Haiti: „Wir brauchen Solidarität, nicht Wohltätigkeit“

Sonntag, 23. Mai 2010

Auszüge aus einem Interview mit Dukens Raphael, Generalsekretär des haitischen Gewerkschaftsbundes Confédération des Travailleurs des Secteurs Public et Privé (CTSP), das während der Jahreskonferenz vom letzten April der Canadian Union of Public Employees (CUPE), Sektion British Columbia, geführt und am 28.4.10 auch in „Haiti Liberté“ veröffentlicht wurde (We’re looking for solidarity, Charity we’re not interested in).

Port-au-Prince, 1.5.10: CTSP-Demo für besser Lebens- und Arbeitsbedingungen. Foto:  Public Service Internaitonal.

D.R.: Etwa zwei Millionen leben in Zelten. Es gibt viel Kriminelle und Unsicherheit. Die Leute sind nicht in Sicherheit. Wenn sie in riesigen Zeltlagern leben, stehlen die natürlich Sachen, es gibt Promiskuität etc. Aber das Härteste für die Leute ist die Angstpsychose, denn die Regenzeit hat schon eingesetzt. Wenn der Regen kommt, halten die Zelte nicht. So fängt also der Regen an, und gleich anschliessend, im Juni, kommt die Hurrikansaison. Wir gehen davon aus, dass die Situation schlimmer wird. Die Reaktion der Leute in der Regierung bestand darin, statt mit robusteren Zelten, die auch in dieser Saison standgehalten hätten, aufzuwarten, Millionen von Dollars für normale Zelte auszugeben. Die werden nichts taugen.

[…] CUPE: Ist denn die Regierung, die ja selbst ein Durcheinander hat, überhaupt im Stande zu helfen?

D.R.: Es stimmt, dass viele Regierungsgebäude eingestürzt sind.  Und sie hat einige Menschenleben verloren, ja. Aber die Regierung hat die Pflicht, diese Dinge zu lenken, Verantwortung zu übernehmen, zu regieren. In den internationalen Medien kommt viel über dieses  „Durcheinander“, und die Regierung benützt es als Entschuldigung, um nicht die volle Verantwortung zu übernehmen. Aber dennoch gibt es einen Präsidenten, einen Premier und MinisterInnen, die immer noch ihr Salär beziehen. Also sollen sie ihre Arbeit machen. Wenn sie es nicht können, sollen sie zurücktreten. Was ich am meisten fürchte, ist, dass wir bei einer Volksrevolte enden könnten. Die Leute können nachts nicht schlafen. Niemand begleitet sie. Das Risiko ist, dass wir sehen werden, dass die Leute auf der Strasse ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen.

[Der Gewerkschafter erläutert, dass das einzig Positive an der Situation sei, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre Differenzen hintan gestellt hätten und zusammenarbeiteten.] Das Problem ist, dass die Regierung sie [die zivilgesellschaftlichen Organisationen]  schlicht ignoriert und nicht arbeitet. Zum Beispiel legte die haitische Regierung am 31. März in New York einen Plan für den Wiederaufbau vor [s. dazu Entwicklungskolonialismus II aus Correos 161]. Aber es gab vorher keine Debatte, keinen Input der Zivilgesellschaft. Stattdessen zwingen sie uns einen Plan auf. Leider kann ich ziemlich fest garantieren, dass er nicht funktionieren wird.

CUPE: Was sagst du nach diesen Tagen des Gewerkschaftstreffens den internationalen Organisationen, wie sie die Hilfe- und Wiederaufbauanstrengungen unterstützen können?

Was den Wiederaufbau betrifft, sagen wir klar,. Dass er zuerst und vor allem von den HaitierInnen kommen muss. Wir müssen entscheiden, was wir brauchen, dann werden wir euch um Hilfe bitten. Mag sein, dass wir Expertise, Know-how benötigen, aber zuerst müssen wir das entscheiden. Es liegt nicht an den Amerikanern und der internationalen Gemeinschaft zu entscheiden, was wir brauchen. Ich sitze hier mit euch zusammen und kann euch aber nicht sagen, was im Wiederaufbauplan drin ist.

[…] Nach Haitis Unabhängigkeitserklärung widersetzten sich die USA der Aufnahme Haitis in den Congress of Nations, Sie wollten Haiti nicht als Nation anerkennen. Frankreich liess Haiti für die Anerkennung zahlen, 150'000 Goldstücke, die heute $20 Mrd. entsprechen. Aber das ist eine andere Diskussion. Man sagt, Haiti sei ein armes Land. Das ist es nicht. Es ist das am meisten ausgebeutete Land. Alle unsere Bodenschätze wurden gestohlen. Ich mag das amerikanische und das französische Volk, aber ihr müsst die von den Kolonialmächten begangenen historischen Ungerechtigkeiten anerkennen.

CUPE: Und wenn sie das nicht machen, werden sie auch nicht erkennen, wie sie heute das gleiche Muster wiederholen?

D.R.: Genau. Die letzten beiden Staatsstreiche – der von 1991, der drei Jahre dauerte, bis zur Rückkehr von Aristide 1994, und der folgende – zeigen das. Aristide hat eine Menge Fehler gemacht, aber das berechtigte nicht dazu, den demokratisch gewählten Präsidenten zu stürzen. Und wir auch jetzt keinen Putsch. Wir sind gegen die Politik von René Préval, aber wir wollen, dass er sein Mandat zu Ende bringt, so dass nach seinem Abgang der demokratische Prozess weitergeht.

CUPE: Kam von internationalen Gewerkschaften eine Hilfe?

D.R.: Ich kann nur für meine Organisation sprechen. Wir erhielten viel moralische Unterstützung, aber sehr wenig konkrete.