Fragen zum Hungermassaker

Freitag, 10. Juni 2022

 

(zas, 10.6.22) In weiten Teilen der Welt nimmt die Hungerkatastrophe zu. Festgemacht wird sie in den Medien an Russland, das die ukrainischen Exporte von Getreide und die eigenen von Dünger und auch Getreide blockiere. Die Realität ist einiges komplexer und dramatischer. Wie gross auch immer die Mitverantwortung Moskaus für diese Tragödie, zentrale Herren des Hungers werden in den Medien einmal mehr ausgeblendet.

Am unmittelbarsten bedroht sind Länder Afrikas und des Nahen Ostens, da sie zum Teil weit mehr als andere von Importen von Nahrungsmitteln und Dünger, und zwar besonders aus der Ukraine oder Russland, abhängig sind. Einen bedrückenden Einblick in die Lage in Somalia, Jemen, Syrien, Sudan und anderen Ländern der Region gibt Tom Stevenson in Not War Alone. The global food crisis. Stevenson reflektiert, was Organisationen wie die FAO zur Hungerwalze sagen, was aber die westliche Propaganda oft auslässt oder nur en passant streift: «Der Einmarsch der Russen in die Ukraine fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Getreidepreise weltweit bereits extrem hoch waren. Die FAO argumentiert, der Krieg habe die Krise nicht verursacht, sondern vielmehr ‘die Fragilität des herrschenden globalen Ernährungssystems ‘ offenbart.» Stichworte: Lieferkettenprobleme mit der Pandemie, Klima u. a. Stevenson weiter: «Doch trotz des Schadens, den die Pandemie angerichtet hat, kann sie den bemerkenswerten Anstieg der Lebensmittelpreise, der dem Krieg in der Ukraine vorausging, nicht vollständig erklären. Ein wichtiger Teil der Geschichte hat mit den Bewegungen der schlecht regulierten Rohstoffmärkte zu tun, die von einer Handvoll Finanzinstitute und Unternehmen beherrscht werden.»

Al Jazzeera veröffentlichte am 3. Juni ein Interview mit Luca Russo, vorgestellt als «führender FAO-Analytiker für Nahrungskrisen» (Ukraine war ‘aggravating’ existing global food crisis, UN warns). Russo sagt: «Zuerst, das ist keine neue Krise. Die Zahl der Menschen, die einer schweren Nahrungsunsicherheit ausgesetzt sind, ist in den letzten sechs Jahren dramatisch gewachsen. Der Ukraine-Krieg ist das letzte Element in einer extrem komplexen Lage.» Al Jazzeera fragt: «Wie bedroht die Ukraine die Nahrungsversorgung?» Russo: «Wir müssen klarstellen, dass es heute keinen globalen Nahrungsmittelmangel gibt. Um das zu verdeutlichen: Jedes Jahr produziert die Welt rund 780 Millionen metrische Tonnen Getreide, und dieses Jahr fehlen bloss 3 Millionen.»

Auf die Frage, warum es dennoch eine Hungerkrise gebe, meint Russo: «Es gibt keinen Nahrungsmittelmangel, aber die Preise eskalieren. Ein Grund dafür sind die gewachsenen Energiekosten. Als Ergebnis des Ukrainekriegs gaben letzten Monat 19 Länder Nahrungsexportrestriktionen erlassen.»

Das ist eine Momentaufnahme. Der sich jetzt noch mehr ausbreitende Hunger ist tragisch. Noch katastrophaler wird es, wenn der Mangel an russischem Dünger voll auf die weltweite Nahrungsmittelproduktion durchschlägt.

Schauen wir kurz auf die von Russo genannten Energiepreise als Treiber der Hungersnot. Im ersten Trimester dieses Jahres, schreibt Jake Johnson in Common Dreams, «sahen Chevron und Exxon, wie sich ihre Gewinne im Vergleich zur Vorjahresperiode vervierfacht respektive verdoppelt haben, trotz des Schrumpfens der US-Wirtschaft. Der Gewinn von Chevron sauste als Ergebnis des durch die russische Invasion der Ukraine verursachten Chaos auf den globalen Energiemärkten auf $ 6.3  Mrd. und damit den Höchststand seit 10 Jahren. Die Exxon-Profite sprangen auf $ 5.5 Mrd.  Exxon kündigte an, den unvorhergesehenen Gewinn zugunsten der Shareholders einzusetzen und deshalb ihr Programm für den Aktienrückkauf auf $ 30 Mrd. zu verdreifachen.» Vor zwei Monaten zitierten wir aus einem Artikel zu US-Unternehmergewinnen von fast $3 Billionen im Jahr 2021 den ehemaligen US-Arbeitsminister Robert Reich: Die Unternehmen «erhöhen die Preise nicht, weil sie müssen. Sie machen es, weil sie es bei so wenig Konkurrenz können.»

2008 ff. wurden wegen der sog. Subprime-Krise gigantische Summen aus der Spekulation mit Immobilien in jene mit Nahrungsmitteln verschoben. Eine unmittelbare Folge war eine massive Zunahme der Hungerbetroffenen. Heute profitieren vom Ukrainekrieg die Energie- und die Rüstungsindustrie. (Bei letzterer hatten vorletztes Jahr 100-US-Vertragsnehmer des Pentagons $ 551 Mrd. Gewinn gemacht – heute ist die Bonanza viel grösser.) Die derzeitige Krise bei den Kryptowährungen und der Rückgang der IT-Marktnotierungen dürften riesige Spekulationssummen in den Agrarhandel spülen.

Einschub zum Thema «Kampf» gegen die Klimaerhitzung: Biden hatte kürzlich die Vergabe von Schürfrechten für Öl und Gas an Multis auf öffentlichem Grund massiv erhöht.  Auf die Preise wird diese «Zuvorkommenheit» während Jahren ebenso wenig Einfluss haben wie seine Direktive zur enormen Ausweitung des Fracking. Aber begründet wird das monoton mit den Strompreisen infolge des Ukrainekriegs. Putin weiss wie die einschlägigen Lobbys hier: Die drohende Energiekrise in der EU sei auf das Umstellen auf CO2-freien Strom zurückzuführen. Auch die deutschen Olivgrünen sind in diesen Konsens eingebunden: Aussenministerin Annalena Baerbock hatte schon am 27. Februar mitgeteilt, aus Solidarität mit der Ukraine werde halt der Kohlenausstieg verschoben. Ins gleiche Horn blies zuvor der Wirtschaftsminister, wie das ZDF berichtete: «Zuvor hatte am Sonntag bereits Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) längere Laufzeiten von Kohle- und Atomkraftwerken in Deutschland nicht ausgeschlossen.»

Welche Verantwortung trägt der Kreml für die Hungersnot? Zum einen hat er den Krieg angefangen, unabhängig davon, dass die NATO diesen Krieg massiv mitprovoziert hat (deshalb sprechen westliche Politikgrössen und Medien gebetsmühlenartig vom «nicht provozierten Krieg»). Was genau stimmt und was nicht an den Berichten über Forderungen Putins nach «Gegenleistungen» für eine Einwilligung in den Export ukrainischer Nahrungsmittel über das Schwarze Meer, dürfte eigentlich für die meisten von uns höchst unklar sein. Denn wir schwimmen zwischen zwei Propagandaströmen, die in Sachen Lügen und Zynismus miteinander wetteifern. Was den Export von russischen Nahrungsmitteln und Dünger betrifft, hat Zwar das US-Finanzministerium (also die «internationale Gemeinschaft») laut eigenen Dokumenten solche russischen Ausfuhren von den Sanktionen ausgenommen. Nur: Erinnern wir uns an die «humanitären Ausnahmeklauseln» etwa zum Iran oder zu Venezuela. Bei diesem letztes Jahr von der Covid-Pandemie schwer gebeutelten Land verhinderte der IWF auf Kommando Washingtons vergangenen Oktober die Auszahlung von $ 5 Mrd. an Covid-Nothilfe im Rahmen eines globalen, aber hauptsächlich den reichen Ländern zugutekommenden, da auf Einlagen beruhenden Pakets des Fonds. Nicht etwa, dass der Fonds von der für Venezuela geltenden humanitären Ausnahmeklausel von den Sanktionen nicht gewusst hätte, aber sein Problem war, ob vielleicht nicht doch der von Trump als «Präsident» eingesetzte Guaidó und nicht ein gewisser Maduro ganz real dieses Amt ausübe.

Im Guardian lesen wir: «Aber Russland will im Gegenzug [für einen unbehinderten ukrainischen Getreideexport aus Odessa] die Aufhebung der westlichen Sanktionen von russischem Dünger, etwas, wozu auch [der italienische Ministerpräsident] Draghi sagt, Afrika verlange das von der EU und es müsse genauer betrachtet werden». Nanu, hat Draghi, hat man in Afrika das oben verlinkte Factsheet des US-Finanzministerium gar nicht mitbekommen oder ist z. B. der russische Dünger, so wichtig für die Landwirtschaft vieler Länder, von den Ausnahmen ausgenommen?