Ein am 3. August in
der Schweiz realisiertes Interview mit M. V., Aktivist des FSLN seit den 80er
Jahren, 2014 politischer Sekretär seines Quartiers in der nördlichen Stadt
Matagalpa. In wenigen Sätzen ein Reichtum von Informationen über die Dynamik
der Ereignisse; über die, die vorher mit der Linken regierten und jetzt mit der
Rechten regieren wollten; und über das, was im Frente anstehen sollte. Eine
Stimme der Militanten.
Gérald Fioretta und
Vivianne Luisier
Was geschah in
Matagalpa in den ersten zwei Wochen der Unruhen?
Es gab eine grosse Verwirrung, denn wir wussten nicht, wer
der Feind ist. Nicaragua war ein tolles Land! Dann kam das Rentendekret. Aber
schon vorher gab es das Problem des interozeanischen Kanals und des Brandes im
Reservat Indio Maíz.
Die ersten Tage waren die Demos klein und friedlich. Dann
kam es zu versuchten und tatsächlichen Plünderungen. Danach zu den tranques (Barrikaden). Es gab welche im Süden
von Matagalpa. Es gab ein paar Einfälle in Quartiere wie Palo Alto oder Guanuca
(Anm. d. Red.: traditionell revolutionäre Stadtteile), aber dort kam es sofort
zur Selbstverteidigung.
Und in der Stadt
selbst gab es auch Barrikaden?
Viele haben den Kampf am Anfang gut gefunden, aber als sie
die Zerstörungen und die Toten gesehen haben, haben sie gesagt: «Das wollen wir
nicht». Sie wussten nicht, wie das alles einordnen, woher die Schläge kamen.
Zuerst hat es drei Tote gegeben. Da braucht es eine
Untersuchung oder was, aber die Presse hat sofort gesagt, das sei die
sandinistische Polizei gewesen. Nach und nach sahen wir, dass diese Bewegung
nichts mit sozialen Forderungen zu tun hatte, sondern mit Vandalismus. Vom
Sozialen ging es ins Politische.
An den tranques
waren von Matagalpa insgesamt etwa 120 Leute aktiv. Sie schrien, dass Daniel
abhauen müsse und die Sandinistas auch. Als der PLC und der MRS (Anm. d. Ü.: klassische
Rechte bzw. nach weit rechts abgewanderte Frente-Abspaltung] sich offen in die
Sache einbringen wollten, haben die Studenten anfangs gesagt, sie wollten keine
politische Partei. Denn die Studenten waren zu Beginn alle zusammen, die von
den Privatunis und die von der (staatlichen) UNAN. Während einer Demo begann
vor der Kirche San José das Schiessen, bald war das Ziel, Sandinistas zu töten.
Wie lief die Selbstverteidigung
in Palo Alto und Guanuca?
Nachts hatten wir Angst: Wir sahen Vermummte auf Pick-ups, die
bewaffnet durch die Gegend rasten. Da dachten wir, dass wir uns in den Quartieren
selber verteidigen müssen. Es gab Sitzungen «für die Verteidigung des Lebens»,
denn es hat immer mehr Tote und Zerstörungen gegeben. Die Geschäfte wurden
schon von Schutzdiensten bewacht, aber wir (Anm. d. Red.: die sandinistischen Aktiven)
haben die Leute zur Selbstverteidigung aufgerufen.
In Palo Alto stellten Männer, Frauen und Kinder die vigilancia revolucionaria (die
revolutionäre Wache). Wir haben grosse Töpfe Kaffee für die Nacht vorbereitet,
wie früher. Denn die azul y blanco («blauweissen»,
Nationalfarbe) wollten das nagelneue Gesundheitszentrum und den CDI (die
Krippe), wo täglich 250 Kinder sind, zerstören. Sie wollten alles schleissen.
Das Regionalspital wurde von etwa 60 Ex-Mitglieder der Bande
von La Chispa (Armutsquartier neben dem Regionalspital) geschützt. Die Armee bewachte
die Sozialversicherung, die Bibliothek, das Einwohneramt. Das Bürgermeisteramt
und das Lokal des FSLN bewachten die compañeros,
aber ohne die Leitung … Zwei Male wollten die «azul y blanco» den Frente angreifen,
aber es gelang ihnen nicht.
Und jetzt, Anfang
August, wie geht es in Matagalpa?
Alles ist gefilmt. Sie sind blöd, sie haben sich gefilmt,
weil sie dachten, dass sie alles rasch umstürzen würden. Und jetzt sind diese
Filme Beweismittel gegen sie und das bringt sie ins Gefängnis. Diejenigen, die
die tranques finanziert haben, werden
gejagt werden. Sie dachten, sie gewännen und würden so weiter befehlen: Nachdem
sie mit der Linken befehlt haben, dachten sie, mit der Rechten weiter zu befehlen.
Auf den 19. Juli (Anm. d. Ü.: Jahrestag der sandinistischen
Revolution) waren alle tranques
aufgelöst. Aber jetzt gilt es, die tranques
in den Institutionen zu säubern, das ist eine andere Sache! Was geschah, war ein
Hinterhalt, etwas Subtiles, Unvorhergesehenes.
Aber der Comandante bleibt: Er wird nicht einfach so gehen. Es
war immerhin er, der in der ersten Linie der Revolution gestanden ist. Aber ab jetzt
müssen iom Gegenzug die Militanten des FSLN mehr einbezogen werden. Wenn wir mit
Leuten oder einem Ereignis nicht einverstanden sind, müssen wir das sagen
können.
Wir hatten die guardia
somocista, den servicio militar (Armeedienst
in den 80er Jahren), 17 Jahre neoliberale Regierungen, das war alles Leiden und
jetzt noch das. Was wir jetzt erlebt haben, war fast noch schlimmer als der
Krieg 1979.
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(GF, VL) Auf die Frage «Ist jetzt endlich Ruhe eingekehrt?»,
war die telefonische Antwort vom 20. August nicht erfreulich. Ja, die Lage ist
ruhiger, aber sie ist zerbrechlich, wie der Mord an einem in Matagalpa
bekannten Sandinista, Lenín Mendiola, zeigt. Lenín war nicht am Demonstrieren.
Die Angst geht weiter um und am Abend schliessen sich die Leute bei sich zuhause
ein. Und gleichzeitig fangen die Entlassungen im staatlichen Bereich an und
werden gefährliche Ressentiments schaffen.