Ukrainekrise. Interview mit Frédéric Mousseau, französischer Wirtschaftswissenschaftler und politischer
Direktor des Oakland-Instituts: "Es gibt keine drohende Verknappung,
sondern heftige Spekulationen auf den Terminmärkten, die auf Preissteigerungen
und künftige Hungersnöte wetten, um die Gewinne zu maximieren".
Luca Celada*
Frédéric Mousseau koordiniert für das Oakland-Institut, eine fortschrittliche Wirtschaftsbeobachtungsstelle Forschungsarbeiten
zu Land, Landwirtschaft und Ernährungssicherheit. Schon zuvor Berater von NGOs wie Ärzte ohne
Grenzen und Oxfam, befasst er sich insbesondere mit landwirtschaftlichen Investitionen, Preisschwankungen und der
weltweiten Nahrungsmittelkrise.
LC: Sie haben den Aufstieg der multinationalen Unternehmen im ukrainischen
Agrarsektor als "beispiellos" bezeichnet.
FM: Für die jüngere Geschichte würde ich das so sehen, vor allem bei den Privatisierungs-
und Landreformbestrebungen. Es gibt keinen Präzedenzfall für einen derartigen
Vorstoss westlicher Länder und Institutionen zur Durchsetzung einer solchen
Privatisierung.
In einem Ihrer Berichte vergleichen Sie die Beziehungen der
Ukraine zum Westen mit denen von Ländern wie Sambia, Myanmar und Brasilien. Ein
klassisches Beispiel für den postkolonialen Neoliberalismus?
Dies verdeutlicht, dass internationale
Institutionen, Regierungen und westliche Privatinteressen die Privatisierung in einer Reihe von
Ländern weltweit gefördert haben. Die Ukraine ist ein Paradebeispiel dafür, wie Wirtschaftshilfe die Durchsetzung wünschenswerter Reformen ölt. Aber die
Ukraine ist auch ein einzigartiger Fall wegen ihrer Nähe zu Europa und der Menge an
Land, das zuvor durch das sowjetische System kollektiviert wurde und somit für
die Privatisierung zur Verfügung steht.
Spielten die Interessen der Agrarindustrie eine
wichtige Rolle in dem Konflikt, der als Kampf zwischen Demokratie und autoritärer
Korruption beschrieben wird?
Nicht nur diese. Es war
klar, dass ebenso wichtige Interessen an natürlichen und mineralischen
Ressourcen und ein ähnlicher Vorstoss zur Privatisierung des
Banken- und Rentensektors auf dem Spiel standen. Jedenfalls waren die grossen westlichen Konglomerate stark motiviert, Quoten dieser nationalen Wirtschaftssektoren zu erwerben.
Diese Interessen spielten bereits in den 1990er
Jahren …
Sobald die Ukraine Anfang
der 1990er Jahre ihre Unabhängigkeit erlangte, drängte der Internationale
Währungsfonds auf die Privatisierung von öffentlichem Land. Die grossen
Finanzinstitute boten den ersten ukrainischen Regierungen "Hilfe" bei
der Erstellung von
Urkunden und Landtiteln an. Und es war ebenso offensichtlich, dass die
Privatisierungsprozesse viel mehr bestimmten und engen Oligarchien als dem
ukrainischen Volk zugutekamen. Aus diesem Grund wurde seinerzeit ein Moratorium
für den Landerwerb verhängt, das bis zum vergangenen Jahr in Kraft blieb.
Und schon damals zeichneten sich zwei Projekte für wirtschaftliche
Einflussnahme ab, gegensätzliche Unterstützungspläne Russlands und des Westens.
So war es. Im Jahr 2014 wurden zwei konkurrierende Angebote
für Wirtschaftshilfe
unterbreitet, zwei "Umschläge", ein russischer und ein westlicher.
Nach dem Maidan-Aufstand würde sich das westliche Paket durchsetzen.
Sie dokumentieren, wie der IWF und die Europäische
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung eine intensive Kampagne zur Privatisierung des Landes
führten.
Die Hilfszusage der
europäischen Seite war von Anfang an bestimmte Bedingungen geknüpft, vor allem
an die Aufhebung des Moratoriums (für den Verkauf von Land an Ausländer, Anm. LC), eine
Forderung, die von
Anfang an jedes Hilfsangebot begleitete. Das war eine unabdingbare Voraussetzung.
Welche konkreten Auswirkungen wird die Aufhebung
des Moratoriums haben?
Es gibt zwar immer noch
Grenzen für den Erwerb von Grundstücken durch Ausländer, aber dies ist ein wichtiger Schritt in
Richtung Privatisierung und Konsolidierung des Grundbesitzes. Das Gesetz sieht
zwar Beschränkungen für ausländisches Eigentum vor, erlaubt aber gleichzeitig
internationalen Banken, sich an ukrainischen Unternehmen zu beteiligen oder in lokale Unternehmen zu
investieren - ein Mechanismus, der es allen ermöglicht, in diesen Sektor zu
investieren. Grossen amerikanischen Investmentfonds wie z.B. BlackRock steht die Tür
offen, über ukrainische Unternehmen in das aufstrebende Agrobusiness zu investieren,
dass sie offiziell nicht als ausländische Besitzer erscheinen. Das Land
bietet die Chance auf eine hohe Investitionsrendite. Darüber hinaus ist die
Reform so angelegt, dass sie Grossgrundbesitzer und die industrielle Landwirtschaft
begünstigt und die
weniger produktiven Kleinbauern zunehmend verdrängt - eine Dynamik, die der IWF
ausdrücklich befürwortet.
Stimmt es also, dass es
amerikanische multinationale Unternehmen gibt, die grosse Anteile an ukrainischem Land halten?
Ja, aber der alleinige Blick auf den Grundbesitz
kann irreführend sein. Unternehmen wie Monsanto, Cargill, Archer Daniels
Midland und Dupont brauchen kein Land zu besitzen. Ihr Modell konzentriert sich
auf den Betrieb von Zuchtanlagen, Düngemittelanlagen, kommerzieller Infrastruktur und Exportterminals.
Sie profitieren von der Industrialisierung des Agrarsektors und der
Liberalisierung des Handels (neben Silos und Mühlen betreibt z. B. Archer
Daniels Midland einen Getreideterminal im Hafen von Odessa, Anm. LC).
Sehen Sie in anderen
postsowjetischen Republiken eine ähnliche Dynamik?
Für andere Länder liegen
uns keine spezifischen Daten vor. Angesichts der Grösse der Ukraine und der
Qualität ihrer Infrastruktur würde ich jedoch sagen, dass dieses Land
(abgesehen vielleicht von Russland selbst) das grösste potenzielle Eroberungsfeld für das private
Agrobusiness darstellt.
Kann man davon ausgehen, dass ein Ziel der
russischen Aggression darin besteht, dieser Dynamik entgegenzuwirken?
Ich habe keine Lust,
Vermutungen über russische Ziele anzustellen. Unsere Berichte belegen lediglich, dass seit Jahren ein
Kampf um die Kontrolle der ukrainischen Ressourcen geführt wird. Natürlich wird
in den offiziellen Versionen die Demokratie oder umgekehrt die historische
kulturelle Verbundenheit der Ukraine mit Russland betont, aber es ist klar, dass es enorme
wirtschaftliche Interessen gibt. Es scheint auch nicht so, dass der Krieg die
westliche Strategie in dieser Hinsicht verändert hat.
Gegenwärtig macht die Blockade
der Schwarzmeerhäfen wegen der möglichen Auswirkungen auf die Märkte und eine
weltweite Nahrungsmittelkrise Sorgen.
Wir werden in Kürze eine
Studie zu diesem Thema veröffentlichen. Die FAO erklärte Anfang Mai, dass die
weltweiten Getreidevorräte relativ stabil sind.[i] Die Weltbank bestätigt, dass die Getreidevorräte
nahe an historischen Rekorden liegen und dass drei Viertel der russischen und
ukrainischen Ernten bereits vor Beginn des Krieges geliefert wurden. Wir können
sagen, dass keine Verknappung droht, sondern dass auf den Terminmärkten heftig spekuliert wird, um auf
steigende Preise und künftige Hungersnöte zu wetten und die Gewinne zu
maximieren. So wurde beispielsweise viel über die Entscheidung Indiens, die
Weizenexporte zu stoppen, gesprochen, die von den USA wegen des daraus resultierenden Drucks
auf die Weltmarktpreise stark kritisiert wurde. Aber wenn man genau hinsieht,
entfallen auf Indien nur 2 % der weltweiten Ausfuhren (10 Millionen Tonnen
werden bis 2022/23 erwartet).
Im Vergleich dazu bewegen die USA derzeit 160
Millionen Tonnen Getreide pro Jahr, was 35 % des Welthandels entspricht. Die
Kritik an Indien hat weniger mit einer tatsächlichen Nahrungsmittelkrise zu tun
als mit der Aufrechterhaltung eines globalen Marktes, der im Interesse der Agrarriesen und ihrer
Investoren liegt. Natürlich gibt es eine Ernährungskrise mit Millionen oder
Hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die sich in einem Zustand
der Unsicherheit befinden, keinen Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln haben oder von
Wohlfahrtsnetzen abhängig sind, aber diese Situation besteht unabhängig vom
Krieg. Es gibt eine Nahrungsmittelkrise, aber es ist eine Krise ohne
tatsächliche Nahrungsmittelknappheit.