(zas, 28.4.25) Vor wenigen Tagen im Magazin ein Gespräch mit einem Vertreter des Welternährungsprogramms über das Hungern in Gaza. Fassungslosigkeit klang durch seine ruhigen Worte. Vor wenigen Tagen ein Nachrichtensprecher im gleichen Medium: Die israelische Armee plane, ihre Operationen in Gaza auszuweiten. Denn noch drohe die Hamas. Im Folgenden zu einigen dieser «Operationen».
Am 25. April 2025 publiziert die Haaretz den Artikel «We’ll Die Whether From Hunger or the Bombing» von Sheren Falah Saab. Sie zitiert den Gaza-Journalisten H.:
Ich fühl mich schwach. Ich esse eine Dattel um 1 pm und eine andere um 6. So geht das nun seit drei Wochen (…) Das Einzige, was ich denke, ist, wie ich meine Kinder in den nächsten Tagen ernähre.
Die Autorin weiter:
Vor drei Wochen schloss die das UN-Ernährungsprogramm wegen Mangel an Mehl und Kochgas die subventionierten Bäckereien, die in Gaza eine Schlüsselrolle innehatten. Seit dann stützen sich die Leute weitgehend auf die rund 1 Million warmen Mahlzeiten, zubereitet von den 175 taqiya genannten Suppenküchen, die von Freiwilligen organisiert werden und schon vor dem Krieg existierten. Die Mahlzeit besteht meist aus Linsensuppe, Hummus oder Bohnen und manchmal Reis. Das reicht der UNO zufolge keineswegs zur Deckung der Ernährungsbedarfs. Fischfleisch, Milchprodukte, Eier, Früchte und Gemüse sind nur viel schwerer erhältlich.
Sheren Falah Saab sprach auch mit Amjad, 37-jähriger Vater zweier 4-jähriger Zwillinge aus Beit Lahia in Nordgaza, der ebenfalls im Nuseirat-Flüchtlingslager ist. Er sagt:
Wir lebten schon vor dem Krieg mit Ausfällen. Bei einem Stromausfall kann man mindestens eine Solarpanel während zwei Stunden benutzen. Aber woher kannst du was zu essen kriegen, wenn alles ringsum zerstört ist?
Kein Garten mehr
Die Haaretz-Autorin schreibt:
Amjad nennt die die im Krieg zerstörte landwirtschaftliche Infrastruktur. Seit Wiederaufnahme der Kämpfe vor über einem Monat hat die israelische Armee für verschiedene Gebiete über 20 Evakuierungsbefehle erlassen. Quellen in humanitären Organisationen sagen, dass diese Befehle kein Auslaufdatum enthalten und niemand weiss, ob man nach Ende der Armeeoperative zurückkehren kann. Ein UN-Bericht sagte letzte Woche, dass 69 Prozent von Gaza für PalästinenserInnen gesperrt sind, sei es als Puffer- oder Evakuierungszonen. Scheinbar haben Evakuierungsbefehle nichts mit dem Hungerproblem zu tun, aber in Wirklichkeit berauben sie die Menschen in Gaza einer letzten verzweifelten Taktik: das eigene Essen anbauen. Amjad sagt: «Wir können nicht mal auf unser eigenes Land gehen.»
Rabia, ein 39-jähriger Agrartechniker aus Dier-al-Balah in Zentralgaza sprach mit Haaretz im Oktober über den Überlebenskampf mittels kleiner Gemüsegärten. Jetzt, sagt er, können die Leute nichts mehr anbauen, denn sie müssen andauernd den Ort wechseln, wo sie leben. Er sagt: «Zu Beginn des Monats sagte die Armee, wir müssten Deir-al-Balah verlassen. Also gingen wir nach Rafah, Alles ging verloren und anderen Familien ging es genau gleich – sie hatten Gemüse gepflanzt und mussten es dann zurücklassen.»
Amos Harel ist Militäranalytiker bei der Haaretz. Gestern veröffentlichte das Blatt seinen Artikel «As Israeli Soldiers Die in Gaza Again, the IDF Faces a Sobering Reality About Hamas». Wir lesen:
[Seit Wiederaufnahme der Kämpfe] wurden 2000 PalästinenserInnen getötet, mehr als die Hälfte davon ZivilistInnen. Aber das hat in Israel nicht für grosse Aufmerksamkeit gesorgt, da es keine israelische Verluste gegeben hat.
Die Hamas foutiere sich um die Bevölkerung, sagt er, trotz deren «wachsender Sorge bezüglich Nahrungsmangel zusätzlich zur Angst vor weiteren Verlusten.» Er diagnostiziert einen Konflikt zwischen den für eine Kriegsintensivierung eintretenden rechtsextremen Kabinettmitgliedern und der Armeeführung, die angesichts schon spürbarer Rekrutierungsschwierigkeiten von ReservistInnen erst recht bei einer Kriegsintensivierung in Schwierigkeiten geriete. Und dann ein schlagendes Argument:
«Zudem kann Israel die Bevölkerung von Gaza nicht unbeschränkt aushungern. Je mehr sich die humanitäre Lage in Gaza verschlimmert, desto mehr wird es zu internationalem Druck für die Wiederaufnahme der Hilfskonvois kommen.»
Monströse Logik, Andocken an eine vorherrschende Kosten/Nutzen-Mentalität, beides?
In nur 5 Wochen
Viel relevanter Nora Barrow-Friedman in Israel imposes starvation “by design” in Gaza vom 25. April:
Zwischen dem 18. März, als Israel den sogenannte Waffenstillstand brach und das Massenschlachten in Gaza wiederaufnahm, und dieser Woche sind fast 1900 PalästinenserInnen getötet und 5000 verletzt worden. Diese Zahlen schliessen 600 getötete und 1600 verwundete Kinder in nur 5 Wochen ein. Am Dienstag, den 22. April, beschoss die israelische Armee inmitten eines Raketenhagels auf die al-Tuffah-Nachbarschaft das Kinderspital in Gaza City. (…) Eine Woche vorher tötete ein israelischer Angriff auf al-Masawi [eine südliche Evakuierungszone] mindestens 10 PalästinenserInnen, einschliesslich Kinder, davon eine Person im Rollstuhl. Die Exekutivsekretärin des UNO-Kinderhilfswerks Unicef, Catherine Russel, erklärte, dass «Bilder von brennenden Kindern in selbstgemachten Zelten uns alle aufrütteln sollten».
Mondoweiss veröffentlichte am 24. April den Artikel Rafah no longer exists. This is part of Israel’s plan to permanently occupy Gaza von Tareq S. Hajjaj von der Palestinian Writers Union. Die 200'000-Seelen-Stadt an der Grenze des Gazastreifens mit Ägypten existiere nicht mehr. Hajjaj schreibt:
Im letzten Monat hat die israelische Armee Rafah systematisch entleert und, was an Gebäuden noch stand, dem Erdboden gleichgemacht. Die Stadt Rafah und ihre umgebenden Ortschaften sind praktisch passé, die meisten BewohnerInnen unter andauerndem Artilleriefeuer und dem näherkommenden Lärm von Panzern und Bulldozern nördlich nach Khan Yunis und in den Masawi-Küstenstreifen evakuiert.
Bilder und Berichte aus Rafah zeigen eine total ausgelöscht Stadt und BewohnerInnen bestätigen, dass sie für menschliche Bewohnung nicht mehr geeignet ist. Khaled al-Dahaliz, 36, lud seine Habseligkeiten auf eine Karre und flüchtete nach mehreren Wochen erneuerter israelischer Bombardierungen in Richtung Masawi. Er hatte eine Weile versucht auszuhalten, indem er von einem Ort in Rafah zum anderen wechselte, aber er sagte in einer Mondoweiss zugänglichen Aufnahme, er habe den andauernden Beschuss und die Bombardierungen nicht mehr ausgehalten. «Wir haben Rafah für immer verlassen. Wir glauben nicht, dass eine Rückkehr möglich ist, nichts mehr bleibt von der Stadt. Sogar die Zelte, die wir aufgestellt haben, wurden zum Ziel der israelischen Armee. Wo immer man hingeht, sieht man keine Häuser oder Menschen mehr – nur Vernichtungslager. Es ist so, dass niemand mehr weiss, wo das eigene Heim gestanden hat.»
Privatunternehmen und «Waffenruhen»
Das Wall Street Journal beschreibt heute, wie eventuelle Essenslieferungen aus westlicher Sicht aussehen könnten. Gegen eine Essensverteilung durch die IDF spreche auch der Umstand, dass dies als Indiz für eine effektive Kontrolle der Lage (und damit eine grössere israelische Verpflichtung auf Rechtsnormen) interpretiert werden könne. Mehrere Optionen würden diskutiert. Eine beschreibt das Blatt so: «Ein in Diskussion befindlicher Pilotplan würde unter Beteiligung privater amerikanischer Unternehmen an den Hilfeoperationen im südlichen Gaza lanciert werden. Die Idee ist, eine neue humanitäre Zone zu eröffnen, in die Gaza-Einwohner bewegt werden können und wo die Hilfe nicht in die Hände der Hamas gelangen würde, sagten mit der Materie befasste Leute», aber einige Details seien noch unklar.
Solche Gedankenspiele sind im Zusammenhang mit den Verhandlungen zwischen den USA, Israel, arabischen Staaten, der Türkei und der Hamas zu sehen. Dabei soll es um den Vorschlag einer langen Waffenruhe und einem grossen Geiselaustausch gehen. Den letzten Waffenstillstand beendeten die USA und Israel, wie vom rechtsextremen Flügel der israelischen Regierung um Smotrich (und Netanyahu) von Beginn weg verheissen. Viele freudige Medienberichte über (massiv unterdotierte) Hilfstransporte während des Waffenstillstands sollten das angerichtete unheilvolle Leiden vergessen machen.
Der Albtraum eines Holocaustforschers
Gideon Levy schrieb am 23. April anlässlich des Gedenkens der «Sirenen» an die Shoah in My Thoughts during the Siren:
Wie kann man [dabei] nicht an den mutigen und schockierenden Artikel von Orit Kamir (hebräische Haaretz-Ausgabe, 22. April) über die Israelis denken, die vom Seitenrand her dem Krieg zuschauen, was, sagt sie, ihr Recht, sich über die Deutschen zu beschweren, die das gemacht haben, negiert, und nicht mit jedem Wort einverstanden sein? Oder an den nicht weniger schockierenden Artikel von Daniel Blatman über die Kinder von Gaza und die Kinder des Holocausts (hebräische Haaretz-Ausgabe, 23. April). Blatman schreibt: «Ich habe den Holocaust während 40 Jahren studiert. Ich habe unzählige Zeugnisse über den schrecklichsten aller Genozide gelesen, am jüdischen Volk und anderen Opfern. Aber die Wirklichkeit, in der ich Berichte über einen vom jüdischen Staat begangenen Massenmord lese, die mich in erschreckend Zeugnisse im Yad Vashem-Archiv erinnern – das konnte ich nicht in meinen schlimmsten Alpträumen vorhersehen.»
A World Food Program warehouse stood empty on Saturday in Nuseirat, Foto: WSJ. |