ReArm Europe und «emanzipatorische» Verkleidung

Freitag, 4. April 2025

 

Der Ökonom Alejandro Marcó del Pont ging kürzlich auf das € 800-Mrd.-Aufrüstungsvorhaben der EU ein. Er sprach von der «Rentabilität der Angst», der zwar absurden, aber pausenlos geschürten Angst, dass die Hunnen (Putin) das demokratische Europa besetzen wollen. Eine gewinnbringende Angst. 

Del Pont schreibt, die «Verschiebung der Prioritäten spiegelt sich auch auf den Finanzmärkten wider. Europa hat aufgehört, in die so genannten ‘Magnificent Seven’ (Apple, Amazon, Alphabet, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) zu investieren, die 2025 einen Rückgang von 8 % hinnehmen mussten. Stattdessen haben die europäischen Rüstungsaktien einen Boom erlebt. Rheinmetall beispielsweise hat im Jahr 2025 um 80% und in den letzten drei Jahren um fast 1’350% an Wert gewonnen. Dasselbe gilt für andere grosse Unternehmen des Sektors.»

«Was der Öffentlichkeit jedoch eher verborgen bleibt, ist dass das Narrativ der europäischen Rüstungsausgaben letztlich den Vereinigten Staaten zugutekommt. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) haben die europäischen NATO-Staaten - darunter Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und 26 weitere - ihre Waffeneinfuhren seit 2020 verdoppelt. Die USA sind der Hauptlieferant: 64 Prozent der von diesen Ländern beschafften Waffen stammen von US-Unternehmen. Und mit den anstehenden Verkäufen wird diese Abhängigkeit weiter zunehmen. Von den 326 Milliarden Euro an Militärausgaben fliessen rund 250 Milliarden in den militärisch-industriellen Komplex der USA. Ein rundes Geschäft.»

«Geschäft ist Geschäft. Auch wenn es blutig ist. Das geht so weit, dass eines der zentralen Dogmen der neoliberalen Orthodoxie - das Haushaltsgleichgewicht - gelockert wird, wenn es um Militärausgaben geht. (…) Am selben Tag, an dem der ReArm Europe-Plan angekündigt wurde, stimmte der Deutsche Bundestag einer Verfassungsänderung zu, mit der die 2009 eingeführte Schuldenbremse ausgesetzt wird. Das neue 500-Milliarden-Euro-Paket soll für Infrastruktur, Klimainitiativen und natürlich für die Verteidigung ausgegeben werden.»

«Kurzum, es scheint, dass bestimmte wirtschaftliche Grundsätze - wie das Haushaltsdefizit - relativiert werden können, wenn das Geschäft mörderisch ist. Was wirst du denken, wenn dir gesagt wird, dass die Ausgaben für Gesundheit oder Bildungdie öffentlichen Finanzen belasten? Oder deine Rente für das Haushaltsdefizit verantwortlich gemacht wird?»

Auf die von Trump weiter angeheizte EU-Angstmache in Sachen «Putin ante portas» geht auch der britische Ökonom Michael Roberts auf seinem Blog ein (From welfare to warfare: military Keyensianism) Der «UK-Premier Keir Starmer und ein früherer Chef des MI 5 behaupten beide», nach einem russischen Sieg in der Ukraine gehe es nicht lang, bis russische Truppen «auf britischen Strassen» seien.  «Bronwen Maddox, die Leiterin von «Chatham House, dem aussenpolitischen ‘Think Tank’, der hauptsächlich die Standpunkte der britischen Militärstaates vertritt, startete die Sache mit der Behauptung, dass Verteidigungsausgaben ‘den grössten Nutzen’ im Kampf Demokratie versus Autoritarismus bringen.» Das koste allerdings etwas, sagte die Denkerin: «Im nächsten Jahr und darüber hinaus müssen sich die Politiker darauf einstellen, das Geld mit Kürzungen von Krankengeld, Renten und Gesundheitswesen» hereinzuholen.

Roberts zitiert den Kolumnisten der Financial Times, Janan Ganesh so: «Europa muss den Welfare-Staat kürzen, um den Warfare-Staat aufzubauen (…) Wie, wenn nicht mit einem kleineren Wohlfahrtsstaat soll ein besser gerüsteter Kontinent finanziert werden?» Und: «Wer immer unter 80 ist und das Leben in Europa verbracht hat, kann dafür entschuldigt werden, einen gigantischen Wohlfahrtsstaat als natürliche Sache anzusehen. Tatsächlich war er das Produkt eigenartiger historischer Umstände, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeherrscht haben und das nicht mehr tun.» Roberts Kommentar: «Ja, genau, die Errungenschaften für arbeitende Menschen im goldenen Zeitalter waren die Ausnahme von der kapitalistischen Norm (‘eigenartige Umstände’).»

Die EU-Aussenkommissarin Kaja Kallas hat das Globale im Blick: «Wenn wir gemeinsam nicht fähig sind, Druck auf Moskau auszuüben, wie sollen wir dann behaupten, China besiegen zu können?» Auch der ehemalige EU-Chef und heutige polnische Ministerpräsident Donald Tusk ist auf der Höhe der Zeit: Polen «muss die modernsten Möglichkeiten wahrnehmen, auch bezogen auf Atomwaffen und andere nicht-konventionelle Waffen.»

 

Mitmarschieren, aber fest alternativ

Soweit Roberts. Diese EU- Propagandaszenarien werden medial unablässig wiedergekäut: Reicht der französisch-britische Atomschild oder braucht Deutschland eigene Atombomben, wer sonst noch? Vorbei die Frage, wie ein Atomkrieg oder ein anderer ABC-Krieg (s. Tusks «nicht-konventionelle Waffen») zu vermeiden sei, dafür erkennbar das Grübeln, wie ihn gewinnen?

Und die «Linke»? Ähm, ja, man diskutiert mit. Zum Beispiel Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP. Auch er weiss genau: «In der Ukraine wird um die Sicherheit Europas gekämpft.» Also muss die Schweiz mitmachen dabei, mit Geld. Woher das nehmen? Von den eingefrorenen Geldern der russischen Zentralbank. Das war vor zwei Jahren noch tabu, aber hey, gehen wir mit der Zeit! (Einzig unklar, warum nicht Gelder von US- oder EU-Oligarchen wegen Krieg und Völkermord enteignet werden.) Aber zurück zum Thema: «Die Ukraine muss auch militärisch mit allem unterstützt werden, was sie braucht.» Die NZZ sagt Wermut, ein Parteikollege habe gesagt, «die Schweiz müsse sich verteidigen können, wenn sie angegriffen werde.» Die klare Antwort des SP-Co-Chefs: «Wer sieht das nicht so?» 

Ok, Cédric will nicht planlos aufrüsten: «Zuerst muss klar sein, welchen Teil wir zur europäischen Sicherheitsarchitektur beitragen und was es überhaupt braucht (…) Aber ohne zusätzliches Geld für die Armee werden wir nicht sicherer.» Es geht nicht nur um Geld. «Vielleicht können wir uns dereinst an Friedenstruppen wie in Kosovo beteiligen.» Jetzt nämlich, mit Putin dem Drohenden, «müssen wir endlich unseren Beitrag leisten zur Verteidigung des demokratischen, sozialstaatlichen Europas.»

Oh je!!! Sozialstaat verteidigen? Getrieben von den «Zwängen» des Mitmachens in der Gesellschaftsverwaltung bleibt Menschen wie Cédric Wermuth, denen linke Anliegen nicht fremd sind, jetzt, wo sich die politische Lage dramatisch zuspitzt, nur noch Phantasieren. Vaterländische Heimatverteidigung? Scheisse! Aber «im europäischen Rahmen nachvollziehbar, wenn die Aufrüstung klar auf Verteidigung ausgerichtet ist.» Vaterland ist pfui, Vaterkontinent ist hurra. 1914 ist passé.

 

Das «Immerhin» der WoZ

Er ist nicht allein. Nennen wir für andere Aufrechte die WoZ. Auch hier brach wie im Mainstream nach dem Kolonialauftritt von Trump und Vance gegen Selenski das grosse Jammern über Trumps «Verrat an der Ukraine» aus. Und schlimm: «Während man in Warschau, Berlin und Brüssel die Zäsur der Ereignisse rasch begriffen hatte, blieb es in Bern auffallend still», schrieben Anna Jihkareva und Jan Jirát in der Woz vom 7. März. In der Schweiz, kritisieren sie, hat man die letzten Jahre mit neutralitätspolitischer Blödelei verbracht. «Immerhin» aber habe es zwei situationelle Updateversuche gegeben. Bundesrat Cassis habe die Idee einer «kooperativen Neutralität» (gemeint Anbindung an die NATO) aufgebracht, aber so ungeschickt, dass nichts draus wurde. Profilierungszoff zwischen Viola Amherd und Karin Keller-Sutter habe den nächsten Anlauf zum Rohrkrepierer gemacht. Nämlich Amherds Studienkommission zur «’Verteidigungskooperation’ mit NATO und EU» (Zitat des eidgenössisch zertifizierten Friedensexperten Laurent Götschel, Mitglied der Kommission. Aber «immerhin, etwas Klarheit kommt derzeit aus dem Parlament. Dessen Sicherheitskommission forderte vom Bundesrat intensivere Bemühungen zur Sicherung der Stabilität Europas.» Tolle Sache, lanciert von SP-Fabio Molina. SP-Nationalrat Jon Pult hatte auch spitzgekriegt, dass mit Trump «für Europa erstmals die Möglichkeit besteht, sich von den USA unabhängig zu machen und als eigenständiger Akteur zu behaupten.» Wonach, wenn nicht danach dürstet es die Welt? 

WoZ-Redakteur Kaspar Surber: «Die vielgerühmte ‘transatlantische Partnerschaft’ diente den reichen Staaten stets auch zur Durchsetzung ihrer Interessen im Globalen Süden», aber auch «als Fixpunkt der Ordnung seit 1945, dass der Schwächere vor dem Stärkeren geschützt werden soll». Wie könnte die globale Wahrnehmung des transatlantischen Wütens dialektisch besser gefasst werden? Dafür kein Begriff, dass diese «Partnerschaft» heute einer neuen Art der Durchsetzung besagter «Interessen» (nicht «nur» im globalen Süden) weichen soll. Aber Europa lockt mit der in Aussicht gestellten «Zusammenarbeit von demokratischen Staaten».

Eine Woche später etwas Erleichterung in der WoZ. USA und Ukraine beschliessen die Wiederaufnahme der von Trump kurz sistierten Waffenlieferung. Die Schreiberin weiss: «Immerhin ein Hoffnungsschimmer für die Menschen im kriegsversehrten Land.» Das gegenseitige Abschlachten vor allem junger Männer – jeweils für die Freiheit – geht weiter. In der gleichen Nummer feiert auch Hanna Perekhoda, Mitglied in Sozialniy Ruck, dem ukrainischen Ableger der sog. 4. Internationalen, Europa. Auch sie bekennt sich zu linken Forderungen: gegen die «Kürzung von Sozialausgaben», für «Gerechtigkeit und Sicherheit». Ihr Vorschlag: «Statt dass jede Nation ihr eigenes Militärbudget aufstockt, könnte Europa auch seine kollektiven Sicherheitsmechanismen stärken. Zwingend muss dabei die Energiesicherheit als Teil der Militärstrategie betrachtet werden: Indem wir die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen verringern, verhindern wir auch künftige wirtschaftliche Erpressungen durch Russland.» Freier Markt statt Erpressung.

Damit die Europa-Lektion sitzt, interviewen Anna Jikhareva und Jan Jirát eine EU-Parlamentarierin der finnischen Linksallianz (WoZ 12, 20.3.25). Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine sei die Anti-NATO-Stimmung im Land und auch in ihrer Partei gekippt. Aber sie sei immer noch für ein Atomwaffenverbot, beim NATO-Eintritt habe niemand deren Atomkriegsdoktrin ernst genommen. Die Wehrpflicht würden jetzt auch die Jüngeren akzeptieren, die murren aus Gleichstellungsgründen, dass sie nur für Männer gelte. Trumps Kumpanei mit Putin sieht sie als «historische Chance, um die Abhängigkeiten von den USA zu verringern.» Europa sei auf gutem Weg; was früher als linksradikal gegolten hätte, werde jetzt oft gesagt. Beispiel: das EU-Parlament fordere die Möglichkeit für Europa, «innerhalb der NATO ohne die USA autonom zu handeln.» Die radikale Linke setzt sich durch! «Für uns als Linke ist wichtig, dass sich die NATO auf ihre Ursprungsmission fokussiert: die Verteidigung.» Good old NATO.

Dass die WoZ solche Absurditäten weiter verbreitet, spricht Bände von einer rasanten Abwärtsfahrt. Es geht um eine Art eigene Gehirnwäsche bei nicht wenigen Progressiven. Sie funktioniert prinzipiell so: Verniedliche Machtverhältnisse, bis sie vergessen werden. Europa ist nämlich nicht der Ort, an dem staatliche Sozialleistungen reduziert und abgeschafft werden; nicht eine weiter funktionierende Kolonialzentrale. Du füllst die Leerstelle mit Phantasien und Versprechen auf Schönes und Menschenwürdiges. Später kommt die Anpassung an nicht beeinflussbare «Fakten», du lässt dich dann mit einem Butterbrot kaufen.

Die Unfähigkeit zu begreifen, dass «Stellvertreter»-Kriege wie in der Ukraine allen Vertretenen angelastet werden müssen, ist verheerend. Sicher, einmarschiert sind russischen Soldaten. Keine Entschuldigung dafür. Nur ist auch gut dokumentiert, dass führende Kräfte des Westens den kommenden Krieg diskutiert hatten. Das alles zu ignorieren und ihre Aussagen als Geschwätz abzutun, verrät Duckmäusertum vor den Kriegstreibern im «eigenen» Lager. Sag NATO-Osterweiterung, und die BellizistInnen antworten, im Wissen um die stockreaktionären Mechanismen im Kreml: Krieg? Also los! Doch WoZ und ähnliche Kreise haben es nie geschafft, auch nur für flüchtende Kriegsverweigerer beider Seiten einzustehen.

Die russische Kriegsführung in der Ukraine zeugt von Barbarei. Kein Wunder, versuchen viele Menschen in der Ukraine, sich dagegen zu wehren. Andere, nicht nur im Donbas, wollen ein Ende des Selensky-Regimes. In der Ukraine will kaum wer einen Endloskrieg. Doch wovon zeugen die Daueraufrufe zur Fortsetzung des Kriegs bis zum Sieg? Von weniger Barbarei?

Es stimmt, wir scheinen machtlos gegenüber dem Treiben der Herrschenden in der Ukraine. Aber mitmachen ist das Gegenteil einer Option. Was jetzt «eingeübt» wird, soll gigantisch werden. Die Richtung ist klar. In Palästina wollen USA/Israel offen die Gesellschaft vernichten, im Kongo geht das Massenmorden für den Rohstoffhandel über Genf oder die Emirate weiter. Dagegen hilft kein «Europa», im Gegenteil, dagegen kann nur eine Tendenz zur globalen Gemeinsamkeit eine Perspektive bieten. Etwas anderes als «Europa» hochhalten.

Deshalb nach wie vor:

Brick by brick, wall by wall

Make the Fortress Europe fall.