«Das Getreide ist da, die Preisspekulation verursacht die Krise»

Mittwoch, 22. Juni 2022

 

Ukrainekrise. Interview mit Frédéric Mousseau, französischer Wirtschaftswissenschaftler und politischer Direktor des Oakland-Instituts: "Es gibt keine drohende Verknappung, sondern heftige Spekulationen auf den Terminmärkten, die auf Preissteigerungen und künftige Hungersnöte wetten, um die Gewinne zu maximieren".

Luca Celada*

Frédéric Mousseau koordiniert für das Oakland-Institut, eine fortschrittliche Wirtschaftsbeobachtungsstelle Forschungsarbeiten zu Land, Landwirtschaft und Ernährungssicherheit. Schon zuvor Berater von NGOs wie Ärzte ohne Grenzen und Oxfam, befasst er sich insbesondere mit landwirtschaftlichen Investitionen, Preisschwankungen und der weltweiten Nahrungsmittelkrise.

LC: Sie haben den Aufstieg der multinationalen Unternehmen im ukrainischen Agrarsektor als "beispiellos" bezeichnet.

FM: Für die jüngere Geschichte würde ich das so sehen, vor allem bei den Privatisierungs- und Landreformbestrebungen. Es gibt keinen Präzedenzfall für einen derartigen Vorstoss westlicher Länder und Institutionen zur Durchsetzung einer solchen Privatisierung.

In einem Ihrer Berichte vergleichen Sie die Beziehungen der Ukraine zum Westen mit denen von Ländern wie Sambia, Myanmar und Brasilien. Ein klassisches Beispiel für den postkolonialen Neoliberalismus?

Dies verdeutlicht, dass internationale Institutionen, Regierungen und westliche Privatinteressen die Privatisierung in einer Reihe von Ländern weltweit gefördert haben. Die Ukraine ist ein Paradebeispiel dafür, wie Wirtschaftshilfe die Durchsetzung wünschenswerter Reformen ölt. Aber die Ukraine ist auch ein einzigartiger Fall wegen ihrer Nähe zu Europa und der Menge an Land, das zuvor durch das sowjetische System kollektiviert wurde und somit für die Privatisierung zur Verfügung steht.

Spielten die Interessen der Agrarindustrie eine wichtige Rolle in dem Konflikt, der als Kampf zwischen Demokratie und autoritärer Korruption beschrieben wird?

Nicht nur diese. Es war klar, dass ebenso wichtige Interessen an natürlichen und mineralischen Ressourcen und ein ähnlicher Vorstoss zur Privatisierung des Banken- und Rentensektors auf dem Spiel standen. Jedenfalls waren die grossen westlichen Konglomerate stark motiviert, Quoten dieser nationalen Wirtschaftssektoren zu erwerben.

Diese Interessen spielten bereits in den 1990er Jahren

Sobald die Ukraine Anfang der 1990er Jahre ihre Unabhängigkeit erlangte, drängte der Internationale Währungsfonds auf die Privatisierung von öffentlichem Land. Die grossen Finanzinstitute boten den ersten ukrainischen Regierungen "Hilfe" bei der Erstellung von Urkunden und Landtiteln an. Und es war ebenso offensichtlich, dass die Privatisierungsprozesse viel mehr bestimmten und engen Oligarchien als dem ukrainischen Volk zugutekamen. Aus diesem Grund wurde seinerzeit ein Moratorium für den Landerwerb verhängt, das bis zum vergangenen Jahr in Kraft blieb.

Und schon damals zeichneten sich zwei Projekte für wirtschaftliche Einflussnahme ab, gegensätzliche Unterstützungspläne Russlands und des Westens.

So war es. Im Jahr 2014 wurden zwei konkurrierende Angebote für Wirtschaftshilfe unterbreitet, zwei "Umschläge", ein russischer und ein westlicher. Nach dem Maidan-Aufstand würde sich das westliche Paket durchsetzen.

Sie dokumentieren, wie der IWF und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung eine intensive Kampagne zur Privatisierung des Landes führten.

Die Hilfszusage der europäischen Seite war von Anfang an bestimmte Bedingungen geknüpft, vor allem an die Aufhebung des Moratoriums (für den Verkauf von Land an Ausländer, Anm. LC), eine Forderung, die von Anfang an jedes Hilfsangebot begleitete. Das war eine unabdingbare Voraussetzung.

Welche konkreten Auswirkungen wird die Aufhebung des Moratoriums haben?

Es gibt zwar immer noch Grenzen für den Erwerb von Grundstücken durch Ausländer, aber dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung Privatisierung und Konsolidierung des Grundbesitzes. Das Gesetz sieht zwar Beschränkungen für ausländisches Eigentum vor, erlaubt aber gleichzeitig internationalen Banken, sich an ukrainischen Unternehmen zu beteiligen oder in lokale Unternehmen zu investieren - ein Mechanismus, der es allen ermöglicht, in diesen Sektor zu investieren. Grossen amerikanischen Investmentfonds wie z.B. BlackRock steht die Tür offen, über ukrainische Unternehmen in das aufstrebende Agrobusiness zu investieren, dass sie offiziell nicht als ausländische Besitzer erscheinen. Das Land bietet die Chance auf eine hohe Investitionsrendite. Darüber hinaus ist die Reform so angelegt, dass sie Grossgrundbesitzer und die industrielle Landwirtschaft begünstigt und die weniger produktiven Kleinbauern zunehmend verdrängt - eine Dynamik, die der IWF ausdrücklich befürwortet.

Stimmt es also, dass es amerikanische multinationale Unternehmen gibt, die grosse Anteile an ukrainischem Land halten?

Ja, aber der alleinige Blick auf den Grundbesitz kann irreführend sein. Unternehmen wie Monsanto, Cargill, Archer Daniels Midland und Dupont brauchen kein Land zu besitzen. Ihr Modell konzentriert sich auf den Betrieb von Zuchtanlagen, Düngemittelanlagen, kommerzieller Infrastruktur und Exportterminals. Sie profitieren von der Industrialisierung des Agrarsektors und der Liberalisierung des Handels (neben Silos und Mühlen betreibt z. B. Archer Daniels Midland einen Getreideterminal im Hafen von Odessa, Anm. LC).

Sehen Sie in anderen postsowjetischen Republiken eine ähnliche Dynamik?

Für andere Länder liegen uns keine spezifischen Daten vor. Angesichts der Grösse der Ukraine und der Qualität ihrer Infrastruktur würde ich jedoch sagen, dass dieses Land (abgesehen vielleicht von Russland selbst) das grösste potenzielle Eroberungsfeld für das private Agrobusiness darstellt.

Kann man davon ausgehen, dass ein Ziel der russischen Aggression darin besteht, dieser Dynamik entgegenzuwirken?

Ich habe keine Lust, Vermutungen über russische Ziele anzustellen. Unsere Berichte belegen lediglich, dass seit Jahren ein Kampf um die Kontrolle der ukrainischen Ressourcen geführt wird. Natürlich wird in den offiziellen Versionen die Demokratie oder umgekehrt die historische kulturelle Verbundenheit der Ukraine mit Russland betont, aber es ist klar, dass es enorme wirtschaftliche Interessen gibt. Es scheint auch nicht so, dass der Krieg die westliche Strategie in dieser Hinsicht verändert hat.

Gegenwärtig macht die Blockade der Schwarzmeerhäfen wegen der möglichen Auswirkungen auf die Märkte und eine weltweite Nahrungsmittelkrise Sorgen.

Wir werden in Kürze eine Studie zu diesem Thema veröffentlichen. Die FAO erklärte Anfang Mai, dass die weltweiten Getreidevorräte relativ stabil sind.[i] Die Weltbank bestätigt, dass die Getreidevorräte nahe an historischen Rekorden liegen und dass drei Viertel der russischen und ukrainischen Ernten bereits vor Beginn des Krieges geliefert wurden. Wir können sagen, dass keine Verknappung droht, sondern dass auf den Terminmärkten heftig spekuliert wird, um auf steigende Preise und künftige Hungersnöte zu wetten und die Gewinne zu maximieren. So wurde beispielsweise viel über die Entscheidung Indiens, die Weizenexporte zu stoppen, gesprochen, die von den USA wegen des daraus resultierenden Drucks auf die Weltmarktpreise stark kritisiert wurde. Aber wenn man genau hinsieht, entfallen auf Indien nur 2 % der weltweiten Ausfuhren (10 Millionen Tonnen werden bis 2022/23 erwartet).

Im Vergleich dazu bewegen die USA derzeit 160 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr, was 35 % des Welthandels entspricht. Die Kritik an Indien hat weniger mit einer tatsächlichen Nahrungsmittelkrise zu tun als mit der Aufrechterhaltung eines globalen Marktes, der im Interesse der Agrarriesen und ihrer Investoren liegt. Natürlich gibt es eine Ernährungskrise mit Millionen oder Hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die sich in einem Zustand der Unsicherheit befinden, keinen Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln haben oder von Wohlfahrtsnetzen abhängig sind, aber diese Situation besteht unabhängig vom Krieg. Es gibt eine Nahrungsmittelkrise, aber es ist eine Krise ohne tatsächliche Nahrungsmittelknappheit.