Venezuela: Mit Herrchen lügen

Donnerstag, 15. Dezember 2016



(zas, 15.12.16) An … ab; an … ab. So folgsam ist die transnationalisierte  „Berichterstattung“ zu Venezuela. Als die rechte Opposition auf einen Dialog mit der Regierung einwilligen und die Existenz eines Wirtschaftskriegs gegen das chavistische Venezuela zugeben musste, waren die Scheinwerfer gerade ausgeschaltet. (S. Melancholie, verschweigen, nur nicht die Wahrheit sagen). Ergebnis: Die Freimedien konnten die Sache verschlafen, um danach im gewohnten Stil weiter zu machen. Am letzten Novemberwochenende wurde der Schalter wieder umgestellt, für alle bemerkbar mit einer Doppelseite in der New York Times, welche die höllischen Zustände in Venezuela und seinem Gesundheitswesen „beleuchteten“. Und das Kesseltreiben setzte wieder munter ein.  Gestern ein Bericht des Imperium-Mundstücks Achermann im offiziellen Schweizer Radio, heute ein Reisser mit dem Titel „Venezuela lässt sein Kinder sterben“ von Brühwiller in der NZZ. Beide wissen: Für die Menschen in Venezuela ist das Leben entsetzlich. Achermann oberflächlich, dumm, wie gewohnt; Brühwiller triebhaft aggressiv, wie gewohnt.
Vorweg: Ja, es gibt schlimme Situationen in Venezuela. Auch im Gesundheitswesen. In der Versorgung mit Esswaren, mit Medikamenten… In welchem Ausmass? Wir können uns kein Urteil anmassen. Aber wenn wir wissen, dass Bekannte ihren Angehörigen drüben Toilettenartikel oder schmerzlindernde Mittel schicken mussten, ist klar, dass die Lage ernst ist.
Dies das eine. Etwas anders die Lüge.
Sie kommt auf verschiedenen Tatzen daher.
Nr. 1: Verschweig die Täter und Täterinnen, schieb die Schuld auf die Angegriffenen.  Warum fehlt es manchmal an lebensrettenden Medikamenten? Wegen chavistischer Gier und Misswirtschaft. In diesem Blog und im Correos haben wir immer wieder veröffentlicht, dass anderes im Spiel ist: etwa wenn Tonnen staatlich subventionierter Medikamente und medizinischer Instrumente in Silos von Privatunternehmen gehortet werden.  In Privatunternehmen, die zu dem von ein paar Pharmamultis kontrolliertem monopol-artigem Pharma-Verteilnetz gehören. Oder wenn die Importpreise für Medikamente oder Basissubstanzen explodieren.
Nr. 2: Mal alles tiefschwarz. Dantes Inferno ist die Venezuela-Blaupause für jedes Schwatzmaul in den Medien. Darunter läuft nichts. Also: Es gibt nur infernalische Zustände in den Spitälern. Ist eine Krankenzimmerwand mal nicht kotverschmiert, wähnt sich das müde journalistische Auge schon fast in einer Oase. Das ist Lüge. Die nicht glaubhafter wird, weil noch jede Schreib- oder TV-Kanaille auch noch einen persönlichen Leidensweg von Don Manuel oder Doña Irma mitzuteilen weiss. Im benachbarten Kolumbien, im Grenzdepartement  Guajira sind nach offiziellen, die reale Lage massiv beschönigenden Berichten „von 2008 bis 2013 4112 Kinder an Unterernährung und verhinderbaren Kinderkrankheiten gestorben“ (s. Kolumbien: Genozid, nicht Natur). Da Glencore und andere Minenmultis das Wasser der indigenen Comunidades brauchen, sterben die Kinder und die Erwachsenen weiter. Wir schrieben am 22. September 2016: „Vor zwei Tagen berichtete die kolumbianische Zeitung El Tiempo, dass in diesem Jahr nach offiziellen Angaben 53 Kinder an Unterernährung gestorben seien und 20 Minderjährige in Intensivstationen wegen seit Juli fehlender Medikamente für die Akutbehandlung von Unterernährung sterben können.“ Guajira grenzt an Venezuela. Wie verlogen das „humanitäre Entsetzen“ ist, das die einschlägigen Medienschaffenden vorweisen, zeigt der kleine Umstand, dass sie es nicht ein Mal schaffen, ihren … kritischen Blick in das El Dorado der kolumbianischen Boomökonomie zu richten. Sie lügen, sie verschweigen.

Zwei Beispiele:
Brühwiller behauptet heute, indirekt gebe die Regierung Maduro eine humanitäre Krise zu, indem sie, zur Vertuschung des „Versagens des Staates“ einen „Kanal der Solidarität“ aufbaue, also internationale Hilfe empfange. Es stimmt, es gibt diesen Kanal. Was einer wie Brühwiller vermutlich aus Kalkül verschweigt, einer wie Achermann eventuell gar nicht weiss, da ihm das seine üblichen rechten Gewährsleute nicht zu stecken für nötig hielten, ist, dass dieser Kanal nicht „aufgebaut“ werden muss, sondern seit langem existiert. Aber Brühwiller muss anbringen, was die US-finanzierte weit rechts stehende Partei Voluntad Popular von sich gibt, dass nämlich an einem Treffen vom letzten 8. Dezember der Regierung Maduro mit UNO-Organisationen die diskutierte Benutzung dieses Kanals das Eingeständnis einer humanitären Krise im Land darstelle. Nun, dieser Kanal ist ein viel benutzter Rotationsfonds der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation OPS, Teil der WHO, über den Regierungen des Südkontinents verbilligt zu Impfstoffen und Medikamenten gelangen. Der chilenische Gesundheitsminister sagt: „Dieses Abkommen erlaubt dem Gesundheitsministerium, in optimaler Zeit Medikamente für kritische Programme zu erwerben, von garantierter Qualität und zu einem effizienterem Preis, als er im chilenischen Markt erzielt werden könnte.“  Der gleiche Abgeordnete von Primera Justicia, der auch NZZ-Brühwiller als Auskunftsquelle diente, verbreitet die Version, der Fonds sei für „Nationen in Krise“ da. Chile wird zwar tatsächlich von Krisen geschüttelt, etwa wegen des Feldzugs gegen die Mapuche oder der Verweigerung einer guten Ausbildung für alle, doch bisher ist dieses Land nicht dafür bekannt, in den Augen der Brühwillers und ihrer Bosse als humanitäre Katastrophe zu gelten. Aber der NZZ-Schreiber muss auf Linie bleiben: Schliesslich hat kein geringerer als der damalige US-Oberkommandierende des Südkommandos gegen Lateinamerika (Southcom), im Oktober 2015 das Gerede von der „humanitären Krise“ in Venezuela auf die Tagesordnung gebracht. Er teilte damals mit, er bete jeden Tag dafür, dass Venezuela wegen seiner enormen wirtschaftlichen Probleme nicht kollabiere. Im Falle einer dadurch bewirkten
„humanitären Krise […] könnten wir reagieren und täten dies via Organisationen wie die UNO, die OAS oder die FAO.“ Darum geht es, nicht um Kinder. Die sind der Mediengang ziemlich wurst, siehe das o. e. Beispiel des Desinteresses zum Fall der Wayuu in Kolumbien.

Gestern war Radio-Achermann fassungslos. Der Maduro erfindet immer wieder neue absurde Anschuldigungen, um von seinem wirtschaftlichen Versagen abzulenken. Er redet auch stets von Wirtschaftssabotage, ha! Und so ist ihm eingefallen, jetzt die 100-Bolívares-Note aus dem Verkehr zu ziehen. Was den armen Wahrheitsfinder von Radio SRF künftig dazu zwinge, beim Restaurantbesuch einen Plastiksack von Geldbündeln mitzuschleppen. Macondo im Quadrat! Was soll kleinkrämerische Detailreiterei, wenn es gilt, das grosse Bild zu vermitteln?  Und warum soll Ignoranz nicht bestechen? Seit 2000 hat die kolumbianische Zentralbank mit ihrer Resolution Nr. 8 ein doppeltes Kursregime seines Pesos zum venezolanischen Bolívar eingeführt. Im Grenzgebiet zu Venezuela war der Bolívar für 2.54 Pesos zu erhalten, im Landesinnern für 300.58 Pesos. Eigenartig, nicht? Nicht für die Achermänner. Aber für Juan Carlos Tanus, Sprecher der Organisation Colombianos y Colombianas en Venezuela. Er erklärt der venezolanischen Nachrichtenagentur AVN, wie das funktioniert (¿Cómo opera el ataque al bolívar en Colombia?). Die imperialen Mafias im kolumbianischen Grenzgebiet kaufen in industriellem Ausmass Hundert-Bolívares-Scheine. (Das zwingt en passant die chavistische Regierung, Geld zu drucken, und verschönert so die Inflationsrate.) Die für 254 Pesos erworbenen Scheinchen werden in Bogotá in 30'058 Pesos zurückgetauscht. Die Pesos werden im nächsten Schritt in US-Dollars eingetauscht, für 3'000.8 Pesos gegen $ 10. Die $ 10 werden in Venezuela zum Schwarzmarktkurs in 42'540 Bolívares verwandelt, die zu einem beträchtlichen Teil für den Kauf von subventionierten Gütern verwendet werden, welche dann nach Kolumbien geschmuggelt werden. AVN zitiert Präsident Maduro so: „Man schätzt, dass 300 Milliarden Bolívares im Besitz von aus Kolumbien geleiteten Mafias sind; sie sind Teil des wirtschaftlichen Putschs.“
Wechselstube in Cúcuta
 
Nun ja, wofür auch erwähnen, dass die venezolanische Regierung ihr kolumbianisches Pendant aufgefordert hat, den Doppelkurs abzuschaffen? Oder dass die Wechselhäuser im kolumbianischen Schmuggelzentrum von Cúcuta jammern, jetzt auf 2 Milliarden Bolívares sitzen zu bleiben, mit denen sie nichts mehr anstellen können? Weshalb die kolumbianische Regierung helfend eingreifen müsse. Denn – Gott sei es geklagt – Venezuela sperrt die Grenze mit Kolumbien und untersucht Massenimporte von 100-Bol’ivares-Scheinen auf ihre Rechtmässigkeit. Wenn das nicht totalitär ist, was dann?
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Wer gerne eine realistische Sicht auf die Probleme in Venezuela (Versorgung, Gesundheitsdienste) hat als die der Imperiumsmedien, lese den kleinen Artikel auf venezuelanalysis.com vom 10. Dezember: Community-Delivered Food, Clean Clinics, and Queue-Less Banks: A Glimpse into VA’s Week in Venezuela.