Venezuela: Auch hausgemachte Probleme

Sonntag, 23. Februar 2014

(zas, 23.2.14) Die real existierenden Destabilisierungspläne gegen das bolivarische Venezuela sind natürlich nicht mit dem Hinweis aus der Welt geschafft, es könnten keine 7 Millionen VenezolanerInnen CIA-AgentInnen sein. Doch dem Autor des folgenden Artikels gehtes auch nicht um eine Aufarbeitung der jetzigen Phase des Abnützungskrieges (samt ihres routiniert verlogenen Medienechos), sondern um wirtschaftliche Fehlentwicklungen innerhalb des Chavismus, die der Rechten Steilvorlagen bieten. Diese Sichtweise ermöglicht es grundsätzlich, solche Fehler (ein schwaches Wort für die skizzierte Praxis), zu korrigieren. Hier liegt die revolutionäre Perspektive.

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http://amerika21.de/analyse/97498/venezuela-wirtschaft

Die Ursache der Probleme in Venezuela liegt in der Wirtschaft

Dass die Rechte mit allen Mitteln versucht, die Regierung zu stürzen, ist nicht neu. Dass sie dafür Unterstützung erhält, liegt auch an Fehlern der Regierung

Was ich nun sage, wird dem ein oder anderen mit Sicherheit nicht gefallen, aber das hier zugrundeliegende Problem besteht nicht in der Frage, ob sich Leopoldo López oder María Corina Machado1 an Verschwörungen beteiligen - schließlich versucht die Rechte seit mehr als 15 Jahren, mit allen Mitteln an die Macht zu kommen. Der Unterschied besteht darin, dass wir bislang immer im Recht gewesen sind, doch nun macht sich die heikle ökonomische Lage auch in den geschmälerten Geldbeuteln der venezolanischen Durchschnittsverdienenden bemerkbar. Die Situation wandelt sich in fruchtbaren Boden für die Versuche zahlreicher Akteure der venezolanischen Rechten, politische Unruhe zu stiften.
Es scheint, dass seitens der Regierung der Ernst der Wirtschaftslage und insbesondere die Unzufriedenheit unterschätzt werden, welche diese im Volk auslöst - unabhängig von der politischen Einstellung.
Aus diesem Grund rufe ich die Regierung dazu auf, sich mit übermenschlicher Anstrengung der Lösung all dieser konkreten Probleme zu verpflichten, unter denen die Bevölkerung Tag für Tag zu leiden hat; wie beispielsweise die Unsicherheit, aber vor allem Anderen die wirtschaftliche Situation.
Und im Rahmen dieser übermenschlichen Anstrengung ist es unerlässlich, sich wieder den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen zu schreiben. Gegen eben jene Korruption, der Präsident Maduro zu Beginn seiner Amtszeit den Krieg erklärt hatte, ohne dass in letzter Zeit wieder davon zu hören gewesen wäre.
Die Thematik der Korruption ist mit dem Bereich der Wirtschaft eng verknüpft, denn schließlich wissen wir alle, dass eine Gruppe skrupelloser Unternehmen durch Betrügereien bei den Devisenzuweisungen die ganze Nation hinters Licht geführt hat. Und wir wissen ebenfalls, dass sie diese Dollarbeträge nicht selbst genehmigt haben, sondern dass es Funktionäre öffentlicher Institutionen gewesen sein müssen, die - indem sie die Zuteilung von Devisen bestätigten, von denen man wusste, dass sie einen Angriff auf die Nation darstellten - Komplizen bei diesen Täuschungen gewesen sind. Wir alle verdienen zu erfahren, wer jene Unternehmer und Funktionäre waren, die ihnen die Dollarbeträge genehmigten. Und wir wollen uns ebenfalls sicher sein, dass diese Personen nicht mehr in einer der anderen Institutionen oder im SICAD2 arbeiten. Wir wollen sowohl spekulierende Unternehmer und Betrüger im Gefängnis sehen, als auch die Bevollmächtigten, welche jene Devisenzuweisungen in dem Wissen genehmigten, dass ihr Betrug und der damit verbundene Anstieg der Inflation unserer Wirtschaft schaden würden. Wenn ein öffentlicher Funktionär in solche Straftaten verwickelt war, dann ist er ein Vaterlandsverräter und verdient die schlimmste aller Strafen, denn in einem historischen Moment, wie dieser es ist, bietet er dem Feind alle Möglichkeiten, das Fundament des revolutionären Prozesses zu untergraben.
Es sollte offensichtlich sein, dass wir hier von den Individuen und nicht von den Institutionen sprechen, denn wir können nicht jede und jeden der dort Arbeitenden für das verurteilen, was sie vermeintlich tun und sie alle auf eine Gruppe von Technokraten reduzieren, die der revolutionäre Prozess nicht im Geringsten interessiert, da sie nur an ihren eigenen Geldbeutel denken. Denn diejenigen von uns, die verstehen, wie dieses Modell des bürgerlichen Staates funktioniert, wissen sehr wohl, dass sich dort Vertreter einer Klasse von bürokratischen Technokraten in hohen Positionen halten, denen das Fortdauern des Prozesses genauso egal ist, wie die Volksmacht (Poder Popular).3
Doch dazu gehört nicht jeder öffentliche Funktionär, so wie auch nicht jedes Mitglied der Nationalgarde ein Komplize des Lebensmittelschmuggels über die bundesstaatlichen Grenzen von Zulia und Táchira nach Kolumbien ist. Denn zu glauben, dass tonnenweise Lebensmittel über die Grenze gelangen können, ohne dass jemand etwas davon gemerkt hätte, ist an diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Es gibt nicht einen Lebensmittelladen in Cúcuta, in dem kolumbianische Produkte verkauft werden: Alles, was sich in Cúcuta finden lässt, wurde in Venezuela hergestellt! Wir sprechen hier von einer Stadt mit mehr als 800.000 Einwohnern, die nahezu vollständig mit ausschließlich venezolanischen Produkten beliefert wird; es handelt sich hierbei nicht um fünf Packungen Milch oder Mehl. Ein beträchtlicher Teil der Lebensmittel unseres Volkes wandert dort einfach so über die Grenze und die Konsequenzen sind zur Zeit in der erhöhten Spannung im Bundesstaat Táchira deutlich spürbar. Es ist kein Zufall, dass Táchira praktisch das Epizentrum der Unruhen ist, welche darauf abzielen, die Regierung zu stürzen.
Die Vierte Republik4 kam an ihr Ende, als die objektiven mit den subjektiven Voraussetzungen für ihr Scheitern zusammentrafen. Die objektiven Bedingungen bestanden in einer beispiellosen wirtschaftlichen Krise, die - angetrieben durch eine galoppierende Inflation - alarmierende Marginalisierungs- und Armutsraten schuf. Die subjektiven Bedingungen traten immer dann auf, wenn die politische Führung jener Epoche von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und als eine Klasse von Handlangern betrachtet wurde, die unverhüllt im Dienste einer ausländischen Macht und des Internationalen Währungsfonds (IWF) standen - eine politische Klasse ohne Ideale und ohne die geringste Spur von Patriotismus. Mitte der 1990er Jahre gab es keine Unterstützung mehr für diese politische Klasse, die den Status Quo darstellte.
Die objektiven Voraussetzungen sind heutzutage nicht auf unserer Seite - die Inflation, zu großen Teilen bewusst erzeugt, jedoch ebenfalls Resultat der fehlerhaften Wirtschaftspolitik der Regierung, schießt in die Höhe. Glücklicherweise sind uns die subjektiven Bedingungen wohler gesonnen, denn überraschenderweise hält ein großer Teil der venezolanischen Bevölkerung weiterhin am Ideal des Freiheitskämpfers Simón Bolívar fest, ungeachtet ihrer schwerwiegenden ökonomischen Lage. Dieser Teil der Bevölkerung ist sich aufgrund seiner Kenntnisse über die Geschichte und den geopolitischen Kontext der Tatsache bewusst, dass die wirtschaftliche Problematik strukturell bedingt ist und eine Vielzahl von Faktoren als Ursache hat, welche größtenteils von dieser politischen Klasse der Vergangenheit geschaffen wurden, die sich heute mit neuem Gesicht als Alternative zur jetzigen Regierung präsentiert.
Die wirkliche Gefahr besteht nicht in der venezolanischen Rechten, wie auch immer sich der oder die Anführer/in nennen mag, der oder die sie repräsentiert. Die eigentliche Gefahr liegt in einer schwierigen Wirtschaftslage, und die so geschaffene Realität ist ein Schlag in unser Gesicht. Eines Tages könnte sie innerhalb der Bevölkerung einen derartigen Zustand der Unzufriedenheit schaffen, dass dies zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Straßen mit beklagenswertem, möglicherweise nicht wieder rückgängig zu machendem Ausgang führen könnte.
Die Regierung steht vor der Herausforderung, statt Importen von außen unsere eigene Produktionskapazität in allen Bereichen weiterzuentwickeln, mit einem gegenwärtig notwendigen Schwerpunkt auf Produktion und Distribution von Lebensmitteln. Gleichzeitig sollten effektivere Kontrollen eingeführt werden, die dem Devisenschwindel und dem Schmuggel von Lebensmitteln und anderen Produkten ins Nachbarland Einhalt gebieten. Die Volksmacht könnte eine große Hilfe darstellen, wenn Mechanismen aufgebaut werden, welche die Kontrolle und Aufsicht der Institutionen dieses bürgerlichen Staates durch die organisierte Bevölkerung ermöglichen.
Vor solch schwierigen Zeiten gebietet es sich, adäquat zu handeln und einen vernünftigen und inklusiven Diskurs zu führen - nicht nur für die Regierung, sondern auch für unsere gesamte aktive Anhängerschaft: Es existieren nicht sieben Millionen Oligarchen und es gibt auch keine sieben Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner die "Faschisten" sind. Justizvollstreckung darf nicht mit Generalisierung der Verantwortlichkeiten verwechselt werden, indem davon ausgegangen wird, dass jeder Oppositionelle ein krimineller faschistischer CIA-Agent ist. Zu diesen gehört nur ein kleiner Kreis, der Rest, diese sieben Millionen, setzt sich aus normalen, ganz gewöhnlichen Menschen zusammen, so venezolanisch wie wir selbst. Anstatt sie zu beleidigen, wäre es vielmehr angebracht, sie zu überzeugen. Denn in einer Demokratie lässt sich nur gewinnen, indem die Mehrheit überzeugt wird. Wir können ebenso wenig sieben Millionen Personen töten, wie sie uns töten könnten; wer dies glaubt, der denke nur an Kolumbien, Syrien oder Libyen. Die einzige Art und Weise, diese Situation zu lösen, besteht darin, jenen anderen Teil der Gesellschaft zu überzeugen; doch um dies zu erreichen, brauchen wir nicht nur mehr Diskurse - das was in erster Linie fehlt, sind die Resultate. Geben wir dem Land Resultate in Form von ökonomischen Inhalten und der brisante Konfliktpegel wird verschwinden, da die Bevölkerung es nicht in Betracht ziehen wird, die in unserem Land rechtskräftige Ordnung in Frage zu stellen.

Ronaldo Muñoz ist Journalist und Schriftsteller in Venezuela.

  • 1. Leopoldo López und María Corina Machado gehören zum rechten Flügel des Oppositionsbündnis "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD). Die Regierung beschuldigt sie, hinter der gewalttätigen Eskalation von Protesten in den vergangenen Wochen zu stecken. (Anm. der Redaktion)
  • 2. Das "Ergänzende System der Administration von Divisen" (Sistema Complementario de Administración de Divisas) ist ein staatlich verwaltetes Auktionssystem zur Vergabe von Devisen an Unternehmen und Einzelpersonen. (Anm. der Redaktion) Siehe auch "Venezuela lockert Devisenkontrollen", amerika21, 16.02.2014, http://amerika21.de/2014/02/97295/venezuela-devisen
  • 3. Als Poder Popular werden in Venezuela basisdemokratische Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung verstanden. (Anm. der Redaktion)
  • 4. Häufig für die Zeit von 1958 bis 1998 verwendete Bezeichnung. (Anm. der Redaktion)