„Venezuela erliegt endlich tiefem Öl, Sanktionen“ - S&P erklärt Default

Mittwoch, 15. November 2017

(zas, 14.11.17) Das Zitat im Titel schmückt eine Grafik im heutigen Bloomberg-Artikel zum Schritt der Ratingagentur S&P, die venezolanische Regierung für zahlungsunfähig zu erklären (Default). Und Fitch, eine weitere der drei berüchtigten, von der US-Börsenaufsicht SEC in den Orakelstand erhobenen Agenturen, habe gestern festgehalten, dass der staatliche Erdölkonzern Pdvsa Zahlungen verpasst habe. Die von Maduro auf gestern angesetzten Umschuldungsverhandlungen seien damit Makulatur.
Bloomberg.
Was es mit dem Anlass von gestern auf sich hatte, ist schwer zu beurteilen. Von offizieller venezolanischer Seite scheint es dazu keine konkreten inhaltlichen Angaben zu geben, Bloomberg skizziert die Sache als geradezu surreal: Geredet habe dort während einer halben Stunde einzig Vizepräsident Tareck El Aissami (keine Publikumsinterventionen zugelassen), der gegen die US-Sanktionen vom Leder gezogen sei, ohne den rund hundert Anwesenden konkrete Vorschläge zu präsentieren. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass die Regierung inter/nationale GläubigerInnen einzig für eine halbe Stunde Politunterricht nach Caracas hat kommen lassen. Dito dürfte es nicht bloss Provokation oder Dummheit gewesen sein, dass der Anlass von El Aissami geleitet wurde. Er wird vom US-Finanzministerium als Drogenhandelscapo auf einer Sanktionsliste geführt, die Übereinkünfte mit ihm, dem Finanzminister, dem Staatspräsidenten etc. pp. verbietet. An eine „normale“ Schuldenrestrukturierung dachte in Caracas offenbar niemand.
Kompetente Stimmungsmache.
Am letzten 28. August unterschrieb Trump einen folgenschweren Präsidialerlass, der es Unternehmen mit Zahlungsverkehr über die USA (so gut wie alle international tätige Institute also) untersagt, neue Anleihen der Regierung oder von Pdvsa zu erwerben oder mit einer Reihe schon früher ausgegebenen Bonds zu handeln. Am 20. September verlangte das US-Finanzministerium von Unternehmen mit venezolanischen Wirtschaftsbeziehungen eine verschärfte Prüfung im Zusammenhang mit möglichen Fällen insbesondere von „Korruption und Geldwäscherei“. Konkret bedeutet das die Verschärfungen von Situationen, wie sie Reuters am 11. Oktober beschrieb. Im Artikel ging es darum, dass ein Pdvsa-Tanker 40 Tage auf seine Löschung warten musste. Am 9. November echote Reuters eine neue Warnung des US-Finanzministeriums an Bankhalterinnen, wonach jede Übereinkunft mit einer auf der Sanktionsliste stehenden Person, also auch mit El Aissami, verboten sei. In einem weiteren Artikel meinte die Bloomberg-Journalistin Katia Porcecanski vor wenigen Tagen: Die US-Sanktionen bedeuten, „dass das Maduro-Regime bei vielen internationalen Investoren kein Geld aufnehmen kann – und eine Schuldenrestrukturierung unglaublich kompliziert, wenn nicht unmöglich, wäre.“
Nicht gerade ein schlagender Beweis für „chavistische Misswirtschaft“, wohl aber für finanzielle Erdrosselung. Bloomberg berichtet im zuletzt zitierten Artikel, dass die Devisenreserven des Landes auf $ 10 Mrd. gesunken seien, aber für 2018 Schuldenzahlungen von $ 13 Mrd. fällig wären. Andere Quellen gehen allerdings von markant niedrigeren Forderungen aus. Wobei unklar ist, ob auch russische, gerade erst restrukturierte, oder chinesische Forderungen in diese Zahlen einberechnet worden sind. So oder so, in der Kasse scheint kaum mehr Kohle zu sein. Deshalb bemüht sich die chavistische Regierung jetzt auch um eine Schuldenrestrukturierung. Gerade hatte sie noch $ 2 Mrd. Landes- und Pdvsa-Schulden bezahlt, in den letzten 4 Jahren waren es offenbar insgesamt $ 70 Mrd. Dies wohl, wie Bloomberg anmerkt (s. o.), um eine Beschlagnahmung der Auslandsaktiven von Pdvsa zu verhindern, insbesondere von der für die US-Wirtschaft wichtigen Raffinerie- und Tankstellenkette Citgo in den USA.  Sollte Citgo (an der Pdvsa 51 % hält), in die Hände von Gläubigern fallen, könnten ihre Raffinerien Schweröl von nicht-venezolanischen Quellen verarbeiten, was Pdvsa mit ihren immer noch grossen US-Exporten im Wert von $ 10 Mrd. im Jahr einen weiteren schweren Schlag versetzen würde.
Werfen wir einen Blick auf einen von mehreren die US-Sanktionen ergänzenden Finanzangriffe auf das chavistische Venezuela, das sog. Länderrisiko. Das meint primär den Aufpreis auf staatliche Anleihenzinse je nach Defaultrisiko des Landes. Wie misst sich dieses Risiko? Wirtschaftlich etwa nach dem Verhältnis Auslandsverschuldung im Verhältnis zur jährlichen Wirtschaftsleistung BIP. Aber auch nach politischen Kriterien, etwa dem Risiko einer Enteignung. Bezeichnend nun für den Charakter der „chavistischen Misswirtschaft“ sind folgende Zahlen: Brasilien hatte nach den letzten Angaben des CIA-Factbooks Ende 2016 eine geschätzte Staatsverschuldung von 70 % (brasilianische Banken gingen letzten April von 80 % aus); Mexiko eine auf Ende 2016 geschätzte Staatsverschuldung von 51 % und Venezuela von 39.3 %. Mexiko hatte Ende letzten April eine Nettoauslandsverschuldung von 18.37 %. Für Venezuela berechnete die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL die Auslandsschulden Ende 2016 auf 21.9 % . Vermutlich ist bei dieser letzten Zahl die Verschuldung von Pdvsa nicht einberechnet. Dennoch erstaunt, wie andere Berechnungen wie etwa jene der bekannten Torino Capital des ehemaligen Kaders der Bank of America, Francisco Rodríguez, auf eine Aussenverschuldung von rund 70 % des BIP kommen, also auf $ 139 Mrd. Das Finanzministerium hatte die Aussenverschuldung der Regierung laut der von der Deutschen Welle interviewten Analystin Pilar Navarro vom viel zitierten rechten Consultingunternehmen Ecoanalítica für Ende 2016 mit rund $ 47 Mio. angegeben (das entspricht etwa den CEPAL-Zahlen), während Reuters für Pdvsa für den gleichen Zeitpunkt deren Angaben von einer gesamten Unternehmensverschuldung  von $ 41. Mrd. wiedergibt (also inkl. der Inlandverschuldung, die wohl in US-Dollars denominiert ist). Das macht zusammen etwa 2/3 der Angaben von Torino Capital aus, ein signifikanter Unterschied. Zurück nun zur „Misswirtschaft“: Der Risikoaufschlag liegt heute laut Berechnungen von JP Morgan für Mexiko bei 188, für Brasilien bei 251 Punkte und für Venezuela 3980 Punkten.

Für die lateinamerikanischen Länderrisiken gilt der auf emerging markets spezialisierte EMBI-Index von J.P. Morgan als relevant. Die gleiche Bank hatte schon Ende 2016 eine dringende Default-Warnung gegen Venezuela herausgegeben, da das Land angeblich seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen sei. In Wirklichkeit hatte die Citibank venezolanische Bondzahlungen blockiert. Eine kalkulierte Fehlmeldung, um den venezolanischen Schuldendienst zu verteuern. J.P. Morgan bzw. ihr Unternehmen Euroclear spielt auch eine wichtige Rolle bei der jetzigen Defaultausrufung durch S&P. Euroclear ist laut Wikipedia das weltgrösste Clearing-Unternehmen. Der ebenfalls laut Wikipedia zu den zehn grössten Treuhandunternehmen zählende Wilmington Trust gab am 9. November bekannt, an diesem letzt möglichen Termin keine Überweisungen des staatlichen venezolanischen Stromwerks Corpoelec an AnleihenhalterInnen erhalten zu haben, was S&P wie voraussehbar zur sofortigen Default-Ausrufung motivierte. Dass wenige Stunden nach dem Wilmington-Statement Corpoelec bekannt gab, die korrekt getätigte Zahlung sei bei der mit der Abwicklung beauftragten Euroclear „wegen Veränderungen in der Operativität“ hängen geblieben, interessierte die auf Default-Adrenalin operierende internationale Finanzpresse nicht. Einmal mehr führten die US-Sanktionen zu einer „Zahlungsverzögerung“, dieses Mal zum ersten „Default“. (Gleich operierten die USA, als sie das kirchneristische Argentinien für im Default befindlich erklären liessen. Die Citibank hatte inm Wirklichkeit auf Geheiss der US-Justiz die argentinischen Zahlungen an internationale Gläubiger einbehalten.)
Am 8. November wurde der Sitz von Corpoelec im Gliedstaat Táchira mutmasslich mit einer Granate in Brand gesteckt. PatientInnen und Personal eines im Gebäude befindlichen Gesundheitssambulatoriums konnten evakuiert wird. Zufälle gibt's - einen Tag vor der Defaulterklärung in Sachen Corpoelec. Bild: Alba Ciudad.

Nochmals zum „stolzen“ Unterschied zwischen dem Länderrisiko von Venezuela im Vergleich zu Ländern mit mindestens ähnlichen wirtschaftlichen Grunddaten. Drängt sich da nicht die Vermutung auf, die „chavistische Misswirtschaft“ sei weniger ein ökonomisches Problem denn Chiffre für eine politische Feinderklärung? Nehmen wir nochmals die Bloomberg-Journalistin Katia Porcecanski (s. o.) zur Zeugin: „Investoren glauben, eine neue Regierung (…) ist eine notwendige Bedingung für eine Restrukturierung.“
In kurzer Zeit werden wir klarer sehen, wie es weitergeht. Zurzeit dominieren Spekulationen, z. B. These 1: Venezuela wird Opfer von Geierfonds, die darauf spezialisiert sind, Bonds von abstürzenden Unternehmen oder Länder zum Schrottpreis zu erwerben und sich danach, geschützt von der internationalen US-Justiz, fürstlich auszahlen zu lassen vs. These 2: Venezuela kauft selber bzw. China kauft die Bonds und entzieht sie somit der Verfügung Washingtons. Generell scheint der Faktor Russland/China wenig in die aktuellen Zahlungsunfähigkeitsdiskurse einkalkuliert zu werden, sicher auch aus Mangel an Daten, aber wohl auch, um des paint it black willen.