(zas,
26.8.18) Vorbemerkung: Vieles hat sich ereignet, aber fast einen Monat lang Nica-Eintrag
auf diesem Blog. Hier nun einige Momente der Entwicklung, so kurz wie möglich.
Das
Regierungslager hat im Juli klar Oberwasser gewonnen. Die rund 40 grossen
Strassensperren (tranques) der Regime-Change-Gruppen konnten alle geräumt
werden – bis heute gibt es keine neuen. Dabei kam es zu Schusswechseln, es gab Tote,
mehrheitlich auf Seiten der tranqueros. Verlässliche
Angaben dazu fehlen. Von rechts wird die Beteiligung von bewaffneten Zivilisten
bei den Räumungen – „Paramilitärs“ – denunziert. Die Regierung sagt, es handle
sich um Mitglieder der legal konstituierten Hilfspolizei, die in Fällen von
Kapazitätslimiten der Polizei eingesetzt werde. Tatsache ist jedenfalls, dass
diese zivil gekleideten Bewaffneten Sandinistas sind.
Mit der
Räumung dieser tranques ist ein
wichtiges Moment des realen Terrors in Nicaragua entfallen. Viele Rechte haben
sich einer Verhaftung mit der Flucht nach Costa Rica entzogen, so sollen sich
allein aus dem von tranques besonders
heimgesuchten Departement Carazo mindestens 200 tranqueros dort aufhalten. Die rechten Medien sprechen von Flucht
vor Ermordung. Tatsache ist, dass es seit dem Ende der tranques zu vier Politmorden kam, drei an Sandinistas, einer an
einem Polizisten. Auch der frühere Revolutionsbarde Luis Mejía Godoy gab an, ihm
sei aus Sicherheitsgründen zur Flucht geraten worden. Man hört aber auch, der
frühere Vizepräsidentschaftskandidat der Partei MRS sei zu einer geplanten Konzerttournee
aufgebrochen und habe dies politisch «verschönert».
Die rechten
Strassenmobilisierungen sind für den Moment klein geworden; über die Grösse der
sandinistischen Aktivitäten (beide Lager mobilisieren unter dem Motto
Gerechtigkeit für die Opfer) liegen uns keine zuverlässigen Angaben vor.
Allerdings war die 39. Jahresfeier der Revolution von 1979 am 19. Juli ein
Grosserfolg für den FSLN. Die Schätzungen gehen von landesweit mehr als einer
halben Million Mobilisierten aus.
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19. Juli 2018 im Städtchen Jinotega |
Ungute Tendenzen
Die Frage
ist, wie die Regierung und der FSLN nach diesem vorläufigen Sieg vorgehen. Da
ist einmal das Riesenproblem der schwer geschädigten Wirtschaft (s. u.). Dann
aber verdichten sich negative Anzeichen. Das Motto des 19. Juli - „El
comandante se queda“ (er bleibt) - kann man optimistisch als Antwort auf die Forderung
nach „Regierungsübergabe sofort“ interpretieren; negativ natürlich als Zeichen,
dass sich nichts ändere. Letzteres auch in Bezug auf den FSLN, der zwar als
Strömung in der Bevölkerung über enorme Kräfte verfügt, aber unter der autoritären
Führung von Rosario Murillo, Vizepräsidentin und Gattin von Daniel Ortega, an
realem Innenleben massiv verloren hat. Autoritär scheint die Antwort auch in
anderen Bereichen zu sein. So wurde etwa dem (rechten) Sportjournalisten von
Radio La Primerísima und einem Kollegen des Ultrasenders Radio Corporación von
der Leitung des Baseball-Stadions in Managua der Zutritt zu dieser Einrichtung
verboten. Begründung: Sie seien für die aufgrund von verschiedenen Kämpfen am
Gebäude entstandenen Schäden mitverantwortlich. (Die rechten Medien stellten
das Stadion während Wochen als Hort sandinistischer Scharfschützen dar, deren
Kugelregen unbewaffnete DemonstrantInnen während jeweils Stunden friedlich
trotzten.) Offenbar liegt gegen beide Reporter nichts weiter vor als
Antiregierungskommentare. Das Stadionverbot kommt einem Berufsverbot gleich.
Schlimm ist
ein Vorgehen der Polizei in Diriamba, wo sie einen Verhafteten wie im Wildweststreifen
kurz an ihren (im Schritttempo) fahrenden Pick-Up gebunden haben. Was immer dem
Mann vorgeworfen wird, hier braucht es ein Strafverfahren, die von den Bullen
gelieferte Entschuldigung reicht nicht. Andernorts scheint die Polizei behutsam
vorzugehen. Aber dieser Vorfall weist auf eine gefährliche Kultur der
Straflosigkeit hin. Auch Vorkommnisse wie die Verhaftung letzten Montag des
zeitweiligen Rechtsberaters des Episkopats, Carlos Cárdenas, deuten in diese
Richtung. Ein Mitglied der vom Parlament ernannten Wahrheitskommission (s. u.) jedenfalls
verurteilte
diesen Vorfall in scharfen Worten.
Der sog.
Nationale Dialog ist faktisch gestorben. Ortega hatte am 19. Juli
richtigerweise die Komplizenschaft des entscheidenden Teils des Episkopats mit
den Regime-Change-Verbrechen gebrandmarkt. Zu dieser Komplizenschaft hatte auch
ein vom Episkopat verfügtes On/Off des Dialogs in Übereinstimmung mit den
taktischen Bedürfnissen der Kräfte des Regime Change gehört (s. frühere
Blog-Einträge). Eine zumindest erweiterte Mediatorengruppe (etwa um den nicht
furibund antisandinistischen Ex-Präsidenten von Guatemala, Vinicio Cerezo, Chef
des Zentralamerikanischen Integrationssystems SICA) lehnt die Rechte entschieden
ab. Es ist unklar, ob das Regierungslager Hand für einen wie auch immer
gearteten Kompromiss geboten hätte, der schlicht wiederspiegeln würde, dass
beide Kräfte im Land realen Rückhalt haben. Die Rechte dagegen hatte gezeigt,
dass für sie nur eine Kapitulation der Regierung zur Debatte stehen konnte.
Wirtschaft …
Die
unmittelbaren ökonomischen Folgen der Unruhen sind schlimm, die mittel- und
langfristigen können katastrophal sein. Das von der Vizepräsidentin geleitete
Portal El 19 Digital resümierte
ein paar Angaben des Finanzministers Iván Acosta vor dem Parlament vom 14.
August so:
«Bis dato ging die Zahl der Arbeitsgeber um
8'708 zurück (um 25 % im Vergleich zum April); davon 90 % im Bereich der Mikro-
und Kleinunternehmen. Der staatliche Sektor erlitt als Folge des Putschismus
Schäden in der Höhe von $ 205 Mio., 90 % davon konzentriert auf die
Bürgermeisterämter und das MIT (Ministerium für Strassenbau), vor allem an
Wagen, Baumaschinen und Gebäuden. Der Tourismussektor erlitt
Infrastrukturschäden in der Höhe von $ 277 Mio. und verlor zudem $ 231 Mio. an
Einnahmen. Dem Transportsektor (Fracht und Passagiere) entgingen Einnahmen in
der Höhe von $ 525 Mio. (wegen von den Todes-tranques verhinderten Arbeiten).»
Das rechte
Blatt El Nuevo Diario steuerte
gleichentags bei, Finanzminister Acosta habe ausgeführt, dass «119'567 Arbeitsplätze» verloren gingen,
«von denen 71'000 Beiträge in die
Sozialversicherung gezahlt haben». Und der TV-Sender 89 präzisierte,
dass die restlichen fast 50'000 Arbeitslosen bisher Teilbeträge in die
Sozialversicherung einbezahlt hatten. Wie viele Jobs im informellen Sektor insgesamt
verloren gingen, ist nicht bekannt. Weiter werde projiziert, dass infolge der
Krise die Staatseinnahmen um rund 7.5 Mrd. Córdobas zurückgegangen seien, was
9.2 % des bisher geltenden Budgets oder 1.7 % der nationalen Wirtschaftsleistung
entspreche (1 USD = ca. 31 Córdobas). Infolgedessen beschloss die
Parlamentsmehrheit auf Antrag der Regierung eine Budgetkürzung von rund 87 Mrd.
Córdobas auf 81 Mrd. Córdobas, primär im Bereich von geplanten
Renovationsprojekten in Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Es werden laut
Regierung weder Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor gestrichen noch soziale
Dienstleistungen gekürzt.
… und Sanktionen
Die Zahlen
sind eine Sache. Das Leben der Leute eine andere. Die Zerstörung von
Arbeitsplätzen betrifft fast ausschliesslich den nicht-grosskapitalistischen
Bereich. Das wird durch ein rasant zunehmendes Sanktionsregime der
internationalen Gemeinschaft Washingtons verschärft. Am 18. August durfte La
Prensa berichten, laut dem US-Botschafter vor der OAS, Carlos Trujillo, «sind neue Sanktionen am Kommen (…) mit
neuen Optionen». Trujillo wird weiter mit der Aussage von «sämtlichen möglichen Sanktionen gegen die
Regierung von Nicaragua» zitiert. Im US-Kongress arbeite man an zwei
einschlägigen Gesetzesvorschlägen, dem Nica Act von 2017 und dem Nicaragua
Human Rights and Anticorruption Act of 2018. Wohin das führt, ist kein
Geheimnis.
Am 20. Juli
teilte
die holländische Regierung mit: «Wegen
der schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung und parapolizeiliche
Gruppen hat die niederländische Regierung die Kooperation mit der Regierung von
Nicaragua beim Bau des Spitals in Bilwi, Nicaragua, suspendiert.» Am 21.
Juli durfte Confidencial, gestützt auf Aussagen des Aussen- und des
Kooperationsministers von Luxemburg berichten,
aufgrund der «Gewalteskalation, der
Repression und der willkürlichen Verhaftungen» friere das grossherzogliche Steuerparadies
seine Kooperation mit Nicaragua ein. Denn diese habe «stets auf dem Respekt der Menschenrechte und der demokratischen Werte»
gegründet. Dafür werde Luxemburg, so die Minister, «seine Unterstützung für die Zivilgesellschaft» in Nicaragua
stärken. Und es gibt die Verlängerung ins Zivilgesellschaftliche. Die
engagierte Tessiner NGO Aiuto Medico al Centroamerica (AMCA) berichtete vor kurzem:
„Seit Jahren unterstützt AMCA ein Projekt
für Kinder mit Krebs im Spital La Mascota in Managua. Ein privater Verein für
die Unterstützung dieser Kinder (eine Art Liga gegen Kinderkrebs) half uns vor
allem bei der Finanzierung von Krankenschwestern. Jetzt haben sie ganz
eindeutig aus politischen Gründen (es handelt sich um ein Regierungsspital)
beschlossen, ihre Hilfe zu stoppen! Wir versuchen, unsere eigenen Hilfsmittel
zu erhöhen… Ist das die Zivilgesellschaft, die Nicaragua retten will?“
Keine Verweigerung medizinischer Betreuung
Ein „Argument“
für die Sanktionen ist die Behauptung, die staatlichen Spitäler hätten einzig sandinistische
Verletzte behandelt und die oppositionellen abgewiesen. Weswegen Letztere nur ins
Privatspital Vivian Pellas hätten gebracht werden können, oft nach langen Odysseen,
bei denen immer wieder Verletzte gestorben seien. Wir hörten das nicht nur von
den rechten Medien, sondern auch von eigenen Kontakten im Land. Eine Perversion,
die uns in Depressionen stürzte – was ist aus dem Sandinismus geworden? Ein zum
Naqchdenken anregendes Beispiel für die suggestive Kraft der Manipulation. Die
Projektverantwortliche von AMCA in Managua schrieb nach Bekanntwerden des
holländischen Stopps der Kooperation beim Bau des Spitals an der Karibikküste:
„Die Situation ist komplex, es hat schwierige Momente
gegeben, aber es gab nach allen eingezogenen Auskünften im
Gesundheitsministerium, im Silais [speziell auf arme Bevölkerungssegmente
ausgerichtete Gesundheitseinrichtungen], im Kinderspital Mascota, im Frauenspital
Bertha und im Spital der Stadt Boaco nie eine Hilfeverweigerung. „
„Im Bertha z. B. erklärte mir die Direktorin,
haben sie, obwohl kein Allgemeinspital, in Erwartung von vielleicht vielen
Verletzten den Notfallbereich ausgeweitet. Das Bertha hat auch für PatientInnen
anderer Spitäler Tomographien gemacht. Sie hat mir einen Fall geschildert, wo
sie eine Computertomographie für einen aus dem Spital Metropolitano Vivian
Pellas überwiesenen Patienten vorbereitet hatten, der aber lange nicht kam. Als
er dann kam, erklärte ein Angehöriger, dass sie ihnen im Metropolitano gesagt
haben, sie müssten die Ambulanz selber bezahlen, weswegen sie dann mit eigenen Transportmitteln
kamen. Sie haben die Tomographie gemacht und den Patienten dann in Begleitung
eines Arztes per Ambulanz ins Lenín [Fonseca, weiteres staatliches Spital]
gebracht. Einen anderen Fall schilderten sie mir so: Die Ambulanz kam mit zwei Schwerverletzten:
einer Person mit Trauma, überwiesen ins Augenspital, und eine für das Bertha angemeldete
Schwangere. Die Ambulanz fuhr zuerst zum Bertha, wo die Schwangere aufgenommen
wurde, und dann weiter. Die dem Wagen folgenden Angehörigen stoppten die Ambulanz,
haben ihren Patienten herausgenommen und ihn vor das Bertha gebracht, wo
Dutzende von Leuten die Szene mit Handys filmten und anschliessend in den
Social Media und den Medien eine Aufnahmeverweigerung denunzierten.“
Das Vivián
Pellas hat im Übrigen einen miserablen Ruf wegen absolut überteuerter
Betreuung. Es ist nach der Frau des steinreichen Oligarchen Carlos Pellas
benannt. Luxemburg gab am 31. Juli eine verstärkte Kooperation mit der
nicaraguanischen Stiftung Aproquen für medizinische Hilfsmittel bekannt. Aproquen
wurde von Vivián Pellas gegründet und betreibt eine Station für Verbrennungsopfer
im Spital Vivián Pellas.
Auch die
vom Parlament eingerichtete Wahrheitskommission (s. u.) äusserte sich am 10.
Juli zum Thema Aufnahmeverweigerung:
„Die Kommission
konnte ermitteln, dass das Gesundheitsministerium und die [staatliche Sozialversicherung]
INSS ausdrücklich Anweisungen für die medizinische Betreuung von Personen erteilten,
die die Spitäler [und andere Gesundheitseinrichtungen] aufsuchten. Dies wurde
in situ überprüft, ebenso mit der Durchsicht der Listen von hunderten von Namen
von in diesen Einrichtungen betreuten Personen.“
„Was die
öffentlichen Anschuldigungen über die Aufnahmeverweigerung im Spital Cruz Azul
in Managua betrifft, konnten wir verifizieren, dass das Sicherheitspersonal
dieses Spitals aus Angst vor den verbalen Drohungen der Ankommenden die Türen
nicht aufschloss. Dies ist der einzige von der Kommission identifizierte Fall
einer Inkonsistenz zwischen der institutionellen Orientierung für eine
allgemeine Betreuung und der individuellen Reaktion eines Mitglieds des
Sicherheitspersonals dieses Spitals.“
[Dies betrifft den Fall des am 20. April mutmasslich
wegen verspäteter Hilfeleistung verstorbenen 15-jährigen Álvaro Conrado.]
„Seinerseits
betont der Direktor des Roten Kreuzes: ‚Wir hatten’beim Transport von
Verletzten ‚keine Aufnahmeverweigerung des nächstgelegenen öffentlichen oder
privaten Spitals oder des Ortes, wohin die transportierten Personen gefahren
werden wollten.‘“
„Für die
Kommission gab es keine Behinderung des Amulanzdienstes durch das
Gesundheitsministerium, was sich auch darauf bezieht, dass 64 Ambulanzen
beschädigt wurden, 50 bei Strassensperren und 14 in den Parkings ihrer
Gesundheitszentren. Es ist nötig darauf hinzuweisen, dass dies mehr als 20 %
des nationalen Ambulanzwagenparks entspricht.“
„Obwohl in
den Social Media verbreitet wurde, dass die Bevölkerung wegen möglicher
Festnahmen Angst habe, ins Spital zu gehen, stellte die Kommission nicht ein
Mal fest, dass betreute Personen der Polizei übergeben worden wären.“
Verschwundene? Gefolterte?
El Chipote
wird der grosse Untersuchungsknast in Managua genannt. Ort der extremen Folter,
wie uns die Rechte unablässig einzubläuen versucht hatte. Nachdem die
Mitglieder der CIDH, der Menschenrechtskommission der OAS, bei ihrem Besuch am
3. Juli in diesem Gefängnis eine Reihe von Gefangenen ausführlich befragt
hatten, wie die Delegationsleiterin Antonia Urrejola betonte, verstand man sich
von einem Tag auf den anderen auf ein neues Narrativ: nicht mehr, dass die
Verhafteten gefoltert, sondern dass sie verschwunden würden. Denn Urrejola
hatte festgehalten, dass zwar die Verhafteten zu wenig frische Kleider,
Medikamente und Hofgang erhielten, aber: «Wir
haben mit mehreren von ihnen gesprochen und die sind den Umständen entsprechend
wohlauf.» Von nun verlegte sich die rechte Propaganda auf die bange Frage:
«Wo sind sie?».
Nun, am 16.
August kritisierte der GIEI, die «Gruppe interdisziplinärer unabhängiger
Experten» von OAS/CIDH, die Regierung in scharfen Worten. Der GIEI soll den
nicaraguanischen Behörden «helfen», die Untersuchungen zu den Morden im
Zusammenhang mit den Tumulten aufzuklären. Die Gruppe schreibt,
seit Beginn ihrer Arbeit am 2. Juli versuche sie vergeblich, von den Behörden
die Untersuchungsdossiers zu erhalten. Und ruft deshalb «die Regierung von Nicaragua dazu auf, innert kurzem den
bedingungslosen Zugang zu den [Dossiers], dem Wiedergutmachungsplan und
sonstigen angeforderten Informationen zu gewähren». An ihrer Pressekonferenz
wurden die GIEI-Mitglieder auf die - laut den rechten Medien 700 – Verschwundenen
angesprochen. Da musste die Sprecherin passen:
«Wir haben keine Information zu
Verschwundenen», um gleich anzufügen, das heisse nicht, dass es sie nicht
gäbe, bloss eben, bis zu ihnen hat es keine Information geschafft. Interessant
ist die Antwort auf die Frage einer Journalistin von Radio La Primerísima, ob
der GIEI der Einladung der Wahrheitskommission zu einem Treffen und Austausch
gefolgt sei. Einladung) Nie bekommen. Und aus eigener Initiative bei der
Kommission anklopfen? Der Wissensdurst hatte offenbar seine Grenzen.
Zwei Tage
vor dem Protest des GIEI hatte das Oberste Gericht zu einem Streitpunkt
Stellung genommen. Es ging um die Prozessbeobachtung im Verfahren wegen des
Mordes am Journalisten Ángel Gahona, zu dem CIDH und GIEI Zulass begehrten. Das
Gericht erklärte,
laut OAS-Übereinkunft müssten ausländische Organisationen für eine
Prozessbeobachtung ein Gesuch an das Aussenministerium stellen. Bis dato sei
weder von CIDH oder GIEI ein Gesuch eingetroffen. Vielleicht gilt
Entsprechendes auch für Dossiereinsicht?
„Lügen, grosse Lügen und Statistiken“
Es gibt das
Aufrechnen von Toten: „So viele Tote von meiner Seite, so viele von deiner.“ Zynisch
aber auch das systematische Lügen mit falschen Zahlen von Toten zwecks
Stimmungsmache (und nicht unschuldig das kritiklose Nachplappern). Das
betreiben in Nicaragua auf jeden Fall die dortigen rechten
Menschenrechtsorganisationen, die CIDH, Amnesty, Human Rights Watch etc.
Vielleicht auch spiegelbildlich die Regierung, doch real gibt es dafür weniger
Hinweise. S. dazu auch Kehrt
die Tendenz?: Die Überprüfung der Todeslisten der CIDH und nicaraguanischer
Organisationen ergab a) den Einbezug in diese Listen von Verkehrstoten, Doppelaufzählungen,
an Krankheiten oder wegen Raubüberfällen Gestorbenen etc., und b) vor allem,
dass von nachweislich in direktem Zusammenhang mit den Protesten ermordeten je
rund die Hälfte den beiden Lagern zuzurechnen ist. Die vom Parlament ernannte
Wahrheitskommission, präsidiert vom Befreiungstheologen Molina Oliúm, dem
Gründer des bekannten Centro Antonio Valdivieso, hat dieser Tage einen
detaillierten Vergleich
ihrer eigenen Angaben zu den Ermordeten mit jenen der CIDH und der Episkopat-nahen
Organisation ANPDH veröffentlicht. Selber kam die Kommission, gestützt auf
Angaben der Untersuchungbehörden, der Medien, der anderen Organisationen und auf
eigene Recherchen zum schlimmen Ergebnis von 266 Ermordeten zwischen 18. April
und 15. August. Die CIDH gab für den 19. April bis 19. Juni die Zahl von 212
an, die ANPDH kam für die Periode vom 19. April bis 25. Juli auf 448 Tote. Die
Kommission kritisiert bei der CIDH den Einbezug von nicht im Zusammenhang mit
dem Konflikt gestorbenen 34 Menschen, weitere 10 Duplikaten sowie 13 Personen,
zu den sich nirgends staatliche Angaben (Gerichtsmedizin, Spitäler etc.) finden
lassen. Die Übereinstimmung mit der ANPDH betrifft 233 der angeführten 448 Fälle.
Kommissionsmitglied Cairo Amador betonte an der Pressekonferenz den
provisorischen Charakter auch ihres Berichts. Er erwähnte die Einsicht Mark
Twains von den drei Sorten von Lügen: „Lügen,
grosse Lügen und Statistiken.“ Es brauche einen Abgleich der „benutzten Methodologie und Kriterien“.
Interessant wäre auch ein Vergleich der Befunde der Wahrheitskommission mit jenen der Regierung,
die für die Zeit vom 19. April bis 25. Juli 197 Morde erfasst. Eine wichtige
Differenz von 69 Ermordeten, von der sich nur wenige Fälle mit der von der
Kommission untersuchten längeren Periode erklären lassen.
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Mitglieder der Wahrheitskommission. |
Am 10. Juli hatte die Wahrheitskommission
einen ersten
Bericht veröffentlicht. Darin schrieb sie: „In der untersuchten Periode [18. April bis 4. Juli) ist ein konstanter
Anstieg von Gestorbenen zu verzeichnen, die grösste Anzahl zwischen den
Massenanlässen. Ab dem 30. Juli lässt sich eine Zunahme beobachten, die mit dem
Aufbau der Strassensperren (…) und ihrer späteren Räumung zusammenfällt“
(s. 7). Diese Sperren „wurden zu
Szenarien vielfacher Menschenrechtsverletzungen [… die] grossmehrheitlich von
Personen beschützt wurden, die verschiedene Typen von Schusswaffen trugen,
sowohl nachgebaute wie industriell angefertigte. Der Einsatz der von
Schockgruppen begleiteten Ordnungskräfte haben die Todeszahlen in klarer
Verletzung der Menschenrechte noch weiter erhöht. Die Kommission hat 108
aufgrund der Strassensperre gestorbene Personen registriert. Sie hat auch viele
Anklagen erhalten wegen Folter, Erniedrigungen, sexueller Gewalt, Todesfällen
wegen der Verhinderung von Krankentransporten und Unterversorgung in
verschiedenen Landesteilen erhalten. Ebenso wegen Teuerung der
Grundbedarfsartikel, schulischem und Arbeitsabsentismus“ (s. 14/15).
„Die Kommission ist besorgt wegen der
[Misshandlungs-] Anklagen von Bürgern beider Seiten (…) wir haben eine anhaltende
Gewalt beobachtet, die Praxis der Entführung als Moment, um Unsicherheit zu
schaffen und die Opfer mit Schlägen, Knochenbrüchen, Geisselungen,
Verbrennungen mit chemischen Substanzen, Vergewaltigungen oder Verbrennungen
bei lebendigem Leib bis zum Tod zu foltern. Die Kommission erkannte, dass diese
Handlungen mehrheitlich in Gegenden mit Strassensperren und Protesten
erfolgten, vor allem gerichtet gegen staatliche Funktionäre und Personen aus
dem Regierungslager“
(s. 28).
Interessanterweise
spricht sich die Kommission auch für die Umsetzung der von der Regierung mit
der OAS ausgehandelten Schritte hin zu einer Wahlreform (s. 59) und der 15
Forderungen der CIDH vom letzten Mai bzgl. restlose Aufklärung der Morde aus.