Zurück 33 [rojavaagenda] Newsletter Nr. 50: Welt-Kobanê-Tag, Kontakt zu Öcalan, Anschlag in Ankara und Angriffe auf Rojava

Mittwoch, 30. Oktober 2024

 

Liebe Freund*innen und Genoss*innen

Wir kommen aus einer ereignisreichen und wichtigen Woche und bereiten
uns auf unsere grosse Demonstration zu 10 Jahren Widerstand in Kobanê
vor. Am Freitag bekannte sich die PKK zu dem Anschlag vom Mittwoch in
Ankara auf das Rüstungsunternehmen TUSAŞ. Nach dem Anschlag begann die
Türkei bereits seit Mittwochabend, ihre Angriffe auf Rojava, das
Kandilgebirge und die ezidische Region Şengal zu intensivieren. Am
Donnerstag wurde bekannt, dass die über dreieinhalb Jahre andauernde
Totalisolation von Abdullah Öcalan am Mittwoch erstmals durchbrochen
wurde. Zu diesen Ereignissen wollen wir hier eine genauere Einschätzung
geben und auf weiterführende Artikel verweisen.

Anschlag in Ankara

Am Freitagmorgen bekannte sich die PKK in einer Stellungnahme zu dem
Anschlag in Ankara. Am Mittwochnachmittag hatten zwei Mitglieder eines
autonomen Teams der HPG-Sondereinheit „Tabura Nemîran“ das Firmengelände
des Rüstungsunternehmens Türkische Luft- und Raumfahrtindustrie (TUSAŞ)
angegriffen. Der Angriff sei eine „Warnung gegen die genozidale Praxis
und Massaker in Kurdistan sowie die Isolationspolitik der türkischen
Staatsmacht“. Das Unternehmen TUSAŞ sei durch seine Waffen für den Tod
von tausenden Menschen in Kurdistan mitverantwortlich und somit ein rein
militärisches Ziel. Weiterführende Informationen findet ihr auf ANF [1].

Angriffe auf Rojava und Başûr

Bereits am Mittwochabend begann die Türkei mit Luftangriffen auf Rojava,
Şengal und das Kandilgebirge. Die HPG verkündete, dass die Angriffe sich
teilweise als Reaktion auf den Anschlag auf ihre Stellungen
konzentrierten, aber keine Verluste in ihren Reihen zu vermelden seien.
Weiterhin erklärte sie, dass die Angriffsziele in Rojava und Şengal in
keinem organisatorischen Zusammenhang mit ihnen stünden und
ausschließlich mit Kurdenfeindlichkeit erklärt werden könnten [1]. Die
Angriffe auf Rojava dauern weiterhin an und nehmen vor allem zivile
Siedlungsgebiete und die Infrastruktur ins Visier. Seit Beginn der
Angriffe sind mindestens 18 Menschen getötet und 50 weitere teils schwer
verletzt worden. Ziele der Angriffe sind häufig kritische
Infrastrukturen, die das Überleben der Menschen in der Region sichern,
wie Landwirtschaftsbetriebe, Getreidesilos, Elektrizitätswerke, Fabriken
und Ölraffinerien [2]. Riseup4Rojava rief am Donnerstag dazu auf, gegen
die Angriffe auf Nordostsyrien auf die Strasse zu gehen und die
Revolution zu verteidigen [3]. Daraufhin kam es Europaweit zu
Protestaktionen. Auch in der Schweiz gingen wir in Solothurn, Lausanne,
Genf, Chur, Bern und Zürich am Freitag und Samstag auf die Strasse.

Kontakt zu Abdullah Öcalan

Letzten Donnerstagmorgen gab es eine sehr erfreuliche Nachricht: Nach
über dreieinhalb Jahren andauernder Totalisolation konnte Abdullah
Öcalan erstmals von einem Familienmitglied besucht werden. Sein Neffe,
der DEM-Politiker Ömer Öcalan, besuchte ihn am Mittwoch und berichtete
auf X, dass dieser bei guter Gesundheit sei. Außerdem veröffentlichte er
folgende Botschaft von Abdullah Öcalan: „Die Isolation geht weiter. Wenn
die Bedingungen entstehen, habe ich die theoretische und praktische
Kraft, diese Phase von der Grundlage des Konflikts und der Gewalt auf
eine rechtliche und politische Grundlage zu lenken.“ Auch die
Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) betonte, dass die
Isolation noch nicht zu Ende sei [4]. In ihrer Stellungnahme [5]
schrieben sie, dass es unmöglich sei, über Fortschritte zu sprechen,
solange die Isolationshaft nicht vollständig aufgehoben sei und Öcalans
Gesundheit und Sicherheit nicht gewährleistet seien. Damit Öcalan seine
historische Verantwortung in der demokratischen, politischen Lösung für
Kurdistan wahrnehmen könne, brauche er ein akzeptables Arbeitsumfeld
[5]. Am 16. November wird in Köln eine Großdemonstration für die
Freiheit von Öcalan stattfinden [6]. Nach dem ersten Durchbruch der
Totalisolation ist es wichtig, dass wir uns nicht entspannen, sondern im
Gegenteil den Druck noch weiter erhöhen. Deshalb kommt mit uns nach Köln
für die Freiheit von Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der
kurdischen Frage.

Welt-Kobanê-Tag

Zu 10 Jahren Widerstand in Kobanê veröffentlicht das nd ein Interview
mit einem Journalisten, der sich vor 10 Jahren dem Widerstand gegen den
IS in Kobanê angeschlossen hatte. Dieser blickt auf die erfolgreiche
Verteidigung von Kobanê durch die kurdischen Verteidigungseinheiten
zurück. Viele Jugendliche schlossen sich damals der Verteidigung Kobanês
an, in ganz Kurdistan kam es zu Massenaufständen, die später als
Kobanê-Aufstand weltweite Aufmerksamkeit erregten. Auf der ganzen Welt
gingen Menschen für die Verteidigung Kobanês auf die Strasse, und der 1.
November ist seitdem als Welt-Kobanê-Tag bekannt. Nach 10 Jahren ist
Kobanê und ganz Rojava weiterhin von IS-Schläferzellen und
radikal-islamischen Milizen, die mit dem türkischen Staat paktieren,
bedroht [7]. Für den kommenden Freitag rufen wir ALLE dazu auf, zum
Welt-Kobanê-Tag auf die Strasse zu gehen [8].
ÜBERALL IST WIDERSTAND, ÜBERALL IST KOBANÊ!

[1]
[2]
[4]
[6]
[7]
[8]

Demos zum Welt-Kobanê-Tag und für die Freiheit von Abdullah Öcalan: 

Wir rufen ALLE auf an die Demo zum Welt-Kobanê-Tag zu kommen!
Freitag, 01.11.2024 um 19:00 Uhr, Ni Una Menos Platz (ehem.
Helvetiaplatz)
34 Organisationen rufen dazu auf, am 10. Jahrestag des historischen
Widerstands gegen den IS um die kurdische Stadt Kobanê in Rojava (Nord-
und Ostsyrien) auf die Strasse zu gehen.

Wir rufen ALLE auf an die Demo für die Freiheit von Abdullah Öcalan zu
kommen!
Samstag, 16.11.2024, Köln
Es werden Busse aus der Schweiz nach Köln fahren. Der offizielle Aufruf
folgt noch.

Mit solidarischen und kämpferischen Grüssen
Rojava Komitee Zürich

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Genozid als neue Normalität?

Samstag, 19. Oktober 2024

 

(zas, 19.10.24) Am letzten 30. September sagte Matt Miller, Sprecher des State Departments, bei einem Pressegespräch etwas Denkwürdiges. In Sachen Israel im Libanon wolle man «sicherzustellen, dass sie die Kapazität haben, terroristische Ziele anzugreifen (…). Aber letztlich wollen wir eine diplomatische Lösung sehen.» Fragte ein Journalist, ob das nicht eine Neuauflage der damaligen Politik in Sachen Rafah und «rote Linien» sei. Antwort: «Moment! Wir wollten nie eine diplomatische Lösung mit der Hamas.» Ob aber ein angestrebter Waffenstillstand nicht auch Diplomatie voraussetze? «Wir waren stets der Zerstörung der Hamas verpflichtet. Wir wollten einen Waffenstillstand».

Am 3. Oktober machte der libanesische Aussenminister im Interview mit CNN öffentlich, dass sich Hizbollah-Chef Nasrallah mit dem Biden/Macron-Vorschlag eines 21-tägigen Waffenstillstandes einverstanden erklärt hatte. Laut franko-amerikanischer Mitteilung an die libanesische Regierung war auch Netanyahu an Bord. Ein US-Sondervermittler sollte in der Region den definitiven Wortlaut aushandeln. Doch die folgende Tötung Nasrallahs beendete die Drohung eines Waffenstillstandes.

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Die Washington Post am 13. Oktober: «Die israelische Armee beschoss am Montag früh eine, wie sie sagte, Hamas-Kommandozentrale, die im Gelände eines Spitals in Deir al-Balah in der Region von Zentralgaza eingebettet war.» Mindestens vier Tote, Dutzende Verletzte, brennende Zelte. Der 19-jähirge Sha’ban Al Dalouin und seine Mutter verbrannten bei lebendigem Leib. Seither ist Sha’bans 10-jähriger Bruder an den Verbrennungen gestorben, seine beiden Schwestern sind in kritischem Zustand. Die IDF bombardieren systematisch Schulen und Spitäler unter dem Vorwand, die Hamas operiere dort. Der UNRWA-Vizedirektor für Gaza, Sam Rose, sagte kürzlich, mehr als 11'000 Kinder seien getötet worden, «das ist ein Klassenzimmer voll Kindern jeden Tag.» 99 US-ÄrztInnen und Pflegepersonen, vom Einsatz in Gaza zurück, schrieben in ihrem Offenen Brief an Biden und Harris: «Wir möchten ganz klar sagen: Nicht ein einziges Mal hat jemand von uns irgendeine Art von militanten palästinensischen Aktivitäten in einem der Krankenhäuser oder in anderen Gesundheitseinrichtungen des Gazastreifens gesehen.»

Sha'ban und Familie

 
Abdul Ruhman, Bruder von Sha'ban

Der Angriff auf das Spital in Deir al-Balah, lesen wir in Democracy Now, «erfolgte Stunden nach der Bombardierung einer Schule im Flüchtlingslager Nuseirat, in der vertriebene PalästinenserInnen untergebracht sind. Bei dem Angriff wurden mindestens 22 Menschen getötet. Nach UNO-Angaben sollten in der Mufti-Schule heute Polioimpfungen durchgeführt werden.» Die IDF haben Vertreibungskommandos für fast ganz Nord-Gaza erlassen. Auch für drei Spitäler: Al-Awda, Indonesian und Kamal Adwan. In der Sendung erklärt der Leiter des Spitals Al-Awda im Flüchtlingslager Jabaliya, Mohammed Salha, dass die «Evakuierung» des Spitals den Tod vieler PatientInnen zur Folge hätte, weshalb eine Gruppe von Ärztinnen inklusive er selber sich weigerten, die transportunfähigen PatientInnen zu verlassen. Die Spitäler sind jetzt eingekesselt und werden manchmal beschossen.

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Am letzten 7. Oktober interviewte die CNN-Journalistin Kate Bouldon die auf Notfallchirurgie für Kinder spezialisierte US-Ärztin Tanya Hassan, die dieses Jahr in Gaza gearbeitet hatte. Bouldon sprach eingangs von einer «verzweifelten humanitären Lage». Die Ärztin erwiderte: «Kate, ganz ehrlich, eine humanitäre Krise ist das, was man bei einem Wirbelsturm oder einem Erdbeben erlebt. Das ist mein Beruf. Dies hier ist etwas anderes. Es handelt sich nicht um eine humanitäre Krise. Kate, ich sage es sehr deutlich, damit Ihre Zuschauer es hören können, dies ist Völkermord. Wenn 70 Prozent der getöteten Menschen Frauen und Kinder sind, wenn die Bevölkerung keine Nahrung, kein Wasser und keine Medikamente mehr hat, wenn es Angriffe gibt, wiederholte Angriffe auf alle Krankenhäuser, die Kliniken, die Verteilungsstellen für Hilfsgüter, die humanitären Hilfsorganisationen, wenn mehr UN-Mitarbeitende in Gaza getötet werden als je in der Geschichte der UN. In den letzten 24 Stunden wurde ein Krankenhaus bombardiert, wie Sie gerade berichtet haben, das Krankenhaus, in dem ich persönlich gearbeitet habe, und ich kann Ihnen sagen, dass dort jede Sekunde eines jeden Tages versucht wird, Leben zu erhalten.»

«Es ist also wirklich schwer, das immer und immer wieder zu hören, und zwar so, wie es in den Medien kommt, was, offen gesagt, sehr irreführend ist. Es ist sehr irreführend. Dreihundertfünfundsechzig Tage sind vergangen. Die Zahl der Todesopfer ist so veraltet, dass wir keine Ahnung haben, wie viele Menschen getötet wurden. Aber ich habe - ich habe wirklich Angst davor, was wir herausfinden werden, wenn sich der Staub gelegt hat. Darüber werden Geschichtsbücher geschrieben werden. Und die Länder werden Rechenschaft ablegen müssen - die Medienagenturen werden mit ihrer grossen Rolle beim Völkermord an einer ganzen Bevölkerung und bei der Zerstörung des humanitären Rechts und der Rechtsstaatlichkeit konfrontiert werden.»

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Am 10. Oktober 2024 veröffentliche das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte eine Pressemitteilung zu einem Bericht seiner Internationalen Untersuchungskommission zur Lage in Palästina. Sie beginnt so:

«Israel hat eine konzertierte Politik zur Zerstörung des Gesundheitssystems im Gazastreifen als Teil eines umfassenderen Angriffs auf den Gazastreifen betrieben und dabei Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Ausrottung gegen die Menschlichkeit mit unerbittlichen und vorsätzlichen Angriffen auf medizinisches Personal und Einrichtungen begangen (…). Die Kommission untersuchte auch die Behandlung palästinensischer Gefangener in Israel und israelischer und ausländischer Geiseln im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 und kam zu dem Schluss, dass Israel und bewaffnete palästinensische Gruppen für Folter und sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt verantwortlich sind.»

(…) «Der Bericht hält fest, dass die israelischen Sicherheitskräfte vorsätzlich medizinisches Personal getötet, inhaftiert und gefoltert und medizinische Fahrzeuge angegriffen haben, während sie die Belagerung des Gazastreifens verschärften und Bewilligungen für das Verlassen des Gebiets für medizinische Behandlungen einschränkten. Diese Handlungen stellen die Kriegsverbrechen der vorsätzlichen Tötung und Misshandlung (…) und das Verbrechen gegen die Menschheit der Ausrottung dar.»

«Die Angriffe auf medizinische Einrichtungen im Gazastreifen, insbesondere auf solche, die der pädiatrischen und neonatalen Versorgung dienen, haben zu unermesslichem Leid der Kinder, einschliesslich der Neugeborenen, geführt, heisst es in dem Bericht. Mit der Fortsetzung dieser Angriffe hat Israel (…) bewusst Lebensbedingungen geschaffen, die zur Zerstörung von Generationen palästinensischer Kinder und möglicherweise des palästinensischen Volkes als Ganzes führen.»

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Keine humanitäre Krise, sondern Kriegsverbrechen, Genozid – die Schweiz macht mit. Zum Beispiel mit der Bekämpfung von lindernder Hilfe. Verlogen wie gewohnt, wird das mit «Antiterrorismus» begründe, mit UNRWA als Instrument der Hamas etc. Solche Kriegstrommler werden sich auch kaum von Jonathan Adlers Artikel Israel’s paradoxical crusade against UNRWA im israelischen Portal 972mag.com stören lassen. Aber wer will, kann etwas lernen. Der Autor beschreibt, wie die israelische Regierung bei der ersten Runde im September der Polioimpfung in Gaza zwangsläufig mit der UNRWA kooperierte, ohne die diese Runde unmöglich gewesen wäre. Zwangsläufig, weil man auch in Jerusalem wusste, dass die Kinderlähmung ansonsten von ihrer Soldateska heimgeschleppt werden könnte.[1] Ihnen war auch klar, dass ihre hierzulande von den Pro-Genozid-Kräften wiederholten Propagandalügen vom Ersatz der UNRWA durch andere UNO-Organismen oder NGOs das sind – Lügen. Selbst einem Cassis kam diese Erkenntnis einmal über die Lippen, als er begründen musste, warum die Schweiz vorderhand einen kümmerlichen Beitrag an die UNRWA weiterzahlt.

Aus Tel Aviv beschreibt Yaniv Cogan in Blinken Approved Policy to Bomb Aid Trucks, Israeli Cabinet Members Suggest Hinweise auf eine Absprache letztes Jahr zwischen Tel Aviv und Blinken betreffs Bombardierung auch von vereinbarten Hilfslieferungen, sofern diese von der Hamas «gekapert» würden. Tatsache ist: Eine lange Kette von Erschiessungen und Massakern, auch an von Hungrigen «belagerten» Verteilstellen selber, blieb straffrei. Denn Israel hatte palästinensische Polizisten (Hamas!) vor Ort ausfindig gemacht. Diese sollten laut Zeugenaussagen verhindern, dass Milizen der mafiösen Eliten-Clans alle Nahrungsmittel raubten. Eine «Bestrafung» aber passt ins Bild. Die IDF hatten einen Nahrungstransport der strikt pro-zionistischen NGO Word Central Kitchen (WCK) Ende März beschossen. Das schlug im Westen viel mehr Wellen als alle anderen Angriffe auf Hilfsleistungen. Doch warum eine Art friendly fire? Weil laut Cogan der befehlende Oberst Nochi Mendel (aus der Siedlerszene) einen bewaffneten Begleiter des Hilfswerks mit Hamas verwechselt und insofern strikt im Rahmen der geltenden Anweisungen gehandelt habe. Der Oberst wurde aus der Armee entlassen und konnte «wieder zu seinem prestigeträchtigen Tagesjob als Direktor des Siedlungsdepartements im israelischen Verteidigungsministerium zurückkehren». Die «Untersuchung» des Vorfalls wurde «vom Präsidenten und CEO eines der grössten israelischen Waffenproduzenten» geleitet, zur Zufriedenheit des State Departments, so Cogan. Eine «Strafbeförderung», die jedenfalls in die seit dem 7. Oktober 2023 befolgte Strategie Aushungerung der palästinensischen Bevölkerung passt. (Auch WCK wird in der Schweiz zur Alternative zur UNRWA hochgeplappert.)

Das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) schrieb am 9. Oktober: «Die Hilfslieferungen in den Gazastreifen sind auf den niedrigsten Stand seit Monaten gesunken, so dass sich das WEP gezwungen sah, die Verteilung von Lebensmittelpaketen im Oktober einzustellen.» 100'000 Tonnen Nahrungsmittel, «genug, um mehr als eine Million Menschen fünf Monate lang zu ernähren», stehen in Jordanien und Ägypten bereit, doch ihre Durchfahrt an den Grenzen wird, so die Sprachregelung, von Israel «eingeschränkt»

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Im Libanon sind wohl über 2 Millionen auf der Flucht, Vertreibungskommandos jagen sich, sie decken zurzeit ein Viertel des libanesischen Territoriums ab. Die Meldungen gleichen jenen aus Gaza (da zwei Dutzend Leichen, dort ein anderes), bombardierte Fluchtwege der Bevölkerung u. a.. Netanyahu drückte in einer Botschaft an die Menschen im Libanon die israelische Strategie so aus: «Befreit euer Land von Hizbollah (….) Ihr habt die Chance, den Libanon davor zu bewahren, in den Abgrund eines langen Kriegs zu fallen, der zu Zerstörung und Leiden führen wird, wie wir es in Gaza gesehen haben (…). Es ist eure Wahl. Ihr könnt euer Land jetzt zurückholen.» Ein Aufruf zur Entfachung eines neuen Bürgerkriegs, gerichtet an jene Kräfte, die schon vor Jahrzehnten im Land massakriert haben. Die libanesisch-australische Schriftstellerin Rania Abouzeid beschreibt in War Comes to Beirut, wie der Terror der Bomben tatsächlich Niederträchtigkeit provoziert, etwa eine Haltung gegen die Aufnahme von Geflüchteten der falschen Religion. Aber sie beschreibt andererseits auch ergreifend, wie Menschen, unabhängig von Konfession, Ethnie, politischer Ausrichtung zusammenrücken und sich helfen – gegen das Terrorkommando. Solo el pueblo salva al pueblo …

Beirut: Kinder blicken auf die Drojhnen am Himmel. Foto: New Yorker

 

Viele Analysen gehen von einem wahren Siegestaumel der Neocons in Washington und deren Geistesverwandten in Israel aus. Jetzt, wo die «Achse des Widerstands», also die Kräfte, die mit Iran zu tun haben, in der Region schwere Schläge erleiden, scheint die schon unter der ersten Bush-Administration angestrebte «Neuordnung im Nahen Osten» wieder zur Handlungsmaxime zu werden. Mit einer kalkulierten Brutalität und Herrenmenschenattitüde des Westens, die wir so seit vielen Jahrzehnten nicht erlebt haben. Bei dem ersten gestreamten Völkermord, in Gaza begonnen und immer weiter intensiviert, legen die Mächtigen Hemmungen ab. Die UNO-Organe dokumentieren den Genozid? Antisemitischer Scheisshaufen. 12'000 Kinder in Gaza gestorben? Vorbildlich! Die Haaretz interviewte kürzlich Giora Eiland, Ex-General und Ex-Nationaler Sicherheitsberater. Einer der Köpfe hinter dem sogenannten «Plan der Generäle», der vorsieht, die Bevölkerung des nördlichen Gazas solange auszuhungern und zu bombardieren, bis sie tot oder definitiv weg ist. Seit Anfang Oktober wird das parallel zum Krieg im Libanon offenbar umgesetzt. (S. die vorher zitierte Stellungnahme des WFP.) Im Gespräch fragt die Journalistin einmal: «Wie leben Sie, Giora, mit der hohen Sterbensrate der Kinder in Gaza?» Seine Antwort: «Es ist so: In Gaza gibt es eine sehr hohe Geburtenrate, so dass es viele Kinder gibt.» Und die sterben halt, trotz aller vorbildlicher Rücksicht der IDF. Er betont, wie die westlichen Militärs daran nichts auszusetzen haben.

Ob dieser Plan der Generäle voll durchgezogen oder mit Blick auf die US-Pläne für den «Wiederaufbau» aufs normale Genozidsoll gemildert wird, ist offen. Unter «Wiederaufbau» verstehen sie eine politisch dank Einbezug der Palästinensischen Behörde beruhigte Enklave, in der transnationale Investitionen so tolle Dinger wie ein supermodernes Fussballstadion hinstellen, wie eine Businesskonferenz USA/Golfstaaten schon in den ersten Phasen des Kriegs anpries. Eine Zurichtungsstrategie, die wahrscheinlich Wunschdenken bleibt.

Von einem wie Eiland bis zu seinen Epigonen in der Schweiz, denen der Genozid zur Selbstverteidigung wird. Er ist allenfalls auf Tauglichkeit zu überprüfen und ansonsten in das vage Reich des Humanitären zu transportieren. Doch, auch in diesen Kreisen und in ihren Medien ist manchmal ein Unwohlsein zu spüren, aber das reicht (bei letzteren) nur sehr selten zu einem klaren Satz, zu einer ehrlichen Darstellung.

Die Vernichtung von Menschen, Gesellschaften, Lebensvoraussetzungen – vielleicht auch der eigenen - wird als Politikmassnahme eingeübt. Nicht, dass das Morden neu wäre. Neu ist seine «Selbstverständlichkeit». Heute sehen wir, dass sie damit durchkommen. Nicht als bleibender Erfolg in den leidgeprüften Territorien des Mittleren Ostens. Sondern als künftige Normalität im Umgang mit … Unerwünschten. Mag sein, dass der relative Verlust des globalen westlichen Machtmonopols mit der Raserei zu tun hat. Jedenfalls sind die Verbindungslinien zwischen Genozid und etwa dem sachlich gemanagten Massenmord an Flüchtlingen deutlich. (Im Frühjahr eilte die EU-Kommissionspräsidentin nach Kairo, um 7 Milliarden Euros zu übergeben. Stoppt die Flüchtlinge aus dem Sudan, nehmt keine aus Gaza! Nach aussen ein Geldtransfer, nach innen Leiden und Tod.)

Die alte «Entsorgung» «unbrauchbarer» Menschenmassen. Das wiederentdeckte Modell für die Zukunft.



[1] Die unbedingt nötige zweite Impfrunde müsste jetzt anlaufen. Doch wie soll sie in Nord-Gaza organisiert werden, wenn die IDF die Vertreibung der Bevölkerung anordnet?

Gaza: Ein Brief über das Unvorstellbare

Montag, 14. Oktober 2024

 

(zas, 13.10.24) Ein Brief, der dein Blut fast erstarren lässt, der tief schmerzt.

Er muss gelesen werden.

Veröffentlicht haben den Brief – Letter to President Biden and Vice President Harris – Anfang Oktober 99 US-Ärztinnen, Chirurgen, Hebammen, Pflegende, die im Schnitt während drei Wochen in Gaza gearbeitet haben. Auf der gleichen Homepage sind ähnliche frühere Schreiben aus den USA und welche aus UK und Kanada veröffentlicht.

Wir lesen:

«Dieser Brief und der Anhang belegen, dass die Zahl der Todesopfer in Gaza seit Oktober weitaus höher ist, als in den Vereinigten Staaten angenommen wird. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer dieses Konflikts bereits über 118’908 liegt, was erstaunliche 5.4 % der Bevölkerung des Gazastreifens ausmacht.»

(…)

«Bis auf wenige Ausnahmen ist jeder und jede in Gaza krank, verletzt oder beides. Dazu gehören alle einheimische medizinisch Arbeitenden, alle internationalen Freiwilligen und wahrscheinlich jede israelische Geisel: jeder Mann, jede Frau und jedes Kind.»

(…)

«Kinder gelten in bewaffneten Konflikten gemeinhin als unschuldig. Alle, die diesen Brief unterschreiben, haben Kinder in Gaza gesehen, die Gewalt erlitten haben, die absichtlich gegen sie gerichtet gewesen muss. Alle von uns, die in der Notaufnahme, auf der Intensivstation oder in der Chirurgie gearbeitet haben, haben regelmässig oder sogar täglich Kinder im Vorschulalter mit Schusswunden im Kopf oder in der Brust behandelt. Es ist unmöglich, dass ein derartig weit verbreitetes Erschiessen junger Kinder im gesamten Gazastreifen, das sich über ein ganzes Jahr hinzieht, zufällig ist oder den höchsten israelischen Zivil- und Militärbehörden nicht bekannt ist.»

(…)

«Die schwangeren und stillenden Frauen, die wir behandelten, waren besonders mangelhaft ernährt. Diejenigen von uns, die mit schwangeren Frauen arbeiteten, sahen regelmässig Totgeburten und Todesfälle bei Müttern, die in jedem Gesundheitssystem eines Entwicklungslandes leicht vermeidbar gewesen wären. Die Infektionsrate bei Kaiserschnittentbindungen war erstaunlich hoch. Frauen wurden vaginal entbunden und sogar Kaiserschnitte ohne Anästhesie durchgeführt, und danach gab es nur Tylenol, weil keine anderen Schmerzmittel zur Verfügung standen.»

«Wir alle beobachteten, dass die Notaufnahmen von Patienten, die wegen chronischer Erkrankungen wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes behandelt werden mussten, überfüllt waren. Abgesehen von Traumapatienten waren die meisten Betten auf der Intensivstation mit Patienten mit Typ-1-Diabetes belegt, die keinen Zugang mehr zu Insulin hatten. Die fehlende Verfügbarkeit von Medikamenten, der weit verbreitete Verlust von Strom und Kühlung sowie der unregelmässige Zugang zu Nahrungsmitteln machten eine Behandlung unmöglich. Israel hat mehr als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen zerstört und fast tausend palästinensische MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens getötet, d. h. mehr als eine/r von 20 Mitarbeiterden im Gesundheitswesen in Gaza. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung aufgrund der tödlichen Kombination aus militärischer Gewalt, Unterernährung, Krankheit und Vertreibung massiv gestiegen.»

(…)

«Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Material im Anhang führen uns zu der Überzeugung, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt um ein Vielfaches höher ist als vom Gesundheitsministerium in Gaza angegeben. Wir glauben auch, dass dies ein Beweis für weit verbreitete Verstösse gegen die amerikanischen Gesetze, die den Einsatz amerikanischer Waffen im Ausland regeln, und gegen das humanitäre Völkerrecht ist. Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeiten gegen Frauen und Kinder, an denen unsere Regierung direkt beteiligt ist, nicht vergessen.»

«Als wir unsere KollegInnen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, war klar, dass sie unterernährt und sowohl körperlich als auch seelisch am Boden zerstört waren. Wir sahen rasch,  dass unsere palästinensischen KollegInnen aus dem Gesundheitswesen zu den am stärksten traumatisierten Menschen im Gazastreifen, vielleicht sogar in der ganzen Welt, gehörten. Wie praktisch alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten von ihnen lebten in und um ihre Krankenhäuser mit ihren überlebenden Angehörigen unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie weiterhin nach einem zermürbenden Zeitplan arbeiteten, waren sie seit dem 7. Oktober nicht mehr bezahlt worden. Alle waren sich bewusst, dass ihre Arbeit im Gesundheitswesen sie zur Zielscheibe Israels gemacht hatte. Dies ist eine Verhöhnung des Schutzstatus, den Krankenhäuser und Gesundheitsarbeitende nach den ältesten und am meisten akzeptierten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts geniessen.»

«Wir trafen in Gaza medizinisches Personal, das in Krankenhäusern arbeitete, die von Israel überfallen und zerstört worden waren. Viele dieser Kollegen wurden während der Angriffe von Israel gefangen genommen. Sie alle erzählten uns mit kleinen Variationen dieselbe Geschichte: In der Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, ständig physisch und psychisch misshandelt und schliesslich nackt am Strassenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer KollegInnen aus dem Gesundheitswesen sagten uns, dass sie einfach auf den Tod warteten.»

«Die 99 Unterzeichner dieses Schreibens haben zusammen 254 Wochen in den grössten Krankenhäusern und Kliniken des Gazastreifens verbracht. Wir möchten ganz klar sagen: Nicht ein einziges Mal hat jemand von uns irgendeine Art von militanten palästinensischen Aktivitäten in einem der Krankenhäuser oder anderen Gesundheitseinrichtungen des Gazastreifens gesehen.»

(…)

«Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, jede Lösung für dieses Problem muss mit einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand beginnen. Wir wissen es zu schätzen, dass Sie an einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas arbeiten, aber Sie haben eine offensichtliche Tatsache übersehen: Die Vereinigten Staaten können den Kriegsparteien einen Waffenstillstand aufzwingen, indem sie einfach die Waffenlieferungen an Israel stoppen und ankündigen, dass wir uns an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen beteiligen werden.»

«Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, wir fordern Sie auf, dem Staat Israel unverzüglich die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung zu verweigern und sich an einem internationalen Waffenembargo gegen Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen zu beteiligen, bis ein dauerhafter Waffenstillstand im Gazastreifen erreicht ist, einschliesslich der Freilassung aller israelischen und palästinensischen Geiseln, und bis eine dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zwischen den beiden Parteien ausgehandelt ist.»

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Es gäbe viel noch anzuführen: Die derzeitige Ausweitung des Terrors auf Teile des Libanons; die kalte Zielgerichtetheit dieser Kriegsführung, nicht nur Israels, sondern des gesamten Westens, bis hin zur unsäglichen Sabotage auch in der Schweiz der humanitären Hilfe, kaschiert hinter bewussten Lügen von «Alternativen» zur UNRWA, wohlwissend, dass diese nicht existieren.

Aber für heute genug. Machen wir das mutige Schreiben der 99 bekannt – diesen Blick auf das Grauen. Wie andere Schreie aus Palästina, von Verzweifelten, von Angegriffenen, von sich Wehrenden, mobilisiert er gegen die Propaganda der Grausamen.