Wahnsinn, Opfer, und ein «Skandal»

Dienstag, 15. Juni 2021

 (zas, 15.6.21) One Fair Wage ist eine US-Organisation, die etwa 200'000, von Trinkgeldern abhängige ArbeiterInnen im Dienstleistungssektor umfasst, vor allem in der Gastronomie, aber etwa auch in Coiffeurläden, Delivery-Sektoren von IT-Plattformen u. v. a. – einschliesslich ArbeiterInnen mit Behinderungen oder Gefangene. Ihr Ziel: den landesweiten Durchschnittslohn zu erhöhen. V (früher Eve Ensler), feminstische Aktivistin und Verfasserin u. a. der Vagina-Monologe, hat am 1. Juni im Guardian den Artikel Disaster patriarchy: how the pandemic has unleashed a war on women über die globale Angriffswelle auf Frauen während der Pandemie veröffentlicht. V hatte dafür Berichte von Frauen aus vielen Ländern in Nord und Süd verarbeitet, die das Bild einer extremen sexistischen Rollback-Offensive  auf diversen Ebenen ergeben - - von Unterdrückung in Fleischbetrieben bis zum «Intimterrorismus, geläufig als häusliche Gewalt», wie sie sagt. Amy Goodman interviewte sie wenige Tage später zu diesem Thema. Im Gespräch sagte die Frau:

«Ich arbeite seit Jahren mit One Fair Wage. Gerade letzte Woche habe ich mit ihnen demonstriert. Ihr Stundenlohn beträgt immer noch $ 2.13, seit 22 Jahren. Und jetzt gibt es eine neue, ‘Masken-Belästigung’ genannte Entwicklung. Männer beharren darauf, dass die sie im Restaurant bedienenden Frauen ihre Masken abnehmen, um ihre Gesichter anzuschauen und zu urteilen, ob sie hübsch genug für ein Trinkgeld sind. Das sind entsetzliche Dinge, und sie eskalieren in der Pandemie.»

One Fair-Wage-Protest in Philadelphia. Quelle: OFW.

 Szenenwechsel: «Leck von Steuerdaten: Die reichsten Amerikaner sind kein Freiwild», schreit in der NZZ eine gequälte Seele gegen Unrecht auf. Sie heisst Christoph Eisenring und ist routinemässig engagiert im Kampf gegen … äh … also nicht die soziale Ungerechtigkeit, sondern das Reden darüber. Das Investigativteam von ProPublica hat nach Durchsicht zugespielter Unterlagen aus der US-Steuerbehörde IRS unter dem Titel The Secret IRS Files: Trove of Never-Before-Seen Records Reveal How the Wealthiest Avoid Income Tax eine Analyse des Steuergebarens der 25 reichsten Amis (Bezos, Soros, Bloomberg, Warren Buffett, Carl Icahn etc.) veröffentlicht. Kurz zusammengefasst: Sie zahlen auf Einkommen und Vermögen bezogen nur 3.4 % Steuern. Legal. Der Trick: Im Lauf der der vergangenen Jahrzehnte hat sich das US-Steuersystem schwergewichtig auf das Abschöpfen der Löhne konzentriert, die prozentual viel höher als Dividenden, Börsengewinne etc. versteuert werden. Einkommen (also vor allem Löhne) mit Vermögen zu kombinieren, diene, so der NZZ-Kämpe, bloss dazu, die «Steuerzahlungen der Reichen in einem möglichst ungünstigen Licht erscheinen zu lassen.» Kein Wunder, wenn ersichtlich wird, die Multimilliardäre ab und an null Steuern zahlen, da die Börse sie gerade etwas gekostet hat. Wichtig aber, so Eisenring: «In den USA wie praktisch überall auf der Welt» - gelobt sei der Herr! – «fallen (…) erst dann Gewinnsteuern an, wenn Aktien verkauft oder Dividenden bezahlt werden (…) Man fördert so die Kapitalbildung und geht den riesigen Bewertungsproblemen aus dem Weg, die sich stellen würden, müsste man jedes Jahr unrealisierte Gewinne versteuern.» Und wie halten sich die Umsichtigen bis Monatsende trotzdem über Wasser? ProPublica lässt das in einem Video einen fiktiven Banker erklären: «Ich leih dir $ 10 Millionen zu einem Zins von nur 3 %. Wenn du $ 10 Millionen Lohn von deinem Unternehmen beziehst, schuldest du dem IRS fast 37 %». So ist das «riesige Bewertungsproblem» einer Reichtumssteuer gelöst und Lifestyle, Luxusjacht und Immobilienimperium bleiben erhalten.

Andere haben andere Probleme. V resümiert im Guardian Weisen der Frauenunterdrückung in der Pandemie, vom Zwang für das Pflegepersonal, trotz Covid-Erkrankung zur Arbeit zu erscheinen, oder vom Schulausschluss von global 11 Millionen Mädchen mit der Folge, wie in Kenia, der Zunahme von Genitalverstümmelung (Mitgift statt Erziehung als Einkommen für den Vater) bis zur sexuellen Erpressung von Mieterinnen durch Vermieter oder der Extrembelastung in Lockdowns («Ich glaube, wir können das Niveau von Erschöpfung und Angst von Frauen, die ohne Unterbruch oder Zeit für sich selber für ihre Familien sorgen, nicht überbetonen. Das ist eine subtile Form von Wahnsinn.»). Sie hält fest: «Das Problem sind nicht die Lockdowns, aber was sie, und die Pandemie, die sie erforderlich macht, deutlich machten. Covid hat gezeigt, dass das Patriarchat gedeiht und sich in Zeiten der Krise neu durchsetzt.»

«Subtile Formen von Wahnsinn» als Opfer für die Herrschenden. No problem. Das US-Justizministerium und natürlich die Eisenrings erblicken dafür einen «Skandal» in der Veröffentlichung der Steuerdaten der Superreichen. Nicht in der gesetzlich kodifizierten grundlegenden «Korruption» der Eliten mit der Kehrseite von Hungerlöhnen und Unterdrückung.