(zas, 30.4.22) Die Lage in El Salvador verschärft sich vor dem 1. Mai weiter. Die jeder Anweisung des Präsidenten Bukele blind gehorchende Parlamentsmehrheit hat am 24. April den Ausnahmezustand samt Aushebelung einer Reihe von Grundrechten um einen Monat verlängert und damit die Lage in den Armutszonen weiter verschärft (s. auch den Artikel aus El Diario de Hoy weiter unten). Damit gibt sich das Regime u. a. das pseudorechtliche Mittel in die Hand, jede unwillkommene Menschenansammlung unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung aufzulösen und ihre TeilnehmerInnen beliebig lang im Gefängnis verschwinden zu lassen. Da Ausnahmezustand und Suspendierung von Grundrechten zur Bekämpfung des Kriminalitätsterrors unnötig sind (s. dazu den oben verlinken Artikel), rückte das eigentliche Objekt dieser Entfesselung von Militär- und Polizeiterror zwangsläufig ins Augenlicht: die Opposition auf der Strasse und damit die auf den 1. Mai angekündigten Proteste. Diese richten sich gegen den Regimeterror in den Armutszonen, gegen die explodierenden Lebenshaltungskosten, die «Säuberung» im Staatsapparat mittels Kündigungen von tausenden von Angestellten, das «Verschwinden» vor allem von Frauen aus den Unterklassen u.v.m.
Um das zu verdeutlichen, sagte Rolando Castro, langjähriger Chef einer mafiösen Schlägergewerkschaft im Dienst der damals regierenden rechten ARENA-Partei und heute Arbeitsminister, letzten Donnerstag: Es gebe die echten Gewerkschaftsführer, die nicht auf die Strasse gehen, sondern den 1. Mai zusammen mit der Regierung (in einem Hotel) feiern werden. «Auf der anderen Seiten haben wir Personen, die sich manchmal als Gewerkschaftsführer ausgeben, aber ihre Agenda ist eine andere. Wir haben es gesagt und deutlich gemacht, dass die Demos, die von verschiedenen Orten losgehen, die Gangs in El Salvador unterstützen. Und wir rufen das salvadorianische Volk auf, sich nicht manipulieren zu lassen. [Diejenigen, die sich den angekündigten Demos anschliessen] werden - Medardo González hat das schon gesagt - Angehörige und Maras-affine Gruppen sein. (…) Die, die demonstrieren wollen, werden zu jeder Zeit und unter jeglichen Umständen verhaftet werden.» (hier und hier).
Bei Medardo González handelt es sich um den früheren FMLN-Chef und heutigen Aktivisten der Widerstandsbewegung auf der Strasse. In einer Sendung des vom Regime minutiös verfolgten Widerstandskollektivs Frente Intercontinental, ventana de la lucha popular salvadoreña hatte er gesagt, dass viele der in den Armutszonen Verhafteten, die nichts mit den Maras zu tun hätten, «politische Gefangene» seien. Was er gemeint hatte, war im Kontext klar und von ihm später mehrmals präzisiert: politische Gefangene, insofern sie Opfer des unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung verfügten, politisch motivierten Ausnahmeregimes seien.
Zum 1. Mai mobilisieren der Zusammenschluss von 60 Sozialorganisationen und Gruppen, der Bloque de Resistencia y Rebeldía Popular, und die Alianza Nacional (AN), ein Zusammenschluss vorwiegend rechter, aber antibukelistischer Organisationen (Armeeveteranen, ARENA-nahe Gewerkschaften u. a., aber auch eine Organisation von Ex-Guerillas) sowie die in der progressiven NGO-Welt gut vernetzte Coordinadora de Movimientos Populares. Keine dieser Kräfte weiss, ob morgen Sonntag ein Grossangriff auf die Demos stattfinden wird. Doch laut Einschätzung der Opposition handelt es sich eher um Angstmache. Diesem Ziel dienen die Äusserungen von Castro und anderen Regimefiguren (eine besonders widerliche von einem bekannten Bukele-Abgeordneten, der tweetete, der Marsch morgen werden für viele Beteiligte für die nächsten 30 Jahre der letzte sein, ausser dem sofort folgenden in die verdunkelte Zelle).
Das Regime weiss, dass die eh schon zerbröckelnde Popularität seiner derzeitigen Messiasfigur Nayib Bukele mit dem Terror unter dem Ausnahmezustand eingebrochen ist. In den Armutszonen herrscht Angst, zum Beispiel davor, «unnötig» auf die Strasse zu gehen und dabei von Armee und Polizei, die ihre vorgegebenen täglichen Fangquoten zu erfüllen haben, als Maramitglied «gepflückt» zu werden. Um Proteste direkt Betroffener möglichst zu unterbinden, verstärken Castro & Co. diese Angst. Der Bloque und die AN rufen jedenfalls erst recht zur Demoteilnahme auf. Allen ist klar, dass die Sicherheitskräfte erneut die Anfahrt von Bussen aus dem Landesinnern zu verhindern suchen, dass dabei wieder tausende von Personen registriert werden, dass möglicherweise Militärkontrollsperren um urbane Armutszentren aufgestellt oder verstärkt werden, dass auf jeden Fall die vom Regime geschürte Angst manche Menschen von einer Protestteilnahme abhalten wird. Gleichzeitig aber verschärft sich die sozioökonomische Krise. Nur ein Beispiel: Die Nahrungsmittelpreise eskalieren, (noch) nicht wegen des Ukrainekriegs, sondern wegen der von der Regierung systematisch betriebenen Zerstörung der unter dem FMLN gestärkten bäuerischen Landwirtschaft zugunsten des Imports in den Händen von wenigen regimenahen Oligopolen. Ohne permanente Angsterzeugung wären morgen wohl massive, über die letzten Kampfzyklen hinausgehende Proteste zu erwarten.
In einer gerade veröffentlichten Stellungsnahme anlässlich eines von einem Regimeyoutuber veröffentlichten Video, dass die Bloque-Exponentin Sonia Urrutia als Maramitglied darstellt, schreibt der Bloque nicht zufällig: «Wir laden die Bevölkerung ein, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen und repressive und illegale Aktionen der Regierung zu denunzieren. An diesem 1. Mai gehen wir auf die Strasse!»
Interessant ist übrigens, dass gerade eine ILO-Mission zur Untersuchung der Lage der Gewerkschaftsfreiheit im Land ist. Die Regierung lädt sie für morgen zu ihrem Anlass mit den «wahren», also gekauften und mafiösen «Gewerkschaften» im Hotel ein; der Bloque und die AN zu den Strassendemos. Clément Voule, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sagte: «Die Denunzierungen zur Stigmatisierung und Kriminalisierung der für den Arbeitstag des 1. Mai geplanten Proteste durch den Arbeitsminister Rolando Castro besorgen mich. Die Behörden müssen ihre Pflicht, das Recht auf Versammlungsfreiheit während dieser Proteste zu garantieren, erfüllen.» Und für viele Leute wohl besonders wichtig: Letzten Freitag äusserte der fortschrittliche Kardinal Gregorio Rosa Chávez: «Ich hoffe, dass am Sonntag Leute demonstrieren, trotz der gestern bekannt gewordenen Drohungen».
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aus El Diario de Hoy:
¿Por qué nos humillan de esta manera?
Warum demütigen sie uns so?
Dutzende Frauen berichten über ihren Kreuzgang während des Ausnahmeregimes
Francisco Rubio, 29. April 2022 – 21:56
Um Informationen über ihre Angehörigen zu erhalten, kommen viele Frauen aus verschiedenen Landesteilen zur Strasse, die zum Gefängnis von Izalco führt. Die Frauen kommen aus Santa Ana, Quetzaltepeque, Usulután, Soyapango und anderen Orten und tragen Taschen oder Rücksäcke mit Kleidern und Hygieneartikeln für ihre unter dem Ausnahmezustand verhafteten Verwandten.
Eine der Anwesenden kommentierte: «Wir haben die Nachricht gesehen, dass sie gestern einige Gefangene freigelassen haben, deshalb sind wir gekommen, so Gott will, kommt heute mein Sohn frei.» Die Mehrheit der Anwesenden kommt seit Donnerstag hier, sie haben von möglichen Freilassungen gehört und sind deshalb hierhergekommen.
Das ist auch der Fall bei Esther und sechs Frauen, die jeden Tag mit dem Bus oder per Autostopp aus San Salvador nach Izalco fahren. Esther und ihre Nachbarinnen wohnen in der Comunidad Nueva Israel. Sie sagen, seit Beginn des Ausnahmezustandes, seit der Festnahme ihrer Männer, Söhne oder Brüder werden sie von den Behörden belästigt. «Seit dies angefangen hat, haben wir mehr Angst vor der Polizei und der Armee als vor den anderen (Mareros), denn sie schlagen und misshandeln dich und du kannst nichts machen.» Sie sagt das, liest ihre Sachen auf und geht zur Endstation des Buses 205, der nach einer Stunde und 20 Minuten an der Abzweigung nach Izalco hält. Da müssen sie Autostopp machen oder die Taxifahrer dort fragen, ob sie einen Sondertarif für häufige Kunden machen können. Ein Taxifahrer an der Abzweigung sagt: «Wir wissen um ihre Situation; in meiner colonia haben sie Leute mitgenommen, die nichts damit zu tun haben, deshalb machen wir ihnen einen günstigen Preis. Denn sonst müssen sie bis zur nächsten Haltstelle gehen und viermal den Bus wechseln. So kommen sie zwar dichtgedrängt, aber schneller ans Ziel.»
An der Strasse, die zum Gefängnis führt, angekommen, reihen sich Esther und die anderen in die Gruppe von mehr als 100 Frauen ein, die auf irgendeine Auskunft hoffen. Einige haben keine Möglichkeit, die Kinder zurückzulassen, also haben sie sie bei sich.
Fragen ohne Antworten
Was kommt jetzt? Werden sie rauskommen? Ist mein Sohn hier? Haben sie meinen Sohn geschlagen? Ist mein Sohn der Tote, den sie gemeldet haben? Einige der Fragen der Frauen an den Polizisten, der die Medien bittet, den Anlass nicht zu dokumentieren. «Wenn Sie Fotos machen, sage ich den Frauen nichts», sagt er lächelnd. Darauf bittet die Menge, keine Bilder zu schiessen. Nachdem der Polizist weggeht, bitten viele Frauen die Medien, zu bleiben und zu zeigen, was passiert.
Eine andere Frau sagte: «Warum demütigen sie uns auf diese Weise? Wir sind hier ohne zu essen, wir hungern, was wir durchmachen, ist nicht gerecht. Wir müssen Geld für die Fahrt ausgeben, für die Essensmittel, für Anwälte, die die Fälle unserer Familienmitglieder nicht einmal kennen. Ich vergesse den Polizisten nicht, der meinen Sohn mitgenommen und gesagt hat: ‘Er soll sehen, wie es dort (im Gefängnis) ist’. Das ist nicht recht.»
Viele Frauen sehen von dem langen Warten erschöpft aus.
Mitteilenswert ist die Zunahme von Geschäften an diesem Platz. Genau dort, wo sich die Frauen versammeln, gibt es zwei Läden, die davon profitieren konnten. Und auch StrassenverkäuferInnen, die Brot anbieten, gebratene Masikolben, Süsswaren, anderes.
Heimfahrt
Bei Einbruch der Nacht kommt ein Polizist und sagt die Namen von vieren, die freigelassen werden. Aber auch wenn sie wissen, dass nur vier rauskommen, bleiben Dutzende von Frauen um zu schauen, ob die Freigelassenen irgendwie nachhause gelangen können. «Gestern konnten sie nicht nachhause, die Armen, besser warten wir», kommentieren sie untereinander.
Als der Regen anfing, verteilten sie sich. Man deckte sich mit schwarzen Plastiktüten zu, mit Rucksäcken, mit Taschen oder unter den Geschäften vor Ort. «Regen und Sonne, das haben wir, aber wir dürfen den Glauben nicht verlieren, dass eines Tages unsere Angehörigen rauskommen», sagten sie sich.
Als sich die Polizisten zurückzogen und es kein Anzeichen mehr gab, dass noch andere freigelassen würden, schauten die Leute, wie sie wegkommen und gruppenweise irgendeinen Transport bezahlen könnten. Andere entschieden sich, zu bleiben und irgendwo zu schlafen, um bereit zu sein, falls ihre Angehörigen am nächsten Tag freikämen.