Mouvement politique Résistons, Genève
Unser Freund und Genosse Alfredo Camelo wurde letzten Sonntag tot aufgefunden. Das lässt uns sprachlos. Wir werden Zeit brauchen, uns seine Abwesenheit bewusst zu machen, und vermutlich werden wir uns nie daran gewöhnen.
Seit Donnerstag, dem 26. August, wusste man nichts mehr von ihm, einen Tag danach klingelte sein Telefon nicht mehr. Aber er sollte an diesem Tag umziehen und hatte nichts verlauten lassen, dass er plane, zu verreisen, wegzugehen oder sich zurückzuziehen. Deshalb suchten ihn viele Leute im ganzen Kanton Genf. Ihnen allen sei von Herzen gedankt.
Die genauen Umstände seines Todes müssen erhellt werden. Die Polizei kann im Moment nichts über die Todesursache sagen, weshalb es einer umfassenden Untersuchung bedarf, die Wochen dauern kann.
Selbst wenn sich die Hypothese eines Selbstmordes bestätigen sollte, wofür zurzeit nichts spricht, trügen seine Folterer und Häscher der Vergangenheit dafür eine grosse Mitverantwortung. Alfredo war brutal gefoltert worden und hatte neun Jahre in kolumbianischen Gefängnissen verbracht. Er wusste genau, wie ein solches Trauma das Leben jener martert, die entkommen. Deshalb entschied er sich, sein berufliches Wissen in den Dienst jener Migranten zu stellen, die diese Verletzungen erlebt haben.
Alfredo war seinen Prinzipien treu. Mehrmals Kandidat bei Gemeinde- und Kantonswahlen für Ensemble à Gauche, sparte er keine Anstrengung, um für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Sozialismus zu kämpfen. Er reagierte allergisch auf jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung, auf Sexismus und Rassismus, die er täglich bekämpfte und dabei nie zögerte, sich persönlich zu exponieren. In der Schweiz beteiligte er sich an der Bewegung Solidarités und engagierte sich nachher in der Bildung der Gruppe Résistons. Er war auch sehr aktiv in der Solidarität mit den Völkern Lateinamerikas, speziell mit dem kolumbianischen Volk.
Er stand treu zu seiner Familie und seinen Freunden und war ein Mann mit grosser Menschlichkeit und tiefer Sensibilität, einer Sensibilität, die seine Erscheinung als «harter Typ» nicht verbergen konnte. Wer das Glück hatte, ihm nahe zu stehen, bemerkte bald, wie sein Herz voller Sensibilität vibrierte, die sich im Reichtum und in der Subtilität seiner Bilder zeigte, die er nur sehr selten ausstellte. Er hatte ein unbegrenztes Interesse am Menschen, über den er mit dem Studium der Ethnologie und Psychologie mehr lernen wollte.
Wir haben einen Bruder verloren, einen Freund und Genossen, einen von denen, die dir den Mut geben, trotz aller Widerwärtigkeiten weiterzukämpfen, die nie aufhörten, an die Millionen von Entrechteten zu denken, auch an jene, die hier bei uns leiden.
Alfredo, du wirst für uns immer eine Quelle der Hoffnung und des Mutes sein. Danke, Genosse!
Die Comunidad suchte Alfredo. |
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(Red.) Nationalrätin Stéfanie Prezioso (Ensemble à Gauche) fragte im Zusammenhang mit dem bisher ungeklärten Tod von Alfredo Camelo: «Kann der Bundesrat versichern, dass heute keine den kolumbianischen Paramilitärs nahestehende Person oder Gruppe in der Schweiz agiert»? Das Verteidigungsdepartment verwies in seiner Antwort vom 27. September auf die laufenden Ermittlungen der Genfer Behörden. Sollten sich allfällige, den Paramilitärs nahestehende Personen in der Schweiz einer illegalen Handlung schuldig machen, würden die Strafverfolgungsbehörden eingreifen. Die Hypothese eines gezielten Politmordes an dem in kolumbianischen Regierungskreisen verhassten Alfredo Camelo ist nur eine Möglichkeit. Auch andere Hypothesen stehen im Raum, z. B. die eines Racheaktes wegen des beruflichen Engagements Alfredos für von Gewalt bedrohte Frauen. Die These eines Selbstmordes wird vom engeren Kreis von Alfredo als unwahrscheinlich eingestuft. Bis Redaktionsschluss (Anfang November) hat die Genfer Polizei noch keine Untersuchungsergebnisse mitgeteilt. Die Westschweizer Linkszeitung Le Courrier hat in den letzten Tagen zwei Mal Angaben verbreitet, die einen Mord suggerieren. Das Problem dabei ist die Quellenlage. Ein Polizist habe einem Bekannten von einer Schussverletzung Alfredos am Bauch berichtet, so Le Courrier; eine vertrauenswürdige Quelle habe Uribe als Auftraggeber des Mordes genannt, so ein linker kolumbianischer Youtuber … Der Familien- und Freundeskreis von Alfredo Camelo, der über Umtriebe des kolumbianischen Regimes gegen geflüchtete Oppositionelle Bescheid weiss, schliesst die Mordthese nicht aus, erwartet aber gesicherte Informationen, auch von den Schweizer Sicherheitskräften. Ungesicherte Angaben können leicht der Angstmache in Exilkreisen dienen.
Nachdem Alfredo Camelo verschwunden blieb, kam es zu einer breit gestreuten Suchaktion der kolumbianischen Comunidad in Genf und anderswo. Bei der Beerdigung des Genossen kamen 2-300 Menschen aus linken Schweizer und kolumbianischen Spektren zusammen. An der Gedenkfeier am Rhône-Ufer, wo der Leichnam gefunden wurde, und danach in der Maison des Associations in Genf Ende Oktober wurde eine tiefe Betroffenheit und Verbundenheit manifest. «Menschliches» und «Politisches» kamen zusammen, Solidarität ist Gemeinsamkeit.
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Nachtrag 14.11.21 zu dem im aktuellen Correos-Heft 201 publizierten Beitrag oben: Noch immer keine Informationen seitens der Genfer Polizei. Die laut RTS vom 3. November von der Brigade Criminelle favorisierte These des Selbstmordes wird damit sehr unwahrscheinlich. Die kolumbianische Revista Semana veröffentlichte am 3. November den Bericht ¿Por qué mataron al exguerrillero Alfredo Camelo de un tiro en Suiza? (Warum töteten sie den Ex-Guerillero Alfredo Camelo mit einem Schuss in der Schweiz?). Ansonsten gestützt auf den Bericht von RTS, suggeriert der Titel einen Zusammenhang zwischen dem Tod (Mord) und dem im Artikel thematisierten Mordanschlag von 1978 auf den kolumbianischen Agrarkapitalisten und Innenminister Pardo Buelvas durch die später in die FARC integrierte Gruppe Autodefensa Obrera (ADO). Alfredo Camelo war dafür mitverurteilt worden. Le Courrier und RTS berichten auch von Drohungen nach dem Tod von Afredo Camelo gegen linke KolumbianerInnen in der Schweiz und von einer Sabotage an einem Rad des Wagens eines Aktivisten.