Nicaragua: Unsichtbare und zweideutige Kommunalwahlen

Freitag, 18. November 2022

 

Gérald Fioretta*

Am Sonntag, den 6. November 2022, fanden in den 153 Gemeinden Nicaraguas Kommunalwahlen statt.

Der Krieg in der Ukraine und seine weltweiten Auswirkungen haben zur Unsichtbarkeit dieser Kommunalwahlen und ihres Kontextes selbst bei üblichen Beobachtern geführt. Der FSLN und die Regierung sind sicherlich nicht unglücklich darüber, dass sie den "politisch korrekten" Spötteleien entgehen, die den Wahlprozess als Farce bezeichnen. Man muss auch zugeben, dass der Wahlkampf auf interner Ebene kurz und unspektakulär war und sich auf "Haus-für-Haus"-Besuche beschränkte. 

Das Ergebnis jedoch ist spektakulär: Zum ersten Mal haben alle 153 Gemeinden eine sandinistische Bürgermeisterin oder einen sandinistischen Bürgermeister. Die Analyse der Ergebnisse und des Kontextes ist zweideutig.

Analysten, die mit dem Sandinismus sympathisieren, betonen, dass die Wahlen ruhig (la paz), ohne ausländische Intervention und ohne Hass verlaufen sind. Die Wahlbeteiligung um die 57 Prozent liegt nach den vorliegenden Zahlen im Durchschnitt der Kommunalwahlen in Nicaragua und der zentralamerikanischen Region. Bemerkenswert und nicht banal ist, dass das Wahlgesetz die Parität von Männern und Frauen bei den Kandidaturen vorschreibt: Es wird also künftig 77 Alcadesas und 76 Alcaldes geben, wobei die StellvertreterInnen zwangsläufig dem anderen Geschlecht angehören.

Drei Gründe erklären dieses für den Sandinismus absolut günstige Ergebnis.

Der erste ist, dass die Wählenden die positiven Auswirkungen der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie des Infrastrukturaufbaus anerkennen, die die sandinistische Regierung seit nunmehr 15 Jahren betreibt. Niemand kann den Bau neuer Krankenhäuser, Schulen und den Zugang zu elektrischer Energie für 99% des Landes in Frage stellen, noch den Bau von Strassen und Brücken im ganzen Land, die es seit der historischen Einweihung der Wawa-Brücke Ende Oktober 2022 sogar ermöglichen, den Norden der Atlantikküste mit dem Rest des Landes zu verbinden. 

Zweitens haben Oppositionsparteien, die ehemaligen sandinistischen Dissidenten der MRS und die liberale Partei CXL (Bürger für die Freiheit), zur Wahlenthaltung aufgerufen. Sie wurden den Wahlbehörden nach den Ereignissen von April bis Juli 2018 – die der Regierung zufolge in einem gewaltsamen Versuch eines Putsches mündeten - aus dem Verkehr gezogen. Und es ist klar: Die 18 Gemeinden, die dieses Mal an den Sandinismus gegangen sind, fast alle zum ersten Mal in ihrer Geschichte, rapportieren einen durchschnittlichen Rückgang der Wahlbeteiligung um 25 Prozent. Der Boykottaufruf wurde in diesen Gemeinden befolgt ... und so konnte der FSLN alle Gemeinden gewinnen.

Das schlagende Beispiel dafür ist Trinidad, eine Partnerstadt unserer Genossen in Delémont, die 2'800 WählerInnen an den Boykott verliert, und gleichzeitig gewinnt der FSLN 1'700 WählerInnen, die sicherlich von der Regierungspolitik und der Basisarbeit der AktivistInnen überzeugt sind.  Der FSLN gelangt so von 42 % im Jahr 2017 auf 76 % im Jahr 2022!

Drittens ist die Beteiligung der von den "echten" Oppositionsparteien, die zum Boykott aufrufen, als "parasitär" bezeichneten Opposition.  Die Teilnahme dieser fünf Parteien - der PLC, die historische liberale Partei, Yatama, die indigene Partei der Atlantikküste, und die drei kleinen Parteien ALN, Apre und PLI (die ihre rechtliche Existenz nur der Nachsicht der Behörden verdanken) - schafft mit dem Resultat von zusammen 27 Prozent die Bedingung für einen demokratischen Wettbewerb; sie hat dazu beigetragen, dass der Aufruf zum Boykott nicht die erwarteten verheerenden Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung hatte. In einem Dutzend Gemeinden gab es sogar ein knappes Rennen, das der FSLN nur um einige Dutzend Stimmen gegenüber Yatama oder dem PLC gewann, deren historische Verankerung bekannt ist. Dies ist der Fall in den grossen Gemeinden Wamblan und Puerto Cabezas, wo Yatama sich der 50-Prozent-Marke nähert. Dies ist auch in den historisch liberalen Gemeinden Bocana de Paiwas oder La Cruz de Rio Grande der Fall, wo der PLC 45 Prozent erreicht.  Das Ergebnis der drei anderen kleinen Parteien, die in den meisten Gemeinden jeweils um die 4 Prozent lagen, ist jedoch nicht leicht zu erklären, aber das wird ein Detail bleiben.

Bleibt eine weitere Unklarheit, ein Unbehagen. Im Wahlregister ("padron électoral actif") sind seit vielen Jahren 3'800’000 Wahlberechtigte eingetragen, wobei ab 2017 sogar ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist, trotz des Bevölkerungswachstums.  Da wir leider weder Zugang zur Methodik noch zu den Daten der einzelnen Gemeinden haben, ist es nicht möglich, die Rolle der traditionellen Migration vor 2018 und die Rolle der neuen politischen und wirtschaftlichen Emigration, die sich in den letzten Jahren beschleunigt hat, zu analysieren. Das ist schade, sowohl was die Kenntnis des tatsächlichen Beteiligungsniveaus als auch den Aufbau von Vertrauen in die Resultate angeht.

Der politische Kontext seit 2018, so unsere befreundeten Analysten weiter, lässt diese Transparenz nicht zu. "Wir befinden uns im Krieg, der Krieg ist nicht mehr der Krieg der Gewehre, sondern der wirtschaftliche Boykott, die Sanktionen, die finanzielle Einmischung, um die Opposition durch ihre NGOs zu unterstützen, es sind auch die katastrophalen Auswirkungen der verlogenen internationalen Medienkampagnen". Unsere Kenntnis der Lage in Nicaragua, insbesondere in Matagalpa, durch unsere Besuche und häufigen Kontakte mit unseren PartnerInnen und FreundInnen lässt uns vermuten, dass die Mehrheit der Bevölkerung diese Analyse teilt und letztlich die Regierung unterstützt, auch wenn sie natürlich den Mangel an Demonstrationsfreiheit bedauert oder die Zeiten bevorzugt, in denen Nicaragua das "Lieblings"-Land fast der gesamten internationalen Gemeinschaft war.

·       Mitglied der Association de Solidarité avec le Nicaragua et El Salvador in Genf.