USA: Terror und Widerstand in Chicago und Kopfgeldjäger gegen MigrantInnen

Montag, 3. November 2025

 

(zas, 3.10.25) In ICE Is Terrorizing Chicago for Halloween—and Parents Are Fighting Back beschreibt die Journalistin Meredith Shiner am 31. Oktober Episoden aus der Menschenjagd in Chicago. Der Untertitel lautet “War on Kids”.

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In Broadview, einem Vorort im Westen, war der Konflikt zwischen der Trump-Regierung und den EinwohnerInnen Chicagos noch dramatischer und führte kürzlich zur böswilligen strafrechtlichen Anklage von vier demokratischen Politikern, die vor der dortigen ICE-Haftanstalt protestiert hatten. Der Terror, der über die Stadt als Ganzes ausgeübt wird, ist jedoch eher willkürlich und diffus: ein auf dem Parkplatz eines Baumarktes entführter Vater, dessen 15-jährige Tochter gegen Krebs im Stadium 4 kämpft; ein Schüler, der nie in seiner Klasse an der Benito Juarez High School aufgetaucht ist; ein Landschaftsgärtner, der in einer Wolke aus Tränengas aus einem Garten in einem der weissesten und wohlhabendsten Viertel der Stadt verschleppt wurde; ein Nachtmanager eines Comedy-Clubs, der vor den Augen seiner Mutter zu Boden geworfen und stundenlang festgehalten wurde; Tamales-VerkäuferInnen, die von der Strasse weggezerrt wurden; zwei Frauen, die vor den Augen von Eltern und Schülern aus ihrem Auto gezogen wurden, als sie ihre Kinder von der Schule abholten.

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Viellicht ging es im Haufen anderer entsetzlicher Schlagzeilen unter, aber nachdem Bundesbehörden just vor einer Parade auf der Northwest Side Tränengas versprühten, musste eine Bezirksrichterin unserer Bundesregierung erläutern, dass Kinder, die in Festkleidern daherkommen, nicht mit Tränengas besprayt werden sollen. Bezirksrichterin Sara Ellis sagte dem Grenzwache-Chef Gregory Bovino: «Kids in  Halloween-Kostümen unterwegs zu einer Parade stellen keine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit eines Gesetzeshüters dar. Diese Kids - man kann sich vorstellen, dass ihr Sicherheitsgefühl am Samstag zerstört wurde, und es wird lange dauern, bis es zurückkommt, falls überhaupt.»

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Ich würde sagen, dass in Amerika, wo geschätzt 3 Millionen Kinder jedes Jahr einer Schulschiesserei ausgesetzt sind, wo 16 Millionen Kinder, die auf Regierungsunterstützung fürs Essen angewiesen sind, riskieren, im unbegrenzten Regierungs-Shutdown diese Unterstützung zu verlieren; wo frühzeitige Kindeserziehung nicht allgemein ist – dass es nichts Ernsthafteres oder Schlimmeres gibt als wenn eine Regierung Sicherheit zur Decke und nicht zum Boden für unsere Kinder macht.

Eine dysfunktionale Regierung hat eine sichere, behütete und glückliche Kindheit zum Privileg, nicht zum Recht gemacht. Wenn ihr je wegen Regierungsuntätigkeit angesichts der Schulschiessereien und des damit verbundenen Traumas empört wart, solltet ihr auch über die Form des sich jetzt in den US-Städten ereignenden randomisierten [zufällig zuschlagenden] Terrors und kollektiven Traumas entrüstet sein. Kids und Eltern werden entführt, wobei die Regierung nicht einfach zuschaut. Sie organisiert die Entführungen.

In Chicago wird zunehmend klar, dass auch Leute, die bisher politisch nicht aktiv waren, die Schnauze voll haben. Sie nehmen die Sache in die eigenen Hände und beschliessen, dass wo die Regierung unseren Kindern Terror zeigen will, sie ihnen Anteilnahme, Gemeinschaft und Freude zeigen wollen.

Hier kommen die Schulbeobachtungsgruppen beim Bringen und Abholen der Kinder ins Spiel. In der ganzen Stadt finden auch Halloween-Süssigkeitenaktionen statt, beispielsweise im 30. Bezirk von Chicago, wo das Büro des Stadtrats mit lokalen Kirchen und Schulen zusammenarbeitet, um Süßigkeiten für Kinder und Familien zu sammeln und zu verteilen, die sich nicht aus ihren Häusern trauen. Kürzlich nutzte eine Nachbarin einen Elterntag in einer Grundschule im Nordwesten Chicagos, um eine der vielen „Whistle Packing”-Partys zu veranstalten, die überall in der Stadt aus dem Boden geschossen sind. Ziel dieser Partys ist es, Pfeifen und Anleitungen im Zine-Stil zu verteilen, die erklären, wie man andere alarmieren kann, wenn man ICE-Beamte sieht.

Beispiel für Zine-Stil 

 

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Kopfgeldjäger

In The Intercept (ICE Plans Cash Rewards for Private Bounty Hunters to Locate and Track Immigrants) beschreibt Sam Biddle eine weitere Dimension des trumpistischen Terrorskripts: den Einsatz von Kopfgeldjägern gegen MigrantInnen. Wie bitte? So – allerding nicht wie im Italowestern, wo Bösewicht Leute für Geld abknallt. Jedenfalls noch nicht. Heute muss er sie aufspüren und den Schwadronen der US-AntimigrantInnenbehörde ICE melden. Die operieren immer mal wieder so: Schwervermummte Bewaffnete ohne Erkennungszeichen stürzen aus dem Wagen ohne Nummernschild, packen jemanden und werfen ihn/sie in den Wagen, der gleich abfährt. Das Opfer verschwindet im explosiv expandierenden US-Gulag. So wie das die US-gesponserten Todesschwadronen in Lateinamerika schon vor Jahrzehnten taten. Also dort, wo die Opfer hauptsächlich herkommen …

Wie spürt Bösewicht die potenziellen Opfer auf und wer ist er überhaupt? Biddle erklärt es auf der Basis eines Dokuments des Department of Homeland Security: «U.S Immigation and Customs Enforcement (ICE) überlegt sich, private Kopfgeldjäger anzuheuern, um landesweit MigrantInnen zu lokalisieren. Dem Dokument zufolge, das Angaben von Interessierten an möglicherweise bevorstehenden Vertragsgelegenheiten anfordert, werden angeheuerte Unternehmen Informationsbündel zur Lokalisierung von jeweils 10'000 MigrantInnen erhalten, mit ‘Erhöhungen von 10'000 bis zu einer Million’ bei folgenden Aufträgen». Die Bezahlung erfolgt je nach Erfolgsquote der Vertragsnehmer. Weiter ist im Dokument zu lesen, dass ICE «eine anreizbasierte Preisstruktur untersucht». Biddle erklärt: «Zum Beispiel sagt ICE, dass Vertragsnehmer einen Bonus für die Erstellung einer korrekten Adresse einer Person im ersten Anlauf oder für das Auffinden von 90 Prozent der Ziele innert einer bestimmten Frist erhalten können.»

ICE klopft an die Tür...

 

«Das Dokument», so Biddle, «ähnelt stark einem Plan, der Berichten zufolge von einer Gruppe von militärischen Vertragsnehmern, darunter der ehemalige Blackwater-CEO und Trump-Verbündete Erik Prince, in Umlauf gebracht wurde. Im Februar berichtete Politico, dass Prince und andere laut den dem Medium vorliegenden Unterlagen auf die Bildung einer privaten Initiative zur Lokalisierung von EinwanderInnen und ein ‘Kopfgeldprogramm, das eine Geldprämie für jeden illegalen Ausländer vorsieht, der von einem staatlichen oder lokalen Strafverfolgungsbeamten festgenommen wird’, drängten.»

Biddle weiter: «Der Vorschlag sah ‘Skip-Tracing’ vor, eine Methode, bei der verfügbare Informationen genutzt werden, um Personen ausfindig zu machen – etwas, wofür ICE laut einem aktuellen Bericht in The Lever bereits Aufträge in Millionenhöhe vergibt. Laut dem kürzlich veröffentlichten Beschaffungsdokument werden private Auftragnehmer der ICE bald die Wohn- oder Arbeitsadressen von Zehntausenden von Einwanderern in den USA überwachen und ihre Standorte an die Regierung melden.» Biddle zitiert aus dem Dokument: «DHS ICE hat einen unmittelbaren Bedarf an Skip-Tracing- und Prozesszustellungsdiensten unter Verwendung von durch die Regierung bereitgestellten Falldaten mit identifizierbaren Informationen, kommerzieller Datenüberprüfung und physischen Beobachtungsdiensten, um die Adressdaten von Ausländern zu überprüfen, alternative Adressdaten von Ausländern zu untersuchen, den neuen Aufenthaltsort von Ausländern zu bestätigen und gegebenenfalls Materialien/Dokumente an Ausländer zu liefern

Biddle weiter: «Die von ICE bereitgestellten Daten umfassen ‘Falldaten’ der Regierung, Standortdaten, Informationen aus sozialen Medien sowie ‘Fotos und Dokumente’, die zeigen, wo eine Person lebt oder arbeitet. Mit diesen Informationen überwachen die Auftragnehmer ihre Zielpersonen, um die Richtigkeit ihrer Wohnadresse zu bestätigen, einschließlich ‘zeitgestempelter Fotos des Standorts’, bevor sie ICE Bericht erstatten.»

Falls die Wohnadresse nicht eruierbar ist, dient auch jene des Arbeitsplatzes. Damit die Vertragsnehmer dabei Erfolg haben, können sie auch «Von der Stange»-Überwachungstechnologie einsetzen, einschliesslich, zitiert Biddle, «verbesserter Standortrecherche, die automatisierte und manuelle Echtzeit-Adressermittlung umfasst».

Biddle weiter: «Überwachungstools, die Standortdaten von Mobiltelefonen erfassen und verfolgen, sind auf dem privaten Markt weit verbreitet, viele davon werden bereits von der ICE eingesetzt.»

Noch eine Bemerkung: Erik Prince, der erwähnte Trump-Kumpel für Paramilitärisches, hat unter anderem Sicherheitsaufträge vom Regime in Ecuador, wo in der letzten Zeit extreme Militäroperationen gegen Indigene laufen. In Haiti hat Prince offenbar einen Vertrag mit dem Weissen Haus für Sicherheitseinsätze; mutmasslich ist er in die Umsturzplanung in Venezuela eingebunden. 

Haiti. Bild aus einem Artikel einer ecuadorianischen Zeitung zum thema Pirnce in Haiti.

 

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