(zas) „Die Landreform ist
als Entwicklungspolitik aufgegeben worden, an ihre Stelle ist das Agrobusiness
getreten“. So beginnt ein Artikel von Raúl
Zibechi in der mexikanischen Zeitung „La Jornada“, der hier zusammengefasst wird. Die PT-Regierung von Dilma Rousseff betreibe
eine Veränderung des Landreforminstituts INCRA mit dem Ziel, „es zu dezentralisieren, um landbesitzende
Bauern in Sachen Häuser, Strom und Produktionshilfe zu betreuen. Es geht, so
das Blatt O Estado de São Paulo, um eine Verwaltungsmodernisierung des INCRA,
die an eine sukzessive Änderung des Profils der Agrarreform gekoppelt ist. Das kann zusammengefasst
werden als Produktionsunterstützung mit Integration der Kleinproduzenten ins
Agrobusinness (O Estado de São Paulo, 5.1.13)“.
Von 2011 bis 2012 sei das INCRA-Budget für Landenteignungen
um 11.5 Prozent zurückgegangen, während der Posten für technische Assistenz um
123 Prozent zugenommen habe. Das rechte
Blatt aus der Wirtschaftsmetropole feiere das Ende einer Politik „ruraler
Favelas“, als welche die legalisierten Siedlungen der Sozialbewegungen oft
geendet haben.
„Seit Beginn der
Regierung Lula vor zehn Jahren stellte das Agrobusness eine schlagende Option
für den PT dar, mit dem Argument, dass der Export von ‚commodities‘ einen für
das Land günstigen Handelsüberschuss generiert. Die Reprimarisierung der
Exporte und der Rückgang der industriellen Exporte haben die Regierung nicht
dazu bewogen, ihre Politik der Favorisierung des Agrobusiness als Lokomotive
der Wirtschaft und der Transformierung der Agrarreform in eine Assistenzpolitik
aufzugeben“.
João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST „hat betont, dass 150‘000 Familien in Camps
für Land kämpfen und vier Millionen arme Familien auf dem Land vom
Sozialprogramm Bolsa Familia abhängen, um nicht Hunger zu leiden. Zudem werden
85 Prozent der besten Ländereien des Landes für GVO-Soja und –Mais und für
Zuckerrohr verwendet; 10 Prozent der Eigentümer von mehr als 500 ha kontrollieren
85 Prozent der für den Export ohne Wertzuwachs bestimmten landwirtschaftlichen
Produktion. Am Schlimmsten ist, dass Brasilien 5 Prozent der globalen
Agrarproduktion erbringt, aber 20 Prozent der weltweit eingesetzten Agrarchemikalien
verbraucht“.
Die Landpostorale CPT betont, dass „sich das Agrobusiness als erste Wahl der Regierung für die
Landwirtschaft durchgesetzt hat und denunziert die Nichtbeachtung der
traditionellen Völker, darunter die dreitausend Comunidades quilombas (Afrika-stämmig),
wo sich die Gewalt des Agrobusiness konzentriert hat, um sie von ihrem Land zu
vertreiben“.
Um diese neue Agraroffensive zu parieren, „wäre eine Welle der Mobilisierungen wie in
der 1970 Dekade nötig. Aber jetzt
desartikulieren die Sozialmassnahmen die Bewegungen, wobei hinzukommt, dass
ihnen höchstens Brosamen in Form von Produktions- und Wohnungskrediten
offeriert werden … An dieser Stelle, denke ich, haben uns die zapatistischen
Comunidades etwas zu lehren. Es ist nicht mehr möglich, auf den Staat als
Garanten für Ernährung, Wohnung, Erziehung, Gesundheit und alles, was die
Volkssektoren fürs Überleben brauchen, zu zählen. Diese Epoche ist Geschichte,
beerdigt vom Kapital, als es beschloss, sich des Wohlfahrtsstaats und der
nationalen Souveränität als störende Elemente für die Kapitalakkumulation zu
entledigen, die heute Akkumulation mittels Krieg ist. Die Bewegungen, die
weiter auf den Staat setzen, um die Lebensprobleme ihrer Mitglieder zu lösen,
sind dazu verurteilt, ihren antisytemischen Charakter zu verlieren“.
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(Kommentar ZAS) Die Tendenz der PT-Agrarpolitik, BäuerInnen
zu neuen Peones des Grosskapitals zu machen, wird von der brasilianischen
Linken schon lange kritisiert. Sie ist nun gewissermassen offizialisiert
worden. Eine im Kern enorm brutale,gewalttätige
Politik, wie sie im städtischen Bereich als „Modernisierung“ mit Blick auf den
aufziehenden Olympiaden- und WM-Terror umgesetzt wird (vgl. „Wir
haben einen unerklärten Krieg, es ist ein Klassenkrieg“) . Die
Schlussfolgerung Zibechis, ganz auf seiner „autonomistischen“ Linie, dass für
eine Veränderung die Bewegungen besser den Staat vergessen und auf Eigenhilfe
setzen, ist allerdings gefährlich. Er verweist auf die zapatistischen
Mobilisierungen von Ende 2012 (s. die Blogeinträge von Dezember), die immer
mehr als Chiffre für eine Leistung herhalten, die zumindest nicht belegt ist.
Das tut der Grossartigkeit dieser Mobilisierung keinen Abbruch. Aber die PT-Politik
tut etwa auch der Grossartigkeit der Mobilisierungen vom 10. Januar 2013 in Venezuela
für den „chavistischen“ Gehalt der dortigen Revolution und „ihres“ Staates keinen
Abbruch. Es ist gefährlich, heute schon in der Praxis ein „Absterben des
Staates“ zu postulieren, von dem keine Spur zu sehen ist. Die Frage liesse sich
ja auch anders stellen: Was ist zu tun, damit ein Staat/eine Regierung nicht
wie in Brasilien die Kapitalrationalität über die Unterklassen stellt? Natürlich gibt es zahllose Beispiele für
Bewegungen, die sich in staatlichen Abläufen aufreiben oder umkehren liessen. Diese
Gefahr droht entsetzlich real. Sie ist nicht damit aus der Welt geschafft, dass
sie verdammt wird. Nicht damit, dass die Dynamik in fünf autonomen Gemeinden in
Chiapas mystifiziert wird. Wir sollten nicht den Weihnachtsbaum mit Wünschen
schmücken, sondern uns denen anschliessen, die praktisch versuchen, die beiden
Wege, die jeder für sich allein zwangsläufig zu Irrwegen werden, zu
kombinieren.