Venezuela: Merkwürdige Progressive, eine transnationale Reaktion und eine plebejische Kraft

Montag, 26. August 2024

 

(Das Folgende ist eine Fortsetzung von Venezuela: Warum das lange Warten? vom 13. 8. 24)

(zas, 26.8.24) Die Wahlkammer des Obersten Gerichts hat den Wahlsieg von Maduro am 22. August bestätigt. An der Zuständigkeit dieser Kammer zur Beantwortung der Frage, ob und von welcher Seite es Wahlbetrug gegeben habe, besteht kein Zweifel – zumindest, solange man sich an das venezolanische Wahlgesetz hält (Art. 195, 197 und 214). Gewissermassen auch an eine internationale Praxis: In einer Reihe von Ländern des Kontinents haben die zuständigen Justizorgane in der mehr oder weniger kurz zurückliegenden Vergangenheit das letzte Wort gehabt - Brasilien, Paraguay, Guatemala, Mexiko … um nicht auf die USA 2020 oder 2000 (Bush/Gore) zu sprechen zu kommen.

 

Das Geschwätz, dass diese Kammer sich unrechtmässig Kompetenzen aneigne, ist blöd, scheinheilig oder zynisch. Im Kern urteilt sie in einer 9-seitigen Resolution:

1. Bei der Wahl «wurde ein massiver Cyberangriff auf das Wahlsystem festgestellt, was einen offensichtlichen Verstoss gegen das Wahlsystem» darstellt. 

2. Von den 10 Präsidentschaftskandidaten sind 9 der bindenden Vorladung durch die Wahlkammer, höchste Instanz im Wahlsystem, gefolgt.

3. Nicht so Edmundo González von Bündnis PUD. Ebenso wenig übergab er «die Wahlakten [im Besitz der PUD], die Liste der Parteivertreter [in den Wahllokalen] oder andere Wahlunterlagen». Hochrangige weitere Vertreter der PUD sind zwar der Vorladung gefolgt, «übergaben aber keine mit dem Wahlprozess zusammenhängende Dokumente und argumentierten, sie hätten weder Wahlakten der Parteivertreter noch deren Listen und versicherten sogar, wie Audio- und Videoaufnahmen sowie Akten belegen, dass sie am Prozess der Sicherung der ihren Parteien zustehenden Wahlakten nicht beteiligt waren.»

4. Am 20. August legten technisch-juristisch hochqualifizierte nationale und internationale Experten der Kammer das Ergebnis ihrer umfassenden Prüfung sowohl der elektronischen wie ausgedruckten Wahlunterlagen vor. Darauf gestützt, erklärt die Kammer den Sieg von Nicolás Maduro als unumstösslich.  Der Nationale Wahlrat CEN muss nun seiner Verpflichtung nachkommen, innerhalb von 30 Tagen nach den Wahlen die definitiven Resultate in der Gaceta Electoral zu veröffentlichen.

Soweit die Zusammenfassung des Urteils. Mehr als der eine zitierte Satz zum Thema Cyberangriff ist nicht zu haben. Die Veröffentlichung der definitiven Resultate steht unmittelbar bevor. Dazu unten mehr.

 

Chavistische Haltung 

Die chavistischen Regierungsinstanzen und Medien behandeln die Angelegenheit als abgeschlossenen Disput. Sie stützen sich damit auf den Fakt, dass die Versuche, mittels zu einem Putsch «einladenden» blutigen Strassenunruhen in den allerersten Nachwahltagen versandet sind. Sie wurden dieses Mal zwar von Youtube-Auftritten berüchtigter Bosse krimineller Strukturen unterstützt, deren Herzen in Liebe zu Freiheit und Demokratie entflammt waren. Aber im Gegensatz zu früheren derartigen Versuchen reagierten die Repressionskräfte dieses Mal schnell und verhafteten viele (angeblich rund 2000) an den Unruhen Beteiligte. Auch eine auf den 17. August angesagte rechte «Grossdemonstration» konnte die Geister nicht mehr beflügeln – im Vergleich zu den gleichzeitigen chavistischen Mobilisierungen fiel sie recht kläglich aus.

Es fällt auf, wie der Chavismus eine neue «Normalität» betont. Die USA würden mit Blick auf das Scheitern ihrer bisherigen Putschversuche und die weltgrösste Ölreserve im Land, an deren Ausbeutung mit Washingtoner Plazet wieder US- und andere westliche Multis beteiligt sind, zwar politischen Lärm machen, aber nicht viel mehr. Mag sein, zumindest bis zu den US-Wahlen. Diese Position dient wohl auch der Beruhigung der Bevölkerung: Wir schaukeln das, ohne dass der Wirtschaftsterrorismus uns gleich wieder das Essen streitig macht.

 

Faschistische Rechte, neue progressive Neutralität

Die Weigerung der rechten Führungsriege, auch nur ein Element ihrer angeblichen Beweise für den chavistischen Wahlbetrug vorzulegen, spricht Bände. Sie bringt stattdessen Pseudoargumente ins Spiel. Etwa die im Westen eifrig geschlürfte Behauptung, die von ihr online publizierten Akten bewiesen ihren Kantersieg – viele davon offensichtlich gefälscht (ohne zwingend nötige Unterschriften, mit falschen Sicherheitscodes – Hashtags – geschmückt usw.). Wer auch nur ein Indiz für Betrug hat, würde diesen unter imposanter Medienbegleitung der zuständigen Wahlinstanz vorlegen. Da soll die zweite Lüge aus der Patsche helfen: Die Wahlbehörden inklusive Wahlkammer seien pro-chavistisch, ergo unglaubwürdig. Glaubwürdig waren der Rechten die Wahlbehörden nur die zwei Male, wo sie gewonnen hat (Parlamentswahlen 2015, Verfassungsreferendum 2007). Sonst immer Gebrüll von Wahlbetrug.

Die Ultrarechte jedenfalls beteuert nun, ab Januar werde ihr Kandidat González als rechtmässiger Präsident fungieren – ein Repeat der «Regierung» von Trumps Hampelmann Juan Guaidó. Sie diente als juristisches Feigenblatt für den jahrelangen US-britisch-westlichen Raub der im Ausland befindlichen venezolanischen milliardenschweren Devisenreserven. Am 13. August brachten die USA mit Unterstützung von Brasilien und Kolumbien in der OAS eine Resolution durch, die gebieterisch auf der sofortigen Publikation der Wahlakten und dem Ende der Repression gegen aufrechte Demokraten (s. o.) beharrte. Lula und Petro wissen, wie ihnen der mexikanische Präsident vorbuchstabiert hat, dass die OAS vom Nichtmitgliedsland Venezuela nichts zu fordern hat.

Am 23. August veröffentlichten die USA und zehn lateinamerikanische Regierungen (von Milei in Argentinien über die Putschpräsidentin in Peru bis zu Arévalo in Guatemala, aber ohne Brasilien, Kolumbien und Mexiko) eine Stellungnahme, um «kategorisch die Ankündigung des Obersten Gerichts von Venezuela, das gestern bekanntgab, eine sogenannte Verifizierung der Resultate [vom 28. Juli] abgeschlossen zu haben, zurückzuweisen». Und wer meldet sich einen Tag später wieder zu Wort, staatsmännisch, ausgewogen? Einen Tag später erklärten Lula und Petro, «die Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses kann nur mit der transparenten Veröffentlichung von aufgeschlüsselten und verifizierbaren Daten wiederhergestellt werden. Die politische Verifizierung in Venezuela bedarf des Einverständnisses, dass keine dauerhafte Alternative zum friedlichen Dialog und dem demokratischen Zusammenleben in der Diversität existiert (…) Brasilien und Kolumbien nehmen das Urteil des Obersten Gerichts von Venezuela zum Wahlprozess zur Kenntnis. Sie betonen, dass sie die Verbreitung der nach Wahllokal aufgeschlüsselten Resultate durch den Nationalen Wahlrat erwarten.» Am Schluss ihres Communiqués unterstreichen sie ihre unabhängige mit ihrer «totalen Opposition gegen unilaterale Sanktionen als Druckmittel».  

Wie im eingangs erwähnten Text vom 13. August dargelegt, lobte ein wichtiger Washingtoner Stratege in einem Vorwahl-Papier des Wilson Center Lula und Petro über den grünen Klee in Sachen Mässigung von Maduro. Diese «Offenheit» mutet ein wenig wie ein sanftes Druckmittel zwecks Wohlverhalten an, auch wie eine Blossstellung der neuen «Freunde» vor ihren linken Basen (der PT hat die Wahl Maduros begrüsst). Lula und Petro scheinen einen «dritten Weg» zwischen chavistischer «Sturheit» und Yankee-Selbstherrlichkeit zu gehen. Warum aber zielt ihre spezifische Kritik nur Maduro, nicht auf den faschistischen Klüngel um PUD-Chefin María Corina Machado? Warum beteiligen sie sich an Manövern der OAS, des «Kolonialministeriums» der USA, gegen Venezuela? Warum entblödet sich Petro unter Verweis auf eine kolumbianische Erfahrung der Machtteilung zweier rechter Parteien, den Chavismus zu einem regelmässigen Regierungswechsel mit der Rechten einzuladen? Warum schlägt Lula mal Neuwahlen, mal eine gemischte Interimsregierung Chavismus/María Corina Machado vor? Wem nützt das? 

Nun erwähnen die beiden aber einen einleuchtenden Punkt – Offenlegung der Akten. Natürlich haben auch sie vom anscheinend enormen Cyberangriff auf das Rechenzentrum des Wahlrats CEN und dessen Verbindungen mit den Computern in den Wahllokalen gehört, der die Übermittlung der Daten erst verunmöglicht, dann erschwert hat. Sie können daran zweifeln –eine Notlüge? – aber nicht einfach so tun, als ob davon nie die Rede war. Von Beginn weg insistieren sie im Einklang mit Washington etc. auf der detaillierten Veröffentlichung der Resultate aus den Wahllokalen, und zwar so, dass der Betrugsverdacht auf den Chavismus fällt. Sie wussten auch, dass nach Einschaltung der Wahlkammer des Obersten Gerichts wegen des permanenten Betrugsvorwurfs der CEN bis Abschluss des Verfahrens nichts mehr publizieren durfte. Die zur Schau gestellte Pose der unbestechlich Ehrlichkeit und der demokratischer Prinzipientreue hinterlässt einen schalen Geschmack.

 

Transparenz

Natürlich braucht es Transparenz, Veröffentlichung der Daten. Aber im Chor mit denen zu singen, die dies zwar lauthals fordern, aber faktisch verhindern wollen, zeugt nicht von Ehrlichkeit. Ein Blick auf die konkrete Lage:

Die Stimme wird im Wahllokal elektronisch eingegeben. Ein Ausdruck der Stimmabgabe wird von der wählenden Person, falls er ihrem Willen entspricht (wenn nicht, wiederholt die den Wahlvorgang), in eine Urne geworfen. Nach Wahlschluss werden die per Software errechneten Resultate mit denen auf Papier verglichen. Stimmen sie überein, unterschreiben alle WahlfunktionärInnen und ParteienvertreterInnen elektronisch die Computer-Wahlakte der Ergebnisse (inklusive Leer- und ungültige Stimmen), die dann zuhanden auch der ParteivertreterInnen ausgedruckt wird. Damit haben wir einen ersten Verifizierungspunkt, noch vor der Veröffentlichung der Aktenresultate, zu der einzig der CEN befugt ist – nicht etwa eine der beteiligten Parteien. Bei sämtlichen früheren Wahlen hat der CEN die Resultate aus den einzelnen Wahllokalen veröffentlicht. Hätte er das nicht getan, hätte eine rekurrierende Partei allenfalls beanstanden können, das Total des CEN widerspreche dem ihren, ohne aber die Möglichkeit zu haben, die Differenzen genauer verorten zu können.

Nun muss der CEN diese Tage das Schlussresultat inklusive aufgeschlüsselte Ergebnisse in den Wahllokalen veröffentlichen. Das Wahlgesetz legt dafür eine Frist von 2 Tagen nach der Wahl fest. Wäre er jetzt ausserstande, das nachzuholen, wofür aber nichts spricht, müsste er das klar begründen, viel genauer als viele bisherige Verlautbarungen zuständiger Stellen. Nehmen wir den Cyberangriff. Dass es ihn gegeben hat, steht ausser Zweifel, ausser man insinuiert, die mit anderen relevanten IT-Unternehmen verbandelte und an der NASDAQ-Börse kotierte Netscout stünde in Tat und Wahrheit Maduro zu Dienste (s. den eingangs erwähnten Text). Nun haben die DDos-Angriffe aufgehört oder mindestens markant nachgelassen, doch sind bis zum heutigen Tag viele Homepages staatlicher Stellen wie etwa die des CNE oder des Parlaments nicht erreichbar. Dafür scheint keine offizielle Erklärung zu zirkulieren.

 

Und eine nächste Destabilisierungsmasche

Heute nun veröffentlicht ein Mitglied des CNE, Juan Carlos Delpino von der Rechtspartei AD, ein Kommuniqué, in dem er Maduros Wahlsieg negiert. Präzis vor der erwarteten Veröffentlichung der Resultate durch den CNE. Dieser habe seine Pflicht zur Veröffentlichung der detaillierten Resultate binnen 48 h nach Wahlschluss mit der Behauptung eines Cyberangriffs in schwerster Weise verletzt; die Wahlkammer des Obersten Gerichts habe eh nichts zu sagen. Das Manöver ist klar: Über die bevorstehende CEN-Veröffentlichung soll mit Verweis auf den aufrechten Demokraten im CEN kaum berichtet werden, sondern über die von Delpino in Umlauf gebrachte Version. Der Mann weigerte sich am 28. Juli und tut das seither, wegen angeblicher Verstösse gegen das Wahlgesetz an den Beratungen des CEN teilzunehmen, weshalb er dessen Befunde nicht unterstützen könne. Die US-Medien haben sofort angebissen.

 

Worum es immer noch geht

Der brasilianische Ökonom Jair de Souza schrieb vor einigen Tagen:

«Die Wahrheit ist, dass Venezuela mit der bolivarischen Revolution unter der Führung von Hugo Chávez eine ähnliche Symbolik erhalten hat wie die haitianische Revolution in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Damals war das Beispiel der Befreiung der Sklaven durch die Sklaven selber ein Präzedenzfall, der von keiner der kolonialistischen und sklavenbesitzenden Mächte Europas und Amerikas geduldet werden konnte. Deshalb musste Haiti unsichtbar gemacht werden, damit es nicht als Beispiel für andere Völker dienen konnte, die Opfer von Kolonialismus und Sklaverei waren. Aus diesem Grund wurden von den herrschenden Klassen der Vereinigten Staaten, Europas und Amerikas alle möglichen Verbrechen und Grausamkeiten begangen und geduldet, um Haiti zu einem Beispiel für die Bestrafung aller zu machen, die es wagten, denselben Weg zu gehen.»

Haiti, Chavismo – plebejische Rebellion. Trotz allem geht sie auch in Venezuela weiter. So zum Beispiel gestern in Wahlen der eigenen Art. Die Mitglieder von 4500 Kommunen, territorialen Basiszusammenschlüssen, wählten von über 100'000 Vorschlägen aus den Kommunen rund ein Viertel aus, die von der Regierung finanziert werden. Es geht dabei vor allem um Projekte in Bereichen wie Wasserversorgung, Verkehrswege, Ernährung, Gesundheit, Erziehung, Strom, ÖV u. a. Aus einer Kommune, berichtete Telesur, kamen hundert Mitglieder zu Fuss, zu Ross, im Auto, per Moto, um die Wege zum Wahllokal für die Mitglieder der Kommune passierbar zu machen. Trotz herber Rückschläge und trotz einer Politik, die angesichts der durch die Sanktionen bewirkten extremen Krise versucht, kapitalistische Investitionen anzulocken, machen die unten weiter. Mit Unterstützung der Regierung.

Así las cosas.