Brasilien: Regierung köpft Landreform

Dienstag, 22. Januar 2013



(zas) „Die Landreform ist als Entwicklungspolitik aufgegeben worden, an ihre Stelle ist das Agrobusiness getreten“. So beginnt ein Artikel von Raúl Zibechi in der mexikanischen Zeitung „La Jornada“, der hier zusammengefasst wird.  Die PT-Regierung von Dilma Rousseff betreibe eine Veränderung des Landreforminstituts INCRA mit dem Ziel, „es zu dezentralisieren, um landbesitzende Bauern in Sachen Häuser, Strom und Produktionshilfe zu betreuen. Es geht, so das Blatt O Estado de São Paulo, um eine Verwaltungsmodernisierung des INCRA, die an eine sukzessive Änderung des Profils der Agrarreform  gekoppelt ist. Das kann zusammengefasst werden als Produktionsunterstützung mit Integration der Kleinproduzenten ins Agrobusinness (O Estado de São Paulo, 5.1.13)“.
Von 2011 bis 2012 sei das INCRA-Budget für Landenteignungen um 11.5 Prozent zurückgegangen, während der Posten für technische Assistenz um 123 Prozent zugenommen habe.  Das rechte Blatt aus der Wirtschaftsmetropole feiere das Ende einer Politik „ruraler Favelas“, als welche die legalisierten Siedlungen der Sozialbewegungen oft geendet haben.
„Seit Beginn der Regierung Lula vor zehn Jahren stellte das Agrobusness eine schlagende Option für den PT dar, mit dem Argument, dass der Export von ‚commodities‘ einen für das Land günstigen Handelsüberschuss generiert. Die Reprimarisierung der Exporte und der Rückgang der industriellen Exporte haben die Regierung nicht dazu bewogen, ihre Politik der Favorisierung des Agrobusiness als Lokomotive der Wirtschaft und der Transformierung der Agrarreform in eine Assistenzpolitik aufzugeben“.
João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST „hat betont, dass 150‘000 Familien in Camps für Land kämpfen und vier Millionen arme Familien auf dem Land vom Sozialprogramm Bolsa Familia abhängen, um nicht Hunger zu leiden. Zudem werden 85 Prozent der besten Ländereien des Landes für GVO-Soja und –Mais und für Zuckerrohr verwendet; 10 Prozent der Eigentümer von mehr als 500 ha kontrollieren 85 Prozent der für den Export ohne Wertzuwachs bestimmten landwirtschaftlichen Produktion. Am Schlimmsten ist, dass Brasilien 5 Prozent der globalen Agrarproduktion erbringt, aber 20 Prozent der weltweit eingesetzten Agrarchemikalien verbraucht“.
Die Landpostorale CPT betont, dass „sich das Agrobusiness als erste Wahl der Regierung für die Landwirtschaft durchgesetzt hat und denunziert die Nichtbeachtung der traditionellen Völker, darunter die dreitausend Comunidades quilombas (Afrika-stämmig), wo sich die Gewalt des Agrobusiness konzentriert hat, um sie von ihrem Land zu vertreiben“.
Um diese neue Agraroffensive zu parieren, „wäre eine Welle der Mobilisierungen wie in der 1970 Dekade nötig.  Aber jetzt desartikulieren die Sozialmassnahmen die Bewegungen, wobei hinzukommt, dass ihnen höchstens Brosamen in Form von Produktions- und Wohnungskrediten offeriert werden … An dieser Stelle, denke ich, haben uns die zapatistischen Comunidades etwas zu lehren. Es ist nicht mehr möglich, auf den Staat als Garanten für Ernährung, Wohnung, Erziehung, Gesundheit und alles, was die Volkssektoren fürs Überleben brauchen, zu zählen. Diese Epoche ist Geschichte, beerdigt vom Kapital, als es beschloss, sich des Wohlfahrtsstaats und der nationalen Souveränität als störende Elemente für die Kapitalakkumulation zu entledigen, die heute Akkumulation mittels Krieg ist. Die Bewegungen, die weiter auf den Staat setzen, um die Lebensprobleme ihrer Mitglieder zu lösen, sind dazu verurteilt, ihren antisytemischen Charakter zu verlieren“.
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(Kommentar ZAS) Die Tendenz der PT-Agrarpolitik, BäuerInnen zu neuen Peones des Grosskapitals zu machen, wird von der brasilianischen Linken schon lange kritisiert. Sie ist nun gewissermassen offizialisiert worden.  Eine im Kern enorm brutale,gewalttätige Politik, wie sie im städtischen Bereich als „Modernisierung“ mit Blick auf den aufziehenden Olympiaden- und WM-Terror umgesetzt wird (vgl. „Wir haben einen unerklärten Krieg, es ist ein Klassenkrieg“) . Die Schlussfolgerung Zibechis, ganz auf seiner „autonomistischen“ Linie, dass für eine Veränderung die Bewegungen besser den Staat vergessen und auf Eigenhilfe setzen, ist allerdings gefährlich. Er verweist auf die zapatistischen Mobilisierungen von Ende 2012 (s. die Blogeinträge von Dezember), die immer mehr als Chiffre für eine Leistung herhalten, die zumindest nicht belegt ist. Das tut der Grossartigkeit dieser Mobilisierung keinen Abbruch. Aber die PT-Politik tut etwa auch der Grossartigkeit der Mobilisierungen vom 10. Januar 2013 in Venezuela für den „chavistischen“ Gehalt der dortigen Revolution und „ihres“ Staates keinen Abbruch. Es ist gefährlich, heute schon in der Praxis ein „Absterben des Staates“ zu postulieren, von dem keine Spur zu sehen ist. Die Frage liesse sich ja auch anders stellen: Was ist zu tun, damit ein Staat/eine Regierung nicht wie in Brasilien die Kapitalrationalität über die Unterklassen stellt?  Natürlich gibt es zahllose Beispiele für Bewegungen, die sich in staatlichen Abläufen aufreiben oder umkehren liessen. Diese Gefahr droht entsetzlich real. Sie ist nicht damit aus der Welt geschafft, dass sie verdammt wird. Nicht damit, dass die Dynamik in fünf autonomen Gemeinden in Chiapas mystifiziert wird. Wir sollten nicht den Weihnachtsbaum mit Wünschen schmücken, sondern uns denen anschliessen, die praktisch versuchen, die beiden Wege, die jeder für sich allein zwangsläufig zu Irrwegen werden, zu kombinieren.