, Mitglied der nationalen Führung der Bewegung, ist die Zwischenbilanz für die Landreform negativ. Zwar sei politischer Wille unter Lula da, dennoch habe die Regierung Schwierigkeiten, reale Maßnahmen umzusetzen. "Wir brauchen die Regierung, um die strukturellen Probleme anzugehen, denn Propaganda allein funktioniert nicht", so Stedile.

"Wir müssen viele Dinge in der Regierung Lula in Ordnung bringen, sonst werden wir viele bittere Früchte ernten", warnte Stedile. Er fordert mehr Tatendrang seitens Lula zugunsten der Landarbeiter:innen. "Wir wollen mehr als Produktionsanreize, wir wollen eine Agrarreform! Und die ist nur mit der Enteignung der Latifundien möglich, was sich auf die produktive Struktur auswirkt."

Auch João Paulo Rodrigues, ebenfalls von der nationalen Führung der Bewegung, bemängelte die aktuelle Lage und den fehlenden Dialog zwischen der MST und Lula, auf den die Bewegung seit drei Monaten warte. Es brauche konkrete Maßnahmen für die Landarbeiter:innen, wie die Neuregelung von Krediten und Schulden, aber auch Wohnraum, Bildung sowie eine generelle Verbesserung der Lebensbedingungen.

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Paulo Teixeira, Minister für landwirtschaftliche Entwicklung und Familienlandwirtschaft, verteidigte die Führung Lulas und die aktuelle Agrarreform. Ihm zufolge sind für das Jahr 2025 fünf Enteignungen von Landgütern für die Ansiedlung von Familien im Rahmen der Agrarreform geplant. Dazu zählt auch Campo do Meio im Bundesstaat Minas Gerais, wo Familien seit mehr als 20 Jahren auf eine endgültige Regelung warten. Auch die finanziellen Förderungen und Schulden der Landarbeiter:innen sollen neu verhandelt und reguliert werden.

Nicht nur Teixeira, auch der Leiter des Generalsekretariats Márcio Macedo hob die Bedeutung der MST für die Demokratie und für die Agrarreform hervor – insbesondere, wenn es darum gehe, Druck auf die Entscheidungsträger:innen des Staates auszuüben. Er appelliert an die Zusammenarbeit zwischen der Bewegung und dem Staat. Für ihn sei es "von grundlegender Bedeutung, im Kampf gegen die Ultrarechte Seite an Seite zu stehen, aber mit allem gebührenden Respekt und unter Gewährleistung der Autonomie der Bewegungen".

Die MST wurde 1984 gegründet und setzt sich seitdem für eine gerechte Landreform, den Zugang zu Land für landlose Arbeiter:innen und eine nachhaltige Agrarwirtschaft ein. Neuesten Erhebungen des Nationalen Instituts für Kolonisierung und Agrarreform (INCRA) zeigen auf, dass es landesweit rund 101.000 landlose Familien gibt.

Vergangene begann die MST ihre Kampagne "Weihnachten mit Land", um Druck auf die Regierung Lula auszuüben, die Agrarreform voranzutreiben. Am 3. Dezember besetzten 170 Familien zwei Farmen in Pedras Altas, in Rio Grande do Sul. Andere Familien protestierten vor dem Sitz des INCRA in Porto Alegre. In Pará blockierten mit der MST verbundene Familien die Carajás-Eisenbahnlinie, die dem Bergbauunternehmen Vale gehört, und prangerten die Auswirkungen großer Bauprojekte und die Untätigkeit der Behörden an.

EDA-Politik: Zynismus und Komplizenschaft

Dienstag, 10. Dezember 2024

 Ein aktueller Bericht direkt aus Kuba von René und Suzanne

Erste Tage im Dezember 2024. Kuba im Auge von mehreren Hurrikanen, natur- und menschgemachten. Und dazwischen eine Bevölkerung, die sich mit viel Bereitschaft zur Improvisation ihr Leben organisiert. Der Paternalismus des Sozialismus der früheren Jahre hat seine Spuren hinterlassen: Die einen schimpfen gegen «die da oben», andere verharren abwartend, und wiederum andere packen die Chancen, die ihnen vor etwa zehn Jahren durch die Freigabe diverser privatwirtschaftlicher Bereiche eröffnet worden sind, insbesondere im Tourismus (Casa particular, Taxi, Gastronomie) oder auch in der Kultur. Zur Zeit sichtbar durch die Biennal in öffentlichen Bereichen und Galerien in ganz Havanna, oder auch in Matanzas zum Beispiel.

Eindrücklich ist erneut die hohe Arbeitsmoral, zu erleben in den Institutionen die von der Vereinigung Schweiz-Cuba Zürich seit Jahren unterstützt werden – dies unabhängig davon, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denselben, oft schwierigen Lebensumständen (Rationierung von Strom, Wasser und Gas, Transport, Knappheit von Milch, Fleisch, Reis, Zucker usw.) unterworfen sind. Hauptproblem bleibt seit der Währungsreform vor bald drei Jahren die Schere, die zwischen den Löhnen und den ständig steigenden Preisen aufgeht. Es ist praktisch alles erhältlich für diejenigen, welche die entsprechende Kaufkraft haben – während die hoch subventionierten Produkte, die durch die Libreta erhältlich wären, oft fehlen und nur verknappt vorhanden sind.

Die Entwicklung im Land hat sich trotz aller Anstrengungen der Regierung im laufenden Jahr nicht verbessert, insbesondere aufgrund der beiden verheerenden Hurrikane Oscar und Rafael sowie dem starken Erdbeben (6,7 auf der Richter-Skala). Zur Zeit ist es sehr windig, kühl, regnerisch, der Malecon von Havanna von den Wellen überspült … Im Tourismus wurde vom Januar bis Ende Oktober lediglich die Zahl von 2,7 statt der angestrebten 3 Mio. Besucher erreicht.

Was tut die Schweiz?

In diese Situation platzen zwei negative Ereignisse. Zwar hat die Schweizerische Eidgenossenschaft im November – zusammen mit 187 Nationen – in der Vollversammlung der UNO für ein sofortiges Ende der umfassenden und kriminellen US-Blockade gestimmt. Dies bereits zum x-ten Mal, doch erneut bleibt diese fast einstimmige Entscheidung ohne irgendwelche konkreten Folgen.

Schlimmer noch: Wenige Wochen danach erlässt das EDA eine geharnischte «Reisewarnung» gegen Kuba. Sie wird durch das Portal Travelnews verbreitet und hat letztlich zum Ziel, Reisende von einem Besuch auf der Karibikinsel abzuhalten. Nicht einmal Hotels seien von Stromausfällen und dem Treibstoffmangel verschont … Während vor unseren Augen die alten 58er-Chevrolets, Taxis und auch viele Privatautos zirkulieren.

Und die Gründe, welche das EDA ins Feld führt, könnten praktisch auf ganz Zentral- und Südamerika angewendet werden.

Wenn das EDA mit der Aufzählung der Naturkatastrophen, Versorgungsengpässen und weiteren Schwierigkeiten im Land nicht unrecht hat, dann ist und bleibt es zynisch, wenn im selben Moment in der Schweizer Botschaft in Havanna die DEZA (hier: COSUDE) am Kofferpacken ist, respektive an der definitiven Schliessung des kleinen, aber für Kuba wichtigen Büros der Entwicklungszusammenarbeit. Dies geht auf die Politik von Bundesrat Cassis zurück, gemäss der sich die Schweiz, unabhängig von der jeweiligen Lage in den einzelnen Ländern, vollständig aus Lateinamerika zurückzieht. Gerade auch aus dem einzigen Land, das sich weder dem Diktat der USA noch des IWF unterworfen hat.

Völlig unverständlich und schlimm ist dabei, dass im Ukas des EDA unerwähnt bleibt, welch grosse Anstrengungen die Regierung und der Zivilschutz auch in diesem Jahr unternommen haben, um angesichts der Naturereignisse (die auch in der Karibik immer heftiger werden) Leben zu schützen und darnach in möglichst kürzester Zeit, mit den knapp vorhandenen Ressourcen die Schäden zu beheben, insbesondere die Stromversorgung wieder herzustellen, Schulen und Häuser zu reparieren.

Hierzu bleibt das EDA stumm und die offizielle Schweiz steht total abseits. Genauso verhält es sich, wenn es darum ginge, den extraterritorialen Auswirkungen der US-Blockade etwas Konkretes entgegenzustellen. Insbesondere die Schweizer Banken, inklusive Postfinance, praktizieren eine minutiös durchgezogene Kuba-Finanzblockade. Selbst humanitäre Hilfe wie sie z. B. mediCuba Suisse betreibt, ist auf vielfältige Weise von der Blockade betroffen.

Durch all dieses Abseitsstehen und nun mit dieser «Warnung an Reisende» macht sich die Schweiz letztlich zur Komplizin der US-Aussenpolitik, der bisherigen und auch der neuen. Der Miami-Hardliner Marco Rubio ist designierter Aussenminister.

Was bei dieser im Westen vereinheitlichten Sichtweise völlig untergeht, sind zwei essentielle Erfahrungen die wir in wiederholten Besuchen auf Kuba immer wieder machen können:

Erstens. Angesichts der unzweifelhaft gewaltigen Probleme in diesem kleinen, unabhängigen Land – seien sie verursacht durch die US-Blockade, durch Naturkatastrophen oder eine Anhäufung eigener Fehler – ist es nicht das Unvermögen der Regierung und schon gar nicht deren Ziel, eine Austeritätspolitik gegen die Interessen der Bevölkerung zu betreiben. Das heisst, es werden keine neoliberalen Abbaumassnahmen in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Kultur vorangetrieben, wie sie der IWF allenthalben an seine Kreditvergabe knüpft.

Was geschieht, geschieht der Not gehorchend – und dabei wird Kuba trotz all seiner Errungenschaften, seiner friedlichen Politik und der bewundernswerten Bevölkerung von (fast) der ganzen Welt der Rücken zugedreht. Die Karibikinsel mit ihren 10 Mio. Einwohnern wird kaltherzig ihrem weitgehend von äusseren Umständen aufoktruierten Schicksal überlassen – um dann mit aller Häme auf die Unzulänglichkeiten hinzuweisen.

Demgegenüber stellen sich zweitens die Menschen auf der Insel (diejenigen, die hier geblieben sind), mit relativer Ruhe, Würde und erfinderischen Massnahmen der schwierigen Situation. Manchmal auch mit einer Faust im Sack – doch im Bewusstsein, dass ihre Alternative so etwas wie Guatemala oder gar Haiti bedeuten würde.

VSC Zürich

René Lechleiter

Suzanne Schreiber Lechleiter

Havana, 4. Dezember 2024

 

Nicaragua unterwegs. Wohin?

Donnerstag, 5. Dezember 2024

 

(zas, 5.12.24) Vergangenen November nahm das Parlament in einer erster Lesung den von Präsident Daniel Ortega angestossenen Vorschlag einer neuen Verfassung an. Deren Schwerpunkt: die Abschaffung der traditionellen staatlichen Gewaltenteilung. Wer die Regierung leitet, soll den ganzen Staat befehligen. Also etwa auch die Justiz. (Die Idee hatte Ortega wohl nicht von Trump, dessen Lager in den USA das Gleiche anstrebt.) Parlamentspräsident Gustavo Porras drückte das so aus:  “Wir überwinden das Konzept der legislativen, exekutiven und rechtlichen Gewalten». Denn souverän sei einzig das Volk, das via die presidencia (ein Co-Präsident und eine Co-Präsidentin) und den Frente Sandinista regiere. «Wichtig ist klar zu machen, dass die Presidencia der Republik die Regierung leitet und alle diversen Staatsorgane koordiniert, auch jene der Kontrolle und der Verwaltung.» Das Recht auf umfassende kostenlose Gesundheitsversorgung (inklusive das «kommunitäre und Familiengesundheitsmodell») und Erziehung auf allen Stufen bleibe weiter in der Verfassung verankert. Natürlich werde, so Porras, die Presidencia auch in Zukunft demokratisch in einem Mehrparteiensystem gewählt. Er betont auch eine gender-bewusste Sprache im gesamten Verfassungstext.

Ortega hatte schon vor Monaten seine Gattin, Rosario Murillo, bis dahin «nur» Vizepräsidentin, als faktische Ko-Präsidentin bezeichnet. Dies wird nun offizialisiert, zum Leidwesen auch eines Teils der sandinistischen Basis. Denn die Frau hat einen herrischen Ruf, und ihre offizielle Stellungsnahmen durchfliessende Vorliebe für eso-religiöse Weichenstellungen stösst nicht auf Begeisterung. Auch dass ein Sohn des Paares schon länger an inoffiziellen, aber wichtigen Schalthebeln der Macht sitzt, kommt nicht gut an. An Familiendynastischem haben die Nicas wenig Freude.

Ein Frente-Kader argumentiert auf Kritik von unserer Seite so: Die Revolution in Nicaragua habe sich auf sozioökonomischem Gebiet vertieft und müsse gleichzeitig vor brutalen Angriffen des Imperialismus geschützt werden. Hinter der allseits gepriesenen Gewaltenteilung steckten in Wirklichkeit stets nur die herrschenden kapitalistischen Klassen, während in Nicaragua das Volk presidente sei.  Die neue Verfassung «reflektiert ein neues Kräfteverhältnis, nachdem die Oligarchie und die Yankees [2018] das bis dahin geltende Modell zerstört haben. Es reflektiert die Vorgehensweise, von der Basis auszugehen. Das heisst, die internen feindlichen Kräfte und ihr Pate werden keine Möglichkeit mehr haben, [illegal] um die Macht zu kämpfen.»

Wie sich dieses «von der Basis aus arbeiten» ausdrücke?

«Da fehlt es noch an Vertiefungen. Aber es gibt wichtige Fortschritte. So werden die Gemeindebudgets auf der Basis der Forderungen der Comunidades erstellt. Das neue Erziehungsgesetz beruht auf breiten Absprachen mit dem gesamten Erziehungssektor (vom Kindergarten bis zum akademischen oder technischen Studium); die Gesundheitsversorgung ausserhalb der Gesundheitszentren und Spitäler basiert auf den Bedürfnissen und Forderungen der  Comunidades und ihrer aktiven Beteiligung an seiner Ausarbeitung; die mit der Produktion befassten Institutionen, die wir das Nationale Produktionssystem nennen, arbeiten in Übereinstimmung mit den entsprechenden Sektoren.»

Zu diesem Produktionssystem hatten wir Fragen. Daran seien, so die Antwort, zahlreiche Ministerien, Behörden, Finanzinstitutionen, akademische Gremien, aber etwa auch die beiden Regierungen der karibischen Autonomieregionen beteiligt. «Vor Ort gibt es Versammlungen von ProduzentInnen eines spezifischen Produkts wie Bohnen oder Reis oder Gemüse oder Kaffee oder Vieh. Dabei werden Produktionsziele pro Ernte oder Jahr beschlossen, es werden Massnahmen etwa für Plagen, Dürre oder Preiszerfall inklusive technische Beratung und Weiterbildung festgelegt. Auch Probleme wie die Verteilung (Lagerung, Transport, Gross- und Kleinhandel etc.) und anderes werden diskutiert.» Wir erhielten dazu ein umfangreiches offizielles Dokument mit genauen Zielvorgaben für 2024/25 und einem Fokus etwa auf die bäuerische Agrarproduktion oder Anpassungen an den Klimawandel. Zum Prozessen seiner Erarbeitung scheint nichts explizit formuliert zu sein.

Zur Verfassungsreform, so eine weitere Antwort, gelte es zu verstehen, dass «nichts, was wir machen oder sagen, gemacht oder gesagt werden kann, ohne die Konfrontation mit den Yankees und ihren Satelliten in Rechnung zu stellen. Absolut alles hängt damit zusammen. Ihre Massnahmen und Aggressionen sind total, ausser im Militärischen als offener Krieg. Aber ihre Bestrebungen, Polizei und Armee zu spalten, erfolgen täglich.  In diesem Zusammenhang mussten wir fundamentale Entscheidungen treffen, um zu verhindern, dass uns das Gleiche wie in Georgien oder Venezuela passiert (mit als Präsidenten verkauften Usurpatoren). Dies ist das Herz der Reform: Institutionell kann der Imperialismus die Macht des Volkes nicht mehr brechen.» Dazu komme, dass wichtige strukturelle Veränderungen in den letzten 18 Jahren sich in der Verfassung niederschlagen müssen. Veränderungen, «die von Rechten des Individuums («Trinkwasser ist ein Menschenrecht»), der Gleichheit der Geschlechter, dem partizipativen Entwicklungsmodell bis zur Definition der Staates und der Macht («die Republik Nicaragua ist ein revolutionärer Staat», «das Volk übt die revolutionäre Macht direkt aus») einschliesslich der Organisation der Instrumente des Rechts und der Wahlen». Auch der Einbezug von vier Sprachen der indigenen Völker, jener der Garífunas und das afro-nicaraguanische Creole als zweite Amtssprache an der Karibikküste gehöre dazu.

Auf den Einwand, dass es gerade im Kontext dieser zentralen Reform keine breite Debatte gab, antwortete der Freund: «Klar wäre eine umfassende und nationale Diskussion ideal gewesen. Aber dafür sind objektiv die Bedingungen nicht gegeben. Denn die Feinde konspirieren alle Tage und auf alle Weisen. Sie sind unter Kontrolle … aber wir dürfen keine Schwäche zeigen.»

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Kommentar: Unter den Brücken schlafen…

Natürlich ist die viel zelebrierte Gewaltenteilung primär ein Mythos. Sie folgt der gleichen Logik, die Anatole France so auf den Punkt brach: «Die majestätische Gleichheit der Gesetze verbietet es Reichen wie Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf der Strasse zu betteln oder Brot zu klauen» (La majestueuse égalité des lois interdit aux riches comme aux pauvres de coucher sous les ponts, de mendier dans la rue et de voler du pain.) Dennoch sehen wir dort, wo diese klar relative Gewaltenteilung abgeschafft wird, wie die unten dem Terror von denen oben noch mehr ausgesetzt werden. Sie abzuschaffen, bedingt wohl eine sozialrevolutionäre Grundbewegung und Kraft, von der wir in Nicaragua kaum was sehen. Das negiert nicht, dass ein relevanter Bevölkerungsteil der sandinistischen Regierung wohl gesonnen ist, trotz grosser Probleme, wie sie sie sich in der Emigration niederschlagen. Aber viel wird offenbar von «oben» erwartet oder hingenommen – nicht gerade el pueblo presidente. Und gravierend: Genau diese neue Verfassung, die doch epochale Entwicklungen verarbeite, wurde nicht aktiv von unten bestimmt. Kommt sie dort also je an?

Kein Zweifel, die imperialistische Bedrohung Nicaraguas ist keine Erfindung, die Notwehr kein Diktat der Paranoia. Gerade hat Washington Nicaragua für ein weiteres Jahr zur «ausserordentlichen Bedrohung» der Sicherheit der USA erklärt. Als «legale» Voraussetzung für völkerrechtswidrige Sanktionen. Wirtschaftsterror gegen ein Land der Armen. Das beeinflusst das westliche Entsetzen ob der «Diktatur» in Nicaragua natürlich kein bisschen.[i]

So viel zum Demokratiegezeter von rechts bis progressiv-liberal.

Nun, die neue Verfassung dürfte nach Inkrafttreten zwar das Regieren erleichtern, aber nicht wirklich das Los der Leute. Bei allen guten Ansätzen im Sandinismus: Solange im Frente ein gewisses Duckmäusertum gefördert wird, solange undurchsichtige Seilschaften um das Präsidialpaar zirkulieren, ist eine weitere Machtkonzentration genau dort ohnehin ungut. Wir werden sehen, ob die angebliche partizipative Macht von unten sich manifestiert oder auf mehr oder weniger freiwilliges Abnicken hinausläuft.



[i] Gestern am Radio die Nachricht vom neuen Stromzusammenbruch in Kuba. Die Kraftwerke bräuchten Öl, doch Venezuela liefere dieses nicht mehr. Und die Installationen seien nicht instandgehalten. Kein Wort zur Ursache dafür: die extremen westlichen Sanktionen gegen Kuba. Dafür Kopfschütteln im Hintergrund wegen der Misswirtschaft auf der Insel. Kein Einzelfall: Wo immer die Sanktionsgewalt zuschlägt, sind die Angegriffenen die Schuldigen, und die Gewalt beleibt unsichtbar.  

USA: Neues Sanktionsgesetz gegen Venezuela, González als "gewählter Präsident" anerkannt

Donnerstag, 28. November 2024

 

Caracas kritisiert "eklatanten Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen". Washington wiederhole zudem eine gescheiterte Strategie des Regime change
Senator Scott, einer der Initiatoren des Bolivar Act, beim Videotelefonat mit Machado
Senator Scott, einer der Initiatoren des Bolivar Act, beim Videotelefonat mit Machado

Caracas. Die venezolanische Regierung hat das vom US-Repräsentantenhaus verabschiedete Bolivar-Gesetz scharf verurteilt. Damit sollen Sanktionsmaßnahmen gegen das südamerikanische Land in der US-Gesetzgebung verankert werden.

"Der Zweck dieses Gesetzes ist es, die wirtschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen Venezuela und den USA zu untergraben." Dies stelle einen eklatanten Verstoß gegen die UN-Charta dar "und kommt zu den mehr als 930 einseitigen und extraterritorialen Zwangsmaßnahmen gegen das venezolanische Volk hinzu", heißt es in einer Pressemitteilung des Außenministeriums.

Caracas beschuldigt zudem die venezolanische ultrarechte Opposition, die "Aggression" Washingtons gegen das Land zu unterstützen und fordert die internationale Gemeinschaft auf, diese "illegale" Maßnahme, die "die nationale Souveränität verletzt", zu verurteilen.

Kritisiert wird auch das "beleidigende" Akronym des Gesetzes, das nach dem venezolanischen und südamerikanischen Unabhängigkeitshelden Simón Bolívar benannt ist.

Das "Gesetz zum Verbot von Geschäften und Pachtverträgen mit dem illegitimen autoritären Regime Venezuelas (Bolivar)" wurde am Montag vom US-Repräsentantenhaus mit Unterstützung republikanischer und demokratischer Abgeordneter verabschiedet. Der Gesetzentwurf wurde von zwei Abgeordneten aus Florida, Mike Waltz von den Republikanern und Debbie Wasserman Schultz von den Demokraten, eingebracht und wird nun dem Senat vorgelegt.

Waltz, den der designierte Präsident Donald Trump zum nationalen Sicherheitsberater ernannt hat, erklärte in einer Pressemitteilung, dass der Gesetzentwurf "eine starke Botschaft an Maduro sendet, dass es keine Appeasement-Politik geben wird".

Am Dienstag führte der republikanische US-Senator Rick Scott aus Florida, einer der Initiatoren des Bolivar Act, ein Videotelefonat mit der venezolanischen Oppositionellen María Corina Machado. Die Tage von Präsident Nicolás Maduro sind gezählt", so Scott. Auf X postete er, dass er "weiterkämpfen" werde, um die Regierung Maduro zu stürzen und signalisierte damit die positive Haltung des Senats zu dem Gesetz.

Der Gesetzentwurf HR 825 verbietet es US-Bundesbehörden, Verträge über die "Beschaffung von Waren oder Dienstleistungen" mit Personen abzuschließen, die signifikante Geschäfte "mit einer Behörde der Regierung Venezuelas" tätigen, "die von den USA nicht als legitime Regierung Venezuelas anerkannt wird".

Ausgenommen sind Auftragnehmer, die sich beim Amt zur Kontrolle von Auslandsvermögen (Ofac) des US-Finanzministeriums eine Sanktionsbefreiung für ihre Geschäftstätigkeit in Venezuela gesichert haben.

In der Praxis führt der Bolivar Act nicht zu einer Verschärfung der bestehenden Sanktionen. Die von der Trump-Regierung im August 2019 erlassene Executive Order 13884 verbietet US-Bürgern bereits "Transaktionen mit der Maduro-Regierung, es sei denn, sie sind von der OFAC genehmigt". Der Gesetzentwurf zielt jedoch darauf ab, die durch Executive Orders verhängten Maßnahmen in der Gesetzgebung zu verankern.

Seit dem Erlass von Präsident Barack Obama im Jahr 2015, in dem Venezuela zu einer "ungewöhnlichen und außerordentliche Bedrohung" für die nationale Sicherheit der USA erklärt wurde, wurden weitreichende Sanktionen gegen praktisch alle Sektoren der venezolanischen Wirtschaft verhängt. Die Ölindustrie wurde mit Finanzsanktionen, einem Exportembargo, sekundären Sanktionen und anderen Maßnahmen zur Unterbindung von Einnahmen ins Visier genommen. Der Erlass wird seitdem Jahr für Jahr erneuert.

Diese Sanktionspolitik wurde von unabhängigen Menschenrechtsexperten als "kollektive Bestrafung" eingestuft, da sie eine Migrationswelle und wirtschaftliche Probleme auslöste, die zum Tod von Zehntausenden Venezolanern führten.

Die ultrarechte Opposition befürwortet seit langem die Agenda der USA für einen Regimewechsel, einschließlich einseitiger Zwangsmaßnahmen. Zu denjenigen, die sich wiederholt für Sanktionen und eine militärische Intervention eingesetzt haben, gehört Machado.

Ihre Übertretungen veranlassten den Obersten Gerichtshof Venezuelas, ihr die Ausübung öffentlicher Ämter zu untersagen. Daraufhin nominierte sie den nahezu unbekannten 75-jährigen Diplomaten Edmundo González als Ersatzkandidaten für die Präsidentschaftswahlen am 28. Juli.

Nach Angaben des Nationalen Wahlrats (CNE) erhielt Maduro 6,4 Millionen Stimmen, der von den USA unterstützte Kandidat 5,3 Millionen. Der Oberste Gerichtshof bestätigte die Ergebnisse. Die Opposition behauptet jedoch weiterhin, dass González, der im September nach Spanien ins Exil ging, der Gewinner sei.

Selbst in linken Kreisen innerhalb und außerhalb Venezuelas, die den Sieg Maduros nicht anerkennen, solange der CNE die Wahlergebnisse nicht veröffentlicht hat, wird González nicht als Sieger der Präsidentschaftswahlen anerkannt.

Am Dienstag bezeichnete US-Außenminister Antony Blinken nun González als "gewählten Präsidenten". Zuvor hatte Washington zwar seine Unterstützung für die Siegesbehauptung der Opposition zum Ausdruck gebracht, sich aber einer vollständigen Anerkennung enthalten.

"Das venezolanische Volk hat am 28. Juli deutlich gesprochen und Edmundo González zum gewählten Präsidenten gemacht. Demokratie verlangt Respekt vor dem Willen der Wähler", schrieb Blinken.

Venezuelas Chefdiplomat Yván Gil warf ihm daraufhin vor, die gescheiterte Strategie von 2019 zu wiederholen, als Washington sich hinter den selbsternannten "Interimspräsidenten" Juan Guaidó stellte. Dieser hatte sich nach mehreren gescheiterten Umsturzversuchen Anfang 2023 in die USA abgesetzt.

Die im Januar antretende Trump-Regierung hat dazu noch keine Stellung bezogen. Die Nominierung des republikanischen Hardliners Marco Rubio zum Außenminister durch Trump deutet nach Ansicht von Analysten jedoch auf verstärkte Bemühungen um einen Regimewechsel hin.

Don’t call us heroes

Mittwoch, 27. November 2024

 

Der Text von Roaa Shamallakh aus Gaza Don’t call us heroes ist absolute Pflichtlektüre. Auf die westliche Herrenmenschen-Haltung, die noch jede Verschärfung der Vernichtung als humanitäres Problem betrachtet (wenn überhaupt), geht sie schon gar nicht mehr ein. Ihre Sätze gehen tiefer. Und sie wehrt sich gegen die Instrumentalisierung von Überlebenden (wie sie selbst) als Helden/Heldinnen: «Survival in Gaza isn’t a triumph. It’s a necessity … Our resilience is not born of choice.   It is the reflex of the oppressed, the instinct to hold on when there is nothing left. If you see us, do not call us invincible (…) Call us what we are: human.”

Sie zitiert die Sätze ihres umgebrachten Lehrers und Mentors Refaat Alareer: «If I must die, you must live to tell my story.” Seine Worte, sagt sie, gaben ihr eine Aufgabe. Aber auch das war keine Stärke, sondern “a survival mechanism, a way to endure the endless mad cycle of fear and loss.”

Staying alive is the reflex of the oppressed. (Hadi Daoud / APA Images)