«Es braucht eine politische Alphabetisierung des Volkes»
Von Sergio Ferrari
Befreiungstheologe,
ehemaliger politischer Gefangener der 1970-erJahre, Schriftsteller: Der
brasilianische Dominikaner Carlos Alberto Libânio Christo, besser
bekannt als Frei Betto, ist einer der luzidesten Analytiker der Realität
in seinem Land. Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen vom 7.
Oktober in Brasilien spricht Betto über die komplexe wie herausfordernde
Lage.
Inzwischen
ist der inhaftierte ex-Präsident Lula von seiner Arbeiterpartei (PT)
offiziell als Kandidat nominiert worden – der
UNO-Menschenrechtsausschuss forderte die brasilianische Regierung am 17.
August auf, Lulas Kandidatur zu ermöglichen. Die Rechte ist gespalten,
doch sticht der Kandidat Jair Messias Bolsonaro (Partido Social Liberal)
mit seinen extremen Positionen hervor. Auf linker Seite ist das
Spektrum weniger breit: nebst Lula, der laut Umfragen am meisten
Wählerstimmen holen würde, tritt der aufstrebende Sozialaktivist
Guilherme Boulos an, der vom Partido Socialismo y Libertad (PSOL)
lanciert wurde.
Frei Betto |
Der
73-jährige Frei Betto hat 60 Bücher zu verschiedensten Themen
publiziert – von den Briefen aus dem Gefängnis (1977) über die
historischen Gespräche mit Fidel Castro zu Religion («Nachtgespräche mit
Fidel») bis hin zur «Mosca azul», worin Betto die Probleme und
Widersprüche des PT an der Macht thematisiert. Der Freund von Lula
gehörte von 2003-2004 dessen Kabinett als Berater des
Anti-Hunger-Programms «Hambre Cero» an. Nach Differenzen über die
Regierungsführung zog er sich in der Folge aber zurück. Heute gehört
Frei Betto zu den kritischen sozialen Akteuren im Land. Der Freidenker
bezeichnet sich selber als «IGN», die Abkürzung für
«Nichtregierungsindividuum» (Individuo no gubernamental).
Interview:
Laut
den sozialen Bewegungen, der Linke und zahlreichen Analysten leidet
Brasilien unter den Folgen der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma
Rousseff im Jahre 2016 aufgrund nicht bewiesener Anschuldigungen. Wie
beurteilen Sie die anstehenden Wahlen vom 7. Oktober in diesem Kontext?
Frei Betto:
Das werden die unvorhersehbarsten Wahlen, die Brasilien je erlebt hat.
Knapp sieben Wochen vorher ist der Ausgang kaum zu beurteilen, weil der
Kandidat mit den meisten zu erwartenden Wählerstimmen Lula heisst. Er
kommt je nach Umfrage auf 30 oder 32 Prozent. 21 Prozent der Wähler sind
noch unentschlossen, gefolgt von 19 Prozent, die den rechtsextremen
Militär Bolsonaro wählen wollen. Der Politikanalyst Marcos Coimbra ging
Mitte August davon aus, dass sich im zweiten Wahlgang der PT-Kandidat -
Lula oder Fernando Haddad, sofern Lula nicht antreten darf - und
Bolsonaro gegenüberstehen werden.
Ist zu erwarten, dass diese Wahlen zu einer Deblockierung der Situation und einer erneuten demokratischen Dynamik führen?
Frei Betto:
Die Beschränkung der Demokratie drückt sich in den Anschuldigungen
gegen Lula aus, dem wichtigsten nationalen Kandidaten. Es handelt sich
um Vorwürfe (wegen Korruption, Anm. der Red.), die nicht belegt sind. Es
ist merkwürdig, dass er in der Küstenstadt Guarujá für einen Fall
angeklagt wird, der São
Paulo betrifft, und er in Paraná gefangen gehalten wird - wiederum
einem anderen Bundesstaat. Es liegt auf der Hand, dass der demokratische
Prozess in Brasilien verletzt wird, wenn die Justiz Entscheide trifft,
deren wichtigstes Ziel es ist, Lula von einer dritten Präsidentschaft
abzuhalten.
Trotzdem
hat die Arbeiterpartei Lula am 15. August offiziell als Kandidaten
registriert – begleitet von einer Kundgebung mit mehr als 50’000
Personen. Erachten Sie die Kandidatur als symbolischen Akt oder könnte
sie von den Wahlbehörden tatsächlich akzeptiert werden?
Frei Betto:
Es gibt Präzedenzfälle von Kandidaten, die durch die Justiz verurteilt
waren, deren Registrierung aber bewilligt wurde. Einmal gewählt, durften
sie ihr Amt antreten. Insofern kann man nicht sagen, dass Lula schon
aus dem Rennen ist. Seine Anwälte werden bis zu einem Entscheid des
obersten Gerichtes kämpfen. Im Falle eines Ausschlusses von Lula wird
Fernando Haddad kandidieren, früherer Erziehungsminister der
PT-Regierung. Als Vizepräsidentin wird Manuela d’Avila von der
kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) antreten.
Falls
Lula als Kandidat ausgeschlossen wird: Haben andere progressive
Kandidaten, wie zum Beispiel Guilherme Boulos (PSOL), aus Ihrer Sicht
eine Wahlchance?
Frei Betto: Laut
den Umfragen verfügt Lula über ein Potential von 30 Prozent der
Wählerstimmen, die auf einen Ersatzkandidaten übergehen könnten. Das ist
eine sehr bedeutende Zahl. Doch alles deutet darauf hin, dass nicht
alle potentiellen Lula-Wähler seinen Ersatz wählen würden. Ich denke,
viele Stimme werden auf Guilherme Boulos sowie auf Ciro Gomes (Partido
Democrático Laborista, Alianza Brasil Soberano) oder Marina Silva (REDE)
übergehen.
Sie
sind befreundet mit Lula, der sich engagiert für das Volk und
insbesondere die sozialen Bewegungen eingesetzt hat. Gleichzeitig haben
Sie gewisse Politiken und Methoden des PT während dessen 13-jähriger
Regierungszeit stets kritisiert. Welche Herausforderungen stellen sich
für die Partei Ihrer Ansicht nach in Zukunft?
Frei Betto: Ich
hätte es geschätzt, wenn der PT sich der Selbstkritik gestellt und
Korruptionsvorwürfe an die Adresse seiner Mitglieder durch eine
Ethikkommission hätte untersuchen lassen. Sofern die Partei es schafft,
mit Lula oder Haddad zu siegen, gehe ich davon aus, dass sie eine
progressivere Regierung stellt als früher mit Lula oder mit Dilma – oder
es zumindest versucht. Man muss dabei daran erinnern, dass in Brasilien
der Präsident von der Unterstützung beider Parlamentskammern abhängt.
Und ich habe keine Hoffnung, dass der künftige Kongress nach den Wahlen
weniger konservativ sein wird als der heutige. In diesem Sinne bleibt
der Linken nichts anderes übrig, als zur Arbeit an der Basis
zurückzukehren und die politische Alphabetisierung des Volks zu fördern.
Die
Wahlen in Brasilien finden in einem für Lateinamerika komplexen Moment
statt. Die neoliberale Offensive wird einzig durch den Amtsantritt von
Mexikos künftigem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador am 1. Dezember
ausgeglichen.
Frei Betto:
Brasilien und Mexiko sind die zwei mächtigsten Länder in Lateinamerika.
Sofern der PT oder der PSOL in Brasilien gewinnen, wird die Verbindung
zu López Obrador sehr wichtig sein, um den progressiven Regierungen auf
dem Kontinent Mut zu machen und die Souveränität Venezuelas und der
Kubanischen Revolution zu verteidigen. Sollte Ciro Gomes gewinnen, wird
Brasilien eine zweideutige Politik haben, manchmal progressiv, manchmal
unterwürfig. Die übrigen Kandidierenden – inklusive Marina Silva –
stellen sich nicht gegen die neokoloniale Politik des Weissen Hauses,
das unter anderem erreichen möchte, dass wir die Beziehungen zu China
und Russland kappen.
Mobilisierung für die Freilassung von Lula. Bild: Gustavo Bezerra. |
Übersetzung: Theodora Peter