Gaza: Ein Brief über das Unvorstellbare

Montag, 14. Oktober 2024

 

(zas, 13.10.24) Ein Brief, der dein Blut fast erstarren lässt, der tief schmerzt.

Er muss gelesen werden.

Veröffentlicht haben den Brief – Letter to President Biden and Vice President Harris – Anfang Oktober 99 US-Ärztinnen, Chirurgen, Hebammen, Pflegende, die im Schnitt während drei Wochen in Gaza gearbeitet haben. Auf der gleichen Homepage sind ähnliche frühere Schreiben aus den USA und welche aus UK und Kanada veröffentlicht.

Wir lesen:

«Dieser Brief und der Anhang belegen, dass die Zahl der Todesopfer in Gaza seit Oktober weitaus höher ist, als in den Vereinigten Staaten angenommen wird. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer dieses Konflikts bereits über 118’908 liegt, was erstaunliche 5.4 % der Bevölkerung des Gazastreifens ausmacht.»

(…)

«Bis auf wenige Ausnahmen ist jeder und jede in Gaza krank, verletzt oder beides. Dazu gehören alle einheimische medizinisch Arbeitenden, alle internationalen Freiwilligen und wahrscheinlich jede israelische Geisel: jeder Mann, jede Frau und jedes Kind.»

(…)

«Kinder gelten in bewaffneten Konflikten gemeinhin als unschuldig. Alle, die diesen Brief unterschreiben, haben Kinder in Gaza gesehen, die Gewalt erlitten haben, die absichtlich gegen sie gerichtet gewesen muss. Alle von uns, die in der Notaufnahme, auf der Intensivstation oder in der Chirurgie gearbeitet haben, haben regelmässig oder sogar täglich Kinder im Vorschulalter mit Schusswunden im Kopf oder in der Brust behandelt. Es ist unmöglich, dass ein derartig weit verbreitetes Erschiessen junger Kinder im gesamten Gazastreifen, das sich über ein ganzes Jahr hinzieht, zufällig ist oder den höchsten israelischen Zivil- und Militärbehörden nicht bekannt ist.»

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«Die schwangeren und stillenden Frauen, die wir behandelten, waren besonders mangelhaft ernährt. Diejenigen von uns, die mit schwangeren Frauen arbeiteten, sahen regelmässig Totgeburten und Todesfälle bei Müttern, die in jedem Gesundheitssystem eines Entwicklungslandes leicht vermeidbar gewesen wären. Die Infektionsrate bei Kaiserschnittentbindungen war erstaunlich hoch. Frauen wurden vaginal entbunden und sogar Kaiserschnitte ohne Anästhesie durchgeführt, und danach gab es nur Tylenol, weil keine anderen Schmerzmittel zur Verfügung standen.»

«Wir alle beobachteten, dass die Notaufnahmen von Patienten, die wegen chronischer Erkrankungen wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes behandelt werden mussten, überfüllt waren. Abgesehen von Traumapatienten waren die meisten Betten auf der Intensivstation mit Patienten mit Typ-1-Diabetes belegt, die keinen Zugang mehr zu Insulin hatten. Die fehlende Verfügbarkeit von Medikamenten, der weit verbreitete Verlust von Strom und Kühlung sowie der unregelmässige Zugang zu Nahrungsmitteln machten eine Behandlung unmöglich. Israel hat mehr als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen zerstört und fast tausend palästinensische MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens getötet, d. h. mehr als eine/r von 20 Mitarbeiterden im Gesundheitswesen in Gaza. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung aufgrund der tödlichen Kombination aus militärischer Gewalt, Unterernährung, Krankheit und Vertreibung massiv gestiegen.»

(…)

«Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Material im Anhang führen uns zu der Überzeugung, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt um ein Vielfaches höher ist als vom Gesundheitsministerium in Gaza angegeben. Wir glauben auch, dass dies ein Beweis für weit verbreitete Verstösse gegen die amerikanischen Gesetze, die den Einsatz amerikanischer Waffen im Ausland regeln, und gegen das humanitäre Völkerrecht ist. Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeiten gegen Frauen und Kinder, an denen unsere Regierung direkt beteiligt ist, nicht vergessen.»

«Als wir unsere KollegInnen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, war klar, dass sie unterernährt und sowohl körperlich als auch seelisch am Boden zerstört waren. Wir sahen rasch,  dass unsere palästinensischen KollegInnen aus dem Gesundheitswesen zu den am stärksten traumatisierten Menschen im Gazastreifen, vielleicht sogar in der ganzen Welt, gehörten. Wie praktisch alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten von ihnen lebten in und um ihre Krankenhäuser mit ihren überlebenden Angehörigen unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie weiterhin nach einem zermürbenden Zeitplan arbeiteten, waren sie seit dem 7. Oktober nicht mehr bezahlt worden. Alle waren sich bewusst, dass ihre Arbeit im Gesundheitswesen sie zur Zielscheibe Israels gemacht hatte. Dies ist eine Verhöhnung des Schutzstatus, den Krankenhäuser und Gesundheitsarbeitende nach den ältesten und am meisten akzeptierten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts geniessen.»

«Wir trafen in Gaza medizinisches Personal, das in Krankenhäusern arbeitete, die von Israel überfallen und zerstört worden waren. Viele dieser Kollegen wurden während der Angriffe von Israel gefangen genommen. Sie alle erzählten uns mit kleinen Variationen dieselbe Geschichte: In der Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, ständig physisch und psychisch misshandelt und schliesslich nackt am Strassenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer KollegInnen aus dem Gesundheitswesen sagten uns, dass sie einfach auf den Tod warteten.»

«Die 99 Unterzeichner dieses Schreibens haben zusammen 254 Wochen in den grössten Krankenhäusern und Kliniken des Gazastreifens verbracht. Wir möchten ganz klar sagen: Nicht ein einziges Mal hat jemand von uns irgendeine Art von militanten palästinensischen Aktivitäten in einem der Krankenhäuser oder anderen Gesundheitseinrichtungen des Gazastreifens gesehen.»

(…)

«Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, jede Lösung für dieses Problem muss mit einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand beginnen. Wir wissen es zu schätzen, dass Sie an einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas arbeiten, aber Sie haben eine offensichtliche Tatsache übersehen: Die Vereinigten Staaten können den Kriegsparteien einen Waffenstillstand aufzwingen, indem sie einfach die Waffenlieferungen an Israel stoppen und ankündigen, dass wir uns an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen beteiligen werden.»

«Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, wir fordern Sie auf, dem Staat Israel unverzüglich die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung zu verweigern und sich an einem internationalen Waffenembargo gegen Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen zu beteiligen, bis ein dauerhafter Waffenstillstand im Gazastreifen erreicht ist, einschliesslich der Freilassung aller israelischen und palästinensischen Geiseln, und bis eine dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zwischen den beiden Parteien ausgehandelt ist.»

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Es gäbe viel noch anzuführen: Die derzeitige Ausweitung des Terrors auf Teile des Libanons; die kalte Zielgerichtetheit dieser Kriegsführung, nicht nur Israels, sondern des gesamten Westens, bis hin zur unsäglichen Sabotage auch in der Schweiz der humanitären Hilfe, kaschiert hinter bewussten Lügen von «Alternativen» zur UNRWA, wohlwissend, dass diese nicht existieren.

Aber für heute genug. Machen wir das mutige Schreiben der 99 bekannt – diesen Blick auf das Grauen. Wie andere Schreie aus Palästina, von Verzweifelten, von Angegriffenen, von sich Wehrenden, mobilisiert er gegen die Propaganda der Grausamen.