Venezuela: Endloses Warten?

Sonntag, 8. September 2024

 

(zas, 8.9.24) Nicht die einfachsten Zeiten für die Solidarität mit Befreiungskräften in Lateinamerika. Aber null Anlass, auf «neutralen» Kurs zum Imperialismus zu drehen. Hier ein aktuelles Beispiel:

Noch immer hat der Nationale Wahlrat CEN die auf die Wahllokale aufgeschlüsselten Ergebnisse nicht veröffentlicht. Nach Art. 146 des Wahlgesetzes hätte er das binnen 30 Tagen nach Wahlschluss machen müssen. Die Präsidentschaftswahl fand am 28. Juli statt. Bei allen bisherigen Wahlgängen, ob nationalen oder etwa Gouverneurswahlen, veröffentlichte der CEN die Ergebnisse nach zwei Tagen, unabhängig, wer die Nase vorne hatte. Dieses Mal war ihm das nicht möglich. Zuerst blockierte ein Cyberangriff auf das Übertragungsnetz von den Wahlcomputern in den Wahlzentren zum zentralen Rechensystem des CEN die termingerechte Bekanntgabe des Schlussresultats. Anschliessend zog Maduro angesichts des Wahlbetrugsvorwurfes die Sache vor die zuständige Wahlkammer des Obersten Gerichts, womit die Veröffentlichung bis zu einem Urteil erneut aufgeschoben war. Die in der Opposition dominierende Ultrarechte hatte im Schatten legitimer Demos erneut einen Versuch unternommen, mit «strassenputschistischen» Gewaltszenen offensiv umworbene Teile der Armee zu einem Coup zu bewegen. (Zu den mit Demokratieliebe vollgetankten Medien: Die Wahlkammer ist laut Wahlgesetz die oberste für Rechtsdispute bei Wahlen zuständige Instanz. Hätte Maduro besser getan, seinen Wahlsieg einfach dekretieren? Oder die Regierung blitzrasch in die Fänge derjenigen Kräfte zu übergeben, deren absolut brutales Regierungsprogramm - Aushändigung des Landes an westliche Multis und totale Sozialzertrümmerung - nur mit einem Blutbad durchsetzbar sein würde?)

Nun, die Kammer erliess ihr Verdikt (s. dazu diesen Beitrag) am 22. August und bestätigte darin auch die Gültigkeit des Artikels 146 des Wahlgesetzes. Schön. Nur gibt es leider bis heute keine Veröffentlichung der Resultate. Und auch kein offizieller chavistischer Ton ist dazu hören.

 

Blick hinter den propagierten Schein

Also doch Wahlbetrug des Chavismus? Natürlich denkt alle Welt an ein solches Szenario, hierzu auch von unablässigen Medieneinsatz animiert. Dagegen spricht das Vorgehen der Ultras.

Zuallererst: Die Ultrarechte hat den CEN noch jedes Mal anerkannt, wann sie gewonnen hatte. Das war auf nationaler Ebene mit einem Referendum gegen eine Verfassungsreform und als sie eine klare Parlamentsmehrheit erzielt hatte. Ebenso bei ihren nicht seltenen Siegen auf Ebene Gliedstaat oder Gemeinde. Da hielt sie sich brav an das institutionelle Vorgehen, auch wenn sie dem CEN zuvor jeweils jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen hatte. Wenn sie über die ausgedruckten Resultate aus den Wahlzentren verfügt, warum präsentiert sie diese nicht vor den zuständigen Instanzen? Jede Wette: Mit auch nur einer Stimme mehr wäre sie diesen Weg gegangen.

Was tat sie stattdessen? Sie lud «Kopien» der offiziellen ausgedruckten Resultatformulare auf eine Homepage. In der euro-atlantischen Berichterstattung beweist sie damit ihren hohen Wahlsieg. Das wird gebetsmühlenartig wiederholt, stimmt aber nicht. Es ist klar, dass die grosse Mehrheit dieser Kopien aus Fakes besteht. Zum Teil wurden dafür Eröffnungsformulare[1] als Vorlage benutzt. Die Rechte sollte ihre «Resultate» vor dem CEN veröffentlichen, um entsprechenden Impact im gewogenen Ausland zu erzeugen und im Land Stimmung gegen einen vorausgesetzten chavistischen Wahlbetrug zu fördern.[2] (Das ist ihr angesichts der andauernden Nicht-Veröffentlichung durch den CEN mit Bravour gelungen.) In solche Eröffnungsformularien wurden mit geeigneter Software neue Zahlen u. a. eingefügt wurden. Das Resultat sieht nicht nach Eile mit Weile, sondern nach Eile mit Pfusch aus. Widersinnige QR-Codes, unleserliche Unterschriften unter aufgedruckten Fingerabdrucken (nicht verwendet im Wahllokal), dafür Unterschriften von Namen von im Wahllokal unbekannten Personen, kalligraphisch gleiche Unterschriften auf mehreren «Belegen» u. a. Neben den in früheren Blogeinträgen angegebenen Quellen zu diesem Thema sei auch ein Interview  - Román Cuesta: "Minar el sistema electoral es atacar la raíz de la democracia" – und eine Arbeit des Interviewten – ¿Cómo manipuló las actas la oposición en Venezuela? – zur Lektüre empfohlen.

Worauf diese Sorte «Belege» ein Licht wirft, ist nicht ein chavistischer Wahlbetrug, sondern viel mehr auf kommende Aggressionen gegen Venezuela.

 

Eppur si muove

Doch warum dann das «ewige» Herausschieben der Resultate-Veröffentlichung durch die chavistischen Behörden? Welches Motiv, wenn nicht Verheimlichung eines Wahlbetrugs, könnte dies begründen? Das fragen nicht nur wir hierzulande, sondern, wie uns Bekannte in Caracas versichern, auch «wir Chavistas hier». Warum dieses beflissene Tun-als-ob, dieses chavistische Reden von Gott und der Welt, nur nicht von der Nicht-Veröffentlichung der Resultate? Natürlich ist dies lange nicht die einzige oder alles beherrschende Frage in Venezuela. Absolut zentral, dass viele Signale auf einen umfassenden US-Angriff nicht nur auf Venezuela, sondern auf alle Kräfte im Kontinent hinweisen, die sich nicht dem US-Wahlentscheid beugen. Unmittelbar bedroht ist etwa die Regierung von Xiomara Castro in Honduras. Hier gibt die früher in Nicaragua, jetzt in Tegucigalpa aktive US-Botschafterin eine Destabilisierungslinie vor, die sie Tage nach Xiomaras Unterstützung für Maduro verschärfte. Hier kann die US-Strategie schwerwiegendes Fehlverhalten im engsten Kreis der progressiven Führung für eigene Zwecke verwenden (dazu demnächst mehr). Nicht ganz unähnlich vielleicht wie in Venezuela, wo das beharrliche Ignorieren des unabdingbaren Schritts der Bekanntgabe der Resultate die Propaganda des Gegners zu ölen scheint.

Noch vor den Wahlen stellten sich manche von uns auf ein knappes Resultat, eventuell also auch eine Niederlage ein. Auch dann wäre gültig geblieben, dass gegen den enormen Wirtschafsterrorismus des Westens, gepaart mit gewalttätigen Putschversuchen, die chavistische Bewegung ihren Charakter der plebejischen Revolte, behalten hätte - allen internen Problemen zum Trotz. Zur Verdeutlichung nur ein Zitat aus einem Juli-Artikel - How four U.S. presidents unleashed economic warfare across the globe - der Washington Post, der Vor- und Nachteile der US-Sanktionspolitik aus Washingtoner Sicht abwägt. Ähnlich beeindruckend wie der Titel dieser Satz: “Sanktionen gegen Venezuela haben (…) zu einer Wirtschaftsschrumpfung beigetragen, die ungefähr drei Mal so stark ist wie die von der Grossen Depression in den USA bewirkten.»

«Beigetragen»…: Dir wird eine Sprengfalle gestellt, und du hörst noch, sie habe neben deiner Verpenntheit zu deiner Verletzung beigetragen.



[1] Verfasst vor Öffnung der Wahllokale. Die WahloperateurInnen und Delegierten der Parteien bestätigen darin, dass die Wahlcomputer auf null eingestellt und die Urne für die Papierausdrucke leer sind.

[2] S. dazu die entsprechende Bemerkung im Strategiepapier des Wilson Center: «How to Stop a Coup», s. auch Venezuela: Warum das lange Warten?