Nicaragua – worum es geht

Sonntag, 7. November 2021

 

Sonia Burrati*

(2.11.21) Von Freitag, dem 29., auf Samstag, den 30. Oktober, hat Twitter plötzlich hunderte von Accounts von nicaraguanischen AktivistInnen, die mit der seit 14 Jahren das Land regierenden sandinistischen Partei verbunden sind, geschlossen. Tags darauf haben zwei weitere Kolosse der Sozialen Medien made in USA, Facebook und Instagram, die Operation wiederholt. Soviel zur gepriesenen Meinungsfreiheit.

Der Versuch, die sandinistischen Netze zum Verstummen zu bringen und dafür jene der Opposition, die vor allem ausländische Call Centers, Informatikplattformen, falsche Accounts und Fake News gebrauchen, die Hass anstacheln und zur Wahlabstinenz aufrufen, wuchern zu lassen, gliedert sich in eine lange Reihe von Angriffen auf das sandinistische Projekt ein.

Themen wie Menschenrechte, politische Gefangene, Meinungsfreiheit, diktatorischer Autoritarismus oder mangelnde Rechtsstaatlichkeit dienen dabei den verschiedenen Oppositionskräften, ihren internationalen Verbündeten und gewissen Sektoren einer konfusen europäischen und lateinamerikanischen Linken als Hebel, um die Glaubwürdigkeit der sandinistischen Regierung sowohl im Ausland wie auch in ihrer eigenen Basis zu unterminieren.

Ist das globale Szenarium erst geschaffen, sind Zweifel gesät und der richtige Ton angeschlagen, um zunehmend Erstarrung, Ungläubigkeit, Enttäuschung und Wut zu generieren, werden diese Schritte erfolgen: internationale Isolierung, Nicht-Anerkennung der Wahlresultate und fortlaufend neue Wirtschaftssanktionen. Damit soll die Unzufriedenheit in der Bevölkerung geschürt und das Land unregierbar gemacht werden.

Am 7. November sind rund 4.4 Millionen NicaraguanerInnen zur Wahl von Präsident, Vize und Parlament aufgerufen. Zur Wahl treten neben der sandinistischen Regierungspartei FSLN mehrere Gruppierungen aus dem pulverisierten liberalen Spektrum, darunter der Partido Liberal Constitucionalista (PLC) des Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán (1997-2001), der evangelische Camino Cristiano (CC) und die indigene Partei Yatama an. Ausgeschlossen sind wegen einer Reihe von Unregelmässigkeiten der Partido Conservador (PC), im letzten Jahrhundert das Alter Ego des PLC, die Ciudadanos por la Libertad (CxL) des früheren Banquiers und mehrfachen Präsidentschaftskandidaten Eduardo Montealegre und der kaum bekannte Partido de Restauración Democrática (PRD).

Nach dem misslungenen Umsturzversuch von 2018 haben CxL und PRD ihren Parteistatus den beiden Hauptkräften der Opposition angedient: der Alianza Ciudadana (Unternehmer, traditionelle liberale PolitikerInnen, katholische Kirchenhierarchie, Ex-Contras, studentische Zirkel) und der UNAB (NGOs, ex-sandinistische Dissdenz, Ex-Contras und bäuerische und studentische Zirkel). Ausgeschlossen wurden auch mehrere mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus dem nationalen politischen und wirtschaftlichen Spektrum. Sie hatten ihre Absicht zu kandidieren schon angekündigt und sind jetzt im Gefängnis. Sie werden verschiedener Delikte beschuldigt, von Triangulierung von Finanzmittel über Geldwäsche bis zu Verbrechen gegen die Gesellschaft und die nationale Sicherheit und Integrität.

Worum geht es jetzt also? Nicht nur um Wahlen, wo aller Voraussicht nach Daniel Ortega wieder die Präsidentschaft und der FSLN die parlamentarische Mehrheit gewinnen werden, sondern um einen Konflikt zwischen einem Modell, das in weniger als 15 Jahren die Armut gemindert und den Reichtum verteilt hat, und der Rückkehr in die Nacht des Neoliberalismus.

Laut dem Wahlrat CNE sind 49.4 % der Wahlberechtigten zwischen 16 und 35 Jahr alt, davon sind 9.2 % zum ersten Mal zur Wahlbeteiligung aufgerufen. Insgesamt mehr als 2.1 Millionen potentielle WählerInnen, die weder den Krieg und den Aufstand gegen die Diktatur der Somozas, noch die 10 Jahre der Revolutionsregierung von 1979-1989 und die blutige US-Aggression erlebt haben, und von denen nur ein kleiner Teil vage Erinnerungen an die neoliberale Epoche hat. Weitere 19.2 % haben jene tragischen Jahre (1990-2006) weitgehend miterlebt. M. a. W. haben 70 % der am 7. November zur Wahl Aufgerufenen wenig oder keine eigenen Erfahrungen, um die beiden Modelle zu vergleichen.

Schauen wir uns also die Fakten an. Vor dem Umsturzversuch und der folgenden Covid-19-Pandemie und den beiden verheerenden Wirbelstürmen von Ende 2020 ist die allgemeine Armut von 48.3 % auf 24.9 % reduziert worden und die der extremen Armut von 17.6 % auf 6.9%.

Seit dem erneuten sandinistischen Regierungsantritt 2007 sind 21 neue Spitäler gebaut und weitere 46 restrukturiert worden. Errichtet wurden auch 1’259 Gesundheitsposten, 192 Gesundheitszentren und 178 Gebärhäuser. Zudem wurden 66 bei Antidrogenoperationen beschlagnahmte Camions zu mobilen Kliniken umgebaut, die letztes Jahr fast 2 Millionen Besuche absolviert und Medikamente gratis ausgegeben haben.

Landesweit erhalten mindestens 1.2 Millionen Kinder in allen Mensen der Primarschulen täglich ein warmes Essen. Das hat zur Reduktion der Mangelernährung um 46 % bei den Unter-Fünfjährigen und um 66 % bei den 6-12-Jährigen beigetragen. Die Kindersterblichkeit wurde um 61 %, die Müttersterblichkeit um 70 % reduziert.

2003 ging die Hälfte der Nicas nicht mehr als 3.5 Jahre zur Schule. Nur 30 % schlossen die Grundschule ab. Heute ist der verfrühte Schulabgang von 24 % auf 4 % zurückgegangen.

Die Wohnungsfrage ist ein altes Problem in Nicaragua. Seit 2007 sind 158'000 Häuser neu- oder umgebaut worden. 235'000 Männer und 193'000 Frauen erhielten einen Haustitel. In den 16 Jahren der neoliberalen Regierungen waren es weniger als 10'000. Ein Gebiet von mehr als 40'000 km2 (31 % des nationalen Territoriums) wurde 314 indigenen Gemeinschaften in Form von nicht-übertragbaren Eigentumstiteln überschrieben.

2007 stammten 80 % des Stroms in Nicaragua aus fossilen Brennstoffen. Heute werden 80 % aus erneuerbaren Energien gewonnen. Das Stromnetz deckt nicht mehr nur 54 %, sondern 99 % des nationalen Territoriums ab. 2006 war der Zugang zu Trinkwasser in den städtischen Gebieten zu nur 65 % gesichert, heute zu 92 %. Das Ziel bis 2026 sind 98 %. Auf dem Land betrug der Zugang 28 %, heute sind es 55 %, Ziel bis 2026 sind 85 %.

Kalkuliert haben mindestens 25'700 LandwirtInnen Kredite in der Gesamthöhe von $ 548 Millionen erhalten. In diesen 14 Jahren sind rund 6’000 Kooperativen mit 318'000 Mitgliedern entstanden.  Das Ergebnis ist, dass Nicaragua heute 90 % des im Land verzehrten Essens selber herstellt.

Die rund 24'000 Kleinunternehmen schaffen 70 % der Arbeitsplätze. Mehr als 800'000 haben Darlehen von pro Jahr insgesamt $ 18 Millionen zu einem Jahreszins von 5 % für wirtschaftliche Aktivitäten erhalten.

Fortschritte gibt es auch bei gleichen Chancen und Gendergleichheit. Laut dem Global Gender Gap Report von 2020 ist Nicaragua in 13 Jahren von Position 62 von 153 Ländern auf Position 5 vorgerückt.[1] Danach hat Nicaragua die Geschlechterkluft um 80 % reduziert und belegt Rang 1 bei Gesundheit und Überleben, Erziehung und Frauenvertretung in den Ministerien und Rang 3 in Sachen politisches Empowerment.

Auf der anderen Seite herrscht «mehr vom Gleichen», also bei den Sektoren, die 16 Jahre lang regiert und enorme Mengen von Familien verarmt, Basisdienstleistungen privatisiert und sich dem Diktat der multilateralen Finanzinstitutionen unterworfen hatten.

So gesehen, sollten wenig Zweifel bezüglich der Lage aufkommen. Dennoch wird es angesichts eines internationalen, zur Delegitimierung der Wahlresultate bereiten und als Echokammer von Washington und Bruxelles fungierenden Medienapparates für die sandinistische Regierung und Ortega selber wichtig sein, die Nicas von der Wichtigkeit der Wahlbeteiligung zu überzeugen. So sollen sie ihre Unterstützung für eine bald 15-jährige Erfahrung und das vorgeschlagene Modell ratifizieren.

·        altrenotizie.org, 2.11.21: Nicaragua, la posta in gioco

___________________________

Managua: Eröffnung eines Wahllokals heute früh. Bild: Nicoletta.

 (zas) Natürlich sind Angaben zu Sozialmassnahmen nicht alles. Aber ohne sie stimmt nichts. Natürlich sind WEF und andere transnationale Quellen zu Themen wie Geschlechtergerechtigkeit alles andere als massgebliche Instanzen. Aber wer (im Mainstream und auch in seinem «linken» Begleitchor) nur den sexuellen Missbrauch Daniel Ortegas an seiner Stieftochter oder das reaktionäre Abtreibungsverbot erwähnt, ohne die eindeutige Tendenz zu einem wirtschaftlichen Empowerment der Frauen aus den Unterklassen mit zu reflektieren, lügt. Bei einem erwarteten sandinistischen Sieg werden ab morgen Montag jene, die in «opportunen» Putschen gegen gewählte Regierungen routiniert eine Reformchance sehen, händeringend von Wahlbetrug sprechen. Vielleicht brauchen wir etwas länger, um einschätzen zu können, ob es dem FSLN gelungen ist, aus den Wahlen ein Plebiszit für sein Modell zu machen, oder ob Missmut und «Apathie» ein unübersehbares Warnsignal ausgesendet haben.

 



[1] Anm. d. Ü.: Quelle: WEF. In dessen Report von 2021 liegt Nicaragua auf Platz 12.