Prägnante
Analyse der mexikanischen Wahlen vom Sonntag, dem 7. Juni 2015, aus der Feder
des bekannten Kommentators der mexikanischen Tageszeitung „La Jornada“ (7 de junio:
crisis de representación, veröffentlicht am 9. Juni 2015).
Luis Hernández Navarro
Den jungen Antonio Vivar Díaz brachte letzten Sonntag die Policía Federal um. Er war nicht der
einzige, der in Tlapa von den Sicherheitskräften angegriffen wurde. Mindestens
vier weitere Personen wurden schwer verletzt. Antonio war Vater eines acht
Monate alten Kindes. Er studierte im letzten Jahr integrale kommunitäre
Entwicklung an der Nationalen Pädagogikuniversität.
Alles begann um halb 3 nachmittags, als die Besatzung zweier
Wagen der Policía Federal gewaltsam
in die Räumlichkeiten der Coordinadora
Estatal de Trabajadores de la Educación de Guerrero (Ceteg,
LehrerInnengewerkschaft von Guerrero) eindrang. Ohne Haftbefehl nahm sie 6
Lehrer fest. Später kehrten Mitglieder dieser Polizeikraft zurück und
behändigten zwei Kleinlaster der Lehrkräfte.
Die Agenten gingen auch zum Lehrer Juan Sánchez Gáspar nachhause
und nahmen ihn unter Gewaltanwendung mit. Sein Sohn ist der Lehrer Juan Leuguín
Sánchez, der am 5. Juni von der Polizei des Gliedstaates und Schlägern der
Parteien brutal angegriffen worden war.
Empört über die Festnahmen, warfen die Nachbarn des
Quartiers Tepeyac den Uniformierten ihr Verhalten vor, hielten sie fest und
warnten sie, sie könnten erst gehen, wenn auch die Lehrer frei kämen. Die Policía Federal antwortete mit einem Grossaufgebot,
das die Bevölkerung belagerte. Schliesslich wurde unter Vermittlung der
Menschenrechtsorganisation Tlachinollan der Austausch der Gefangenen beider
Seiten beschlossen.
Um 20 h drang die Policía
Federal in Verletzung der Absprachen in das Quartier ein und schoss dabei
scharf und mit Tränengas. ZeugInnen zufolge waren dabei auch Soldaten des 27.
Infanteriebataillons beteiligt. Im Verlauf dieser Operation ermordeten die
Sicherheitskräfte Antonio Vivar Díaz.
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Beerdigung von Antonio Vivar Díaz am 9. Juni 2015. Bild: La Jornada. |
Tlapa ist kein Einzelfall. In Oaxaca, Chiapas, Guerrero und
Michoacán schützten Einheiten der Policía
Federal, des Heeres und der Marine die Wahlen, die in diesen Gliedstaaten
in einem Klima der Militarisierung stattfanden. Ziel war, den Aufruf zum
Wahlboykott des Movimiento Popular
Guerrerense und der CETEG zu neutralisieren. Der Aufruf sollte den Katalog
von 11 beim Erziehungsministerium vorgebrachten Forderungen unterstützen, unter
anderem nach dem Wiederauftauchen der 43 Studenten von Ayotzinapa und anderer
Verschwundener am Leben; der Abschaffung aller Strukturreformen, insbesondere
der Erziehungsreform, und einem neuen Erziehungsmodell für das Land.
In Chiapas führten die LehrerInnen mehrere Protestaktionen durch.
In Oaxaca besetzte ihre Gewerkschaft Bezirksniederlassungen der Nationalen Wahlbehörde
INE und Tankstellen, eine Raffinerie und ein Depot des staatlichen Ölkonzerns Pemex.
Nach einem Treffen der Verhandlungsdelegation und des Innenministeriums am 5.
Juni in der Militärkaserne Nr. 1, an der ein Funktionär der Bewegung ein
Ultimatum stellte, erteilte ein Gewerkschaftsführer von Oaxaca die Anweisung, die
besetzten Einrichtungen zu räumen und sich in öffentlichen Parks zu versammeln.
Dennoch prallten in Städten wie Tuxtepec Lehrerinnen und Bewohner mit
Armeeangehörigen zusammen. Dutzende von LehrerInnen wurden verhaftet.
Angaben der Wahlbehörde zufolge verhinderte der Boykott die Aufstellung
von 603 Wahlurnen – die höchste Zahl seit vielen Jahren – mehrheitlich in
Oaxaca, Guerrero, Chiapas und einigen indigenen Comunidades in Michoacán. Dem
ist die grosse Zahl annullierter Stimmen jener hinzuzufügen, die so zum Protest
aufriefen und ihren Entscheid über sie sozialen Netze bekannt gaben.
Aber die Ereignisse im südlichen und zentralen Pazifikgebiet
haben sich nicht im ganzen Land wiederholt. An diesem 7. Juni drückte sich der
Unmut der BürgerInnen über das Parteiensystem und die Machtaufteilung in der
Folge der Abkommen von Barcelona von 1996 regional unterschiedlich aus. Schliesslich ist Mexiko viele Mexikos. Wenn
sich in einem Fall der Boykottaufruf materialisierte, drückte er sich in einem
anderen als Aufkommen unabhängiger Kandidaturen oder neuer Parteien aus und in
wieder einem anderen Fall als Stimmenannullierung (5 Prozent aller abgegebenen
Stimmen).
So gewann in Nuevo León Jaime Rodríguez, bis vor kurzem ein Kader
des PRI, die Gouverneurswahlen als Unabhängiger. Dieser Sieg von El Bronco (Der Rüppel) drückt sowohl den
Überdruss der WählerInnen bezüglich der Parteienherrschaft wie auch den
Entscheid der Bourgeoisie von Nuevo León aus, auf einen direkten politischen
Repräsentanten zu zählen, der nicht beim PRI oder beim PAN sei. Wir haben es mit
einem ähnlichen Phänomen wie damals zu tun, als Manuel Clouthier und eine Reihe
Unternehmer im PAN landeten, was mit dem Sieg von Vicente Fox in den
Präsidentschaftswahlen seinen herausragendsten Ausdruck fand. Nur dass sie jetzt,
dank der Figur des unabhängigen Kandidaten, nicht mehr mit den Parteispitzen
verhandeln müssen.
Ähnlich lässt sich der Sieg des Fussballers Cuauhtémoc
Blanco in den Bürgermeisterwahlen von Cuernavaca interpretieren, der formal für
eine lokale Partei antrat, die während Jahren darum kämpfte, nicht zu
verschwinden. Ohne irgendwelche Meriten in der Politik vorweisen zu können, unterstützt
von seinen Sportsfreunden und anderen mit der Unterhaltungsindustrie
verbundenen Milieus, schaffte es Blanco, den PRI zu beschämen.
Ausdruck dieser Tendenz, das existierende institutionelle
Geflecht in Frage zu stellen, ist auch das landesweite Debakel des PRD, das in
seiner Hochburg, Mexiko-Stadt, eine besondere Dimension annahm. Dass Morena
[linke Gruppierung um Manuel López Obrador] in der Landeshauptstadt als
zweitstärkste Kraft auftritt, zeigt sowohl den lokalen Unmut über eine verfaulte
und korrupte politische Kraft wie auch über eine formal oppositionelle Stadtregierung,
die sich der Logik und den Interessen der Bundesregierung unterwirft.
Unter diesen Umständen von den Wahlen als Erfolg oder von
einem demokratischen Fortschritt im Land zu reden, ist Unsinn. Es stimmt, es
war eine historische Wahl, aber nicht aus den Gründen, die ihre ApologetInnen
anführen, im Gegenteil. Unter dem Strich ergibt sich ein gravierendes Problem
der politischen Repräsentation und des Unmuts über das existierende
Parteiensystem. Eine ernste Repräsentationskrise.