(zas, 25. 5. 23) Die Auditoría General de la Nación (AGN) in
Argentinien ist ein festes Sonderorgan des Parlaments für die Rechnungsprüfung
des Zentralregierung. Ihre Mehrheit gab jüngst ein vernichtendes Urteil über
die enormen IWF-Kredite[1],
die die rechte Regierung von Mauricio Macri (2015-2019) erhalten hatte, ab. Diese
IWF-Gelder, schrieb
das argentinische Blatt Página/12 am 18. Mai 2023 zu den Befunden der AGN, «wurden fast ausschliesslich für den Schuldendienst
verwendet; 71 Prozent davon wurden zur Begleichung kurzfristiger, unter der
Regierung Macri aufgenommener Schulden ausgegeben.» Das Blatt zitiert aus
einem Communiqué der AGN vom Vortag: «Diese
Zahlungen bewirkten eine Masse von Ressourcen auf dem Markt bei gleichzeitigem
unkontrolliertem Kapitalabfluss aus dem Land, eine Situation, welche laut dem
Grundlagenvertrag des IWF hätte vermieden werden müssen.»
Mit anderen Worten: Einen beträchtlichen Teil der IWF-Gelder
(laut
dem Wirtschaftsportal BAE Negocios 30 Prozent) brachten in- und ausländische
Kapitalgruppen ins sichere Ausland. Den Deal mit dem IWF brachten die Verantwortlichen,
so die AGN, ohne geringste gesetzlich obligatorische Kontrollen etwa bezüglich
der Bezahlbarkeit der Unsumme ins Trockene. Bezeichnend, dass die AGN nicht
imstande war, den definitiven Text des Abkommens (von dem verschiedene
Versionen zirkulierten) auch nur zu finden. Die AGN übermittelt ihren Befund an
die Richterin María Eugenia Capuchetti, die gegen Macri, seinen
Ex-Finanzminister Luis Caputo und seinen Ex-Zentralbankpräsidenten Federico
Sturzenegger seit Jahren ein Verfahren wegen Betrugs mit den IWF-Geldern
«führt». Sie kam in dieser Zeit bloss nicht dazu, die «Untersuchten» auch nur
ein Mal um Auskunft zu bitten. Caputos Schwester hatte der Nazibande, die den
misslungenen Mordanschlag auf Cristina Fernández de Kirchner (CFK) verantwortet,
aus einem Unternehmen der Brüder Caputo mehrmals Geld überwiesen (s. dazu Hintergrund
eines Mordanschlags).
Bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend ist das
ausbleibende Echo der hiesigen Mainstreammedien auf das Behördenaudit auch im
Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen nächsten Oktober, welche die Rechte, träte
sie geschlossen an, also inklusive ihres faschistoiden Flügels um Javier Milei,
ein Ökonom aus dem Umkreis der sogenannten Österreichischen Schule, auf jeden
Fall gewinnen würde.
Vom Anschluss an die
Welt
Erinnern wir uns dagegen an die grosse Medienerleichterung
bei Amtsantritt von Mauricio Macri 2015. Hatte er nicht alsogleich bravourös den
«Anschluss Argentiniens an die Welt». Also das westliche Finanzsystem, organisiert?
Mit der Zahlung von über $ 9 Mrd. an US-Geierfonds, die beim Wirtschaftskollaps
von 2001 argentinische Schuldenpapiere zum Spottpreis einkauften und jetzt dick
absahnten. Applaus erst recht, als Macri das Land wieder dem IWF preisgab, der
unter den Kirchnerregierungen aussen vor bleiben musste. Macri und der IWF
waren sich einig über die Massnahmen zur Gesundung der Wirtschaft -
Rentenkonterreform, sukzessive Kürzung der Sozialleistungen, Investitionsanreize
per Steuersenkungen usw. Nur, das prognostizierte Wirtschaftswunder stellte
sich nicht ein, dafür nahmen Armut und Inflation zu. Die medialen
Begeisterungsstürme verloren an Klang. Doch 2018 kam wieder Stimmung auf. Mit
Blick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen von 2019 gab der IWF Macri den
grössten weltweit je vergebenen IWF-Kredit. Es war allen Beteiligten klar, dass
Argentinien diese Summe nie würde zurückzahlen können. BAE Negocios zitiert den
AGN-Chef so: Der IWF-Kredit «beläuft sich
auf das 127-fache der Verschuldungskapazität unseres Landes».
Bekanntlich geht es global nicht wirklich um die Rückzahlung
solcher Schulden. Sondern darum, unter dem Zwang der Fata Morgana ihrer
Rückzahlung die angegriffene Ökonomie auf die Anforderungen der internationalen
Finanz- und Wirtschaftsmärkte zu trimmen. In Argentinien gab es dazu, wie der Linksökonom
Eduardo Lucita kürzlich in En
el callejón de la decadencia schrieb, drei zentrale Verschuldungsdynamiken.
Zuerst «zwang die Militärdiktatur
(1976-83) die staatlichen Unternehmen
zur künstlichen Verschuldung zwang»; eine zweite während der Regierung von
Carlos Menem (1989-99), die «in den
Kreditmärkten Bonds zur Erleichterung der Privatisierung von Staatsunternehmen
auflegte» und schliesslich mit
Macri, «der die Kapitalbewegungen total
deregulierte und das Fiskaldefizit abrupt verringerte. Er verschuldete sich für
all das und endete damit, die Kapitalflucht zu erleichtern.»
Doch Magri wurde abgewählt und die neue peronistische
Regierung von Alberto Fernández und CFK begann inmitten einer geerbten
Rezession ihren widersprüchlichen Kurs in Sachen IWF. Lucita schreibt: «Die Regierung charakterisierte die Schuld
als unbezahlbar, aber anerkannte und legitimierte sie gleichzeitig. Sie
bekräftigte ihren Zahlungswillen, aber dafür existiere keine Kapazität.» Es
kam zu Umschuldungsverhandlungen mit dem Ergebnis von verlängerten
Zahlungsfristen und tieferen Schuldenzinsen, aber ohne Schuldenschnitt. «Aber», so Lucita, «der Zins für IWF-Kredite, der an den Referenzzins der USA gekoppelt
ist, beträgt normalerweise um die 1.95 %, aber da die FED die Zinsen auf jetzt
über 4 % erhöht hat und für uns ein Zusatzzins gilt, weil der gesprochene
Kredit das unserem Kapitalbeitrag [zum IWF] entsprechende Kreditvolumen weit
überschreitet, zahlen wir jetzt einen Jahreszins von über 7 %.»
Für das
«Entgegenkommen» des Fonds muss sich Argentinien erkenntlich zeigen. Lucita
fasst das so zusammen: «Das Abkommen mit
dem IWF konditioniert die monetäre und Wechselkurs-Autonomie mit Limiten für
die Geldemission, mit der Reduktion des Primärdefizits des Haushaltes (vor Zahlung
der Schuldenzinsen) und mit dem Zwang zu einem Abwertungssatz und einer
Zinserhöhung. Da es zudem die Eliminierung der Subventionen und eine
Tariferhöhung für staatliche Dienstleistungen auferlegt, beinhaltet das
Abkommen eine stark inflationäre Komponente, die der Wirtschaft eine Rezession bringt.»
Kein «Konsumfestival»
Solche Aspekte verbleiben in der Mainstream-Darstellung der
Lage in Argentinien hinter einem Schloss mit sieben Siegeln. Im sehr
interessanten argentinischen Portal El Cohete a la Luna zitiert der
Wirtschaftsdozent Jorge Marchini aus einer Analyse der dem Parlament
zugeordneten Spezialstelle für Budgetfragen folgenden Hinweis: «Als Ergebnis der Kürzung der staatlichen
Aufgaben und trotz eines Schwunds der Gesamteinnahmen sind in den ersten vier
Monaten von 2023 das Finanz- und das Primärdefizit im Vergleich zur
Vorjahresperiode real um 2.2 % und 9.3 % zurückgegangen.» «Trotz» der
Erfüllung der IWF-Bedingungen herrscht aber zurzeit eine Jahresinflation von
100 % oder mehr. Marchini, der sich über die Mainstream-Experten ärgert, die
nach (weiteren) Budgetkürzungen zwecks Inflationsbekämpfung rufen, meint: «Aus Unkenntnis oder Absicht wird auch nicht
reflektiert, dass die monetäre Basis[2]
nicht auf einer höheren Gesamtnachfrage im Kontext eines Konsumfestivals der
Mehrheit des Landes existiert, wo die Einkommen – in Pesos – der Unter- und
Mittelschichten relativ zur Inflation beträchtlich einbrechen.» Die Zunahme
des Pesogeldes der Zentralbank hat auch für Marchini vielmehr mit Instrumenten
wie jenen zu tun, mit denen die Notenbank Unternehmen massiv verbilligt Dollars
für ihre Schuldenzahlungen verkauft – Schulden, die oft schlicht einer
Überfakturierung durch die Multizentrale im Norden zulasten ihrer Filiale in
Argentinien entspringen. Zur Begleichung der Differenz im Dollarpreis schafft
die Notenbank eben neues Geld. Die Regierung Fernández weitet diese Instrumente
für mit dem Ausland Geschäfte treibende Unternehmen immer wieder aus, angeblich
zwecks Ankurbelung der Exporte, also der Deviseneinnahmen. Allein, diese nehmen
ab, aber die gleichen Unternehmen nutzen ihre Marktmacht, um die Preise
hochzutreiben (diese verdoppeln sich im Schnitt pro Jahr).
Die galoppierende Inflation kombiniert mit einem Rückgang
der Löhne und des Staatshaushaltes sowie anderen IWF-Vorgaben haben zu einer
dramatischen Armut und Prekarisierung geführt. Lucita schreibt: «2019 haben die Arbeiter 45.7 % und die
Patrons 43.3 % erhalten. Das hat sich 2022 umgekehrt: 43.6 % zu 46.1 %. Kurz:
2022 war die wirtschaftliche Aktivität auf dem Niveau von 2017, mit um 25 %
tieferen Löhnen als fünf Jahre vorher. Es ist offensichtlich, dass die
Gewinnmarge während der ganzen Zeit stets gewachsen ist.»
Einiges vom dem, was die AGN jetzt festhält, ist schon lange
bekannt. So hatte Alberto Fernández selber von der Zentralbank einen Bericht
eingefordert, den diese dann unter dem Titel «Formación de activos externos
2015-2019» vorgelegt hatte. Lucita dazu: «Darin
werden der für die Aufnahme des IWF-Kredits verwendete Mechanismus und wie ein
Teil für die Deckung des Primärdefizits[3]
und der Rest für die Kapitalflucht gebraucht wurde, umfassend dargestellt.
Andererseits wurde für die Zeichnung des Darlehens die Mehrheit der von der
Zentralbank geforderten Voraussetzungen und Regelungen ignoriert; deshalb ist
das Abkommen nichtig. Kommt hinzu, dass die eigenen Statuten des Fonds für eine
Krediterteilung verletzt wurden, weil klar war, dass der Schuldner nicht
imstande sein würde, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Zudem enthält der
Bericht eine Liste der Personen und Unternehmen, die Dollars des Kredits für
die Kapitalflucht benutzten. Diese Liste ist wegen des Bank-, Börsen- und
Steuergeheimnisses nicht öffentlich. Wäre sie das, würden sofort $ 20 Mrd. gerettet
werden. Später erfuhr man dank den Aussagen eines Direktors des IWF zur Zeit
der Kreditverleihung, dass sie einem direkten Beschluss von Donald Trump
entsprang. Ein politischer Beschluss mit dem Ziel, zur Wiederwahl von Mauricio
Macri beizutragen.»
«Abscheuliche Klasse»
Wieviel Druck auch immer auf der Regierung Fernández lastet,
es ist absolut inakzeptabel, dass sie die IWF-geleitete Verarmungsspirale
vorantreibt, wie contre-coeur auch immer. Sie hat damit eine riesige Chance,
den Fonds international in arge Rechtfertigungszwänge zu bringen, vertan. Und
sie ist bis heute nicht gewillt oder unfähig dazu, auf die Forderungen einer
grossen sozialen Bewegung gegen das per IWF vermittelte Hungerdiktat
einzugehen. Vor wenigen Tagen gab es dazu landesweit wieder eine Mobilisierung.
Diese Bewegung rebelliert seit Jahren gegen die Verarmung und fordert eine offizielle
Analyse der Dynamik seit Beginn der Schuldenspirale unter der Militärdiktatur,
die klar einen Grossteil der Schulden als odious debt, verabscheuenswerte
Schuld, durchgesetzt von Mächtigen zulasten der Gesellschaft, ermitteln würde. Doch
der «Pragmatismus» der Regierung will davon nichts wissen. Angetreten mit mehr
oder weniger linken Versprechen, hat diese Regierung trotz einiger guten Taten
ihren Teil dazu beigetragen, dass auch in Unterklassenzonen heute welche einem
Faschisten wie Milei hinterherlaufen. Dass der Fonds kommenden Juni der Regierung
neue Mittel aushändigen könnte, wozu ihn jetzt auch Brasiliens Lula drängt,
löst unter den skizzierten schikanösen Bedingungen null Freude aus.
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17. Mai
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Vor Jahrzehnten schrieb der 1974 verstorbene peronistische
Schriftsteller Juan José Hernández Arregui über «esa clase abyecta e infecunda
que siempre que el pueblo comió vio demagogía» («diese abscheuliche und
unfruchtbare Klasse, die wenn das Volk ass, stets Demagogie erblickte»).
[1]
Fast $ 57 Mrd., deren letzte Tranche
dann die peronistische Regierung wegen Unbezahlbarkeit ausgeschlagen hatte.
[2]
Von der Notenbank geschaffenes Geld.
[3]
Also Schuldenzahlung.