Angst vor den Opfern

Dienstag, 26. Januar 2010

Kim Ives*

Der kleine weisse Helikopter war in einem Feld gleich hinter der Polizeistation von Léogâne gelandet. Hunderte von HaitierInnen hatten sich um ihn in einer Mischung von Neugier und Vorfreude versammelt. Das war der erste Helikopter, der gelandet war. In den vergangen Tagen waren viele über die Stadt hinweg geflogen. Aber kurz nach der Landung hob der Heli wieder ab und begann, in einer Höhe von etwa 150 Fuss über dem Feld Kreise zu ziehen. Dann ging eine Tür auf und jemand warf kleine Pakete hinaus.

Eines dieser Pakete flatterte herunter und blieb hoch oben in den Ästen eines Baumes hängen. Ein anderes plumpste in den Hinterhof der Polizeistation, wo Dutzende von jungen Community-Aktivisten ein Treffen von hohen Tieren mit dem Bürgermeister von Léogâne, Alexis, Santos,  und einem Funktionär des haitischen Innenministeriums verfolgten.

Das Paket enthielt Brötchen. Als die jungen Community-Aktivisten das sahen, gingen sie in die Luft.

„Das ist total empörend“, sagte Alex Estimé, ein junger Mann, der die letzte Woche damit verbracht hatte, seine Gemeinschaft zu organisieren, um Körper aus dem Schutt der Stadt auszugraben, wo schätzungsweise 80 Prozent der Gebäude zerstört worden sind. „Dies ist pure Demütigung. Ein Erdbeben ist ein Unglück, das jedem Land zustossen könnte. Würden sie Andere so behandeln? Nein. Das ist wie einem Hund einen Knochen hinzuwerfen. Wir wollen ihr stinkendes Brot nicht“. Sprachs und trampte auf dem Paket herum. Andere Männer traten auch danach.

Die Männer schüttelten ihre Fäuste und riefen Beleidigungen zum weiter seine Kreise ziehenden kleinen weissen Heli, aus dem weiter Brotpakete hernieder fielen. Miguel Joseph, ein Community-Leader und Direktor eines lokalen Radiosenders, sagte, die Hilfelieferung sei das Werk der Mormonenkirche.

„Diese Art der Hilfe ist völlig inakzeptabel“, sagte Max Mathurin, der frühere Chef des Conseil Électoral Provisoire, der die Wahlen von 2006 organisiert hatte. Als Ortsansässiger war er am Treffen mit dem Bürgermeister dabei. „Im Verlauf der letzten Woche habe ich mehrmals um einen Bagger gebeten, der hätte helfen können, Leute aus dem Schutt auszugraben und Leben zu retten“, klagte er. „Etwas so einfaches von unserer Regierung oder der UNO zu erhalten, war unmöglich. Das war eine Beleidigung. Jetzt ist dieser Helikopter die Beleidigung“.

In mancher Hinsicht stand der angeblich mormonische Heli mit seinen Nahrungabwürfen für die Art und Weise, wie die USA und die UNO dem haitischen Volk Hilfe bringen. Léogâne befand sich nur fünf Meilen vom Epizentrum des Bebens entfernt und weist vermutlich den grössten Schaden aller haitischer Städte auf. Aber am gleichen Tag hatte die UNO zuvor angekündigt, dass sie erst Hilfe nach Léogâne bringen könne, wenn die Sicherheit gewährleistet sei.

„Ich weiss nicht, was für eine Sicherheit sie herstellen müssen“, antwortete Roland St. Fort, 32-jährig, ein anderer Community-Leader der Stadt. „Es hat hier keine Krawalle gegeben. Die Leute sind sehr diszipliniert. Sie errichten ihr eigenes Sicherheitssystem rund um die Lager im Freien“.

Überall in der Hauptstadt, wo angeblich Sicherheit hergestellt worden ist, fahren Tausende von Truppenangehörigen der U.N. Mission to Stabilize Haiti (Minustah) in gepanzerten Fahrzeugen mit auf die HaitierInnen gerichteten Gewehren herum, genau so wie vor dem Erdbeben. UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon gab als Ergänzung der 9000 Truppenangehörigen die Entsendung von weiteren 3500 bekannt.

Zusätzlich marschierten 12'000 US-Soldaten diese Woche in Haiti auf. Die 82. Luftlandedivision legte, als sie am 19. Januar ankam, das Hôpital Général (HUEH) lahm, indem sie Opfer, Angehörige und Medienleute während einer Stunde wegwiesen, bis die Spitalverwaltung intervenierte und die Lage entspannte. Mit ihren M-16, die sie vor dem Spital handhabten. Schafften sie es, das Chaos zu vergrössern, statt zu reduzieren, indem sie den HaitierInnen, versuchten, das Spital, das ihnen theoretisch gehört, zu betreten, auf Englisch anherrschten. Viele hatten Hilfe gebraucht oder kamen, um für ihre Angehörigen zu sorgen. Die Spitalküche, gleich neben der einen Gestank verströmenden Leichenhalle gelegen, ist immer noch geschlossen.

Im Gegensatz dazu sind viele der 500 kubanischen ÄrztInnen, die in Haiti arbeiten, in ganz Port-au-Prince ausgeschwärmt, vor allem im grossen Flüchtlingslager auf dem Champ de Mars im Stadtzentrum. Dort haben sie kleine, mit einer kubanischen Flagge gekennzeichnete, Kliniken aufgestellt, um für die vielen Erdbebenopfer zu sorgen. Dr. Evan Lyon zufolge, der zur Zeit das HUEH leitet, profitieren rund 40'000-50'000 Leute auf dem Platz massiv von dieser Hilfe. Die kubanischen ÄrztInnen führen ihre Arbeit ohne Bewachung durch behelmte Männer mit Gewehren aus. „Die kubanischen ÄrztInnen sind eine sehr wichtige Ressource“, sagte er.

In der Zwischenzeit macht am Matthew 25 Hospitality House in Delmas 33 unter einer Gruppe kürzlich angekommener nordamerikanischer ÄrztInnen, die für 500, auf einem Fussballfeld nebenan einquartierte Erdbebenflüchtlinge sorgen, eine Anekdote die Runde. Auch sie schaffen es, lebensrettende Operationen und Pflege ohne militärische Bewachung durchzuziehen. Die das Haus leitende Schwester Mary Finnick berichtete von einem ankommenden Arzt, der berichtete, wie er gesehen hatte, wie riesige Mengen Gewehre durch den Flughafen Mais Gaté durchgebracht wurden, den die US-Armee übernommen hat und leitet.

„Sie sollten mehr Verbandsstoff bringen, nicht mehr Gewehre“, meinte einer der Ärzte bei dieser Nachricht.
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* haitianalysis.com, 26.1.2010: Fearing the victims, some aid givers use helicopters and guns. Kim Ives gibt das Blatt Haiti-Liberté heraus und gehört zu den Gefolgsleuten des 2004 gestürzten Präsidenten Aristide.