Mario Hernández interviewt Henry Boisrolin vom Comité Démocratique Haïtien*
MH: Erzähle von der aktuellen Situation. Wir wissen von bewaffneten Banden, die Stadtviertel belagern, von Todesfällen, von Situationen, in denen sich die Bevölkerung auch selbst verteidigt, das heisst, es wurde ein Szenario geschaffen, das meines Wissens in gewisser Weise eine künftige Intervention begünstigt, aber das ist meine Meinung, und ich möchte deine hören, die viel aussagekräftiger ist.
HB: Es gibt verschiedene denkbare Lesarten, deine von soeben ist eine davon. Aber in der Entwicklung der Ereignisse werden wir etwas Grundlegendes erkennen: Es handelt sich nicht nur um bewaffnete Banden, bewaffnete Gruppen, sondern um Todesschwadronen, die den Terror planen, um den Status quo aufrechtzuerhalten, um das Rückgrat der haitianischen Volksbewegung zu brechen und um jeden Triumph des Volkes in jedem Szenario zu verhindern, sei es durch Wahlen oder durch Mobilisierungen. Das ist das Ziel.
Wenn du genau hinblickst, siehst du, dass fast 80 % der Hauptstadt Port-au-Prince in den Händen dieser Leute sind, aber die Entwicklung, Territorien zu besetzen, entspricht nach Ansicht aller befragten Fachleute einem Militäreinsatz, und merkwürdigerweise nimmt diese Unsicherheit jedes Mal exponentiell zu, wenn der Sicherheitsrat oder ein anderes Gremium zur Krise in Haiti tagt. Das liegt daran, dass auch sie jetzt zugeben, dass sie nicht in der Lage waren, das Volk zu unterwerfen, so dass eine der Möglichkeiten, den Neokolonialismus, das neokoloniale System dort, zu sichern, eine militärische Intervention wäre. Aber eine militärische Intervention ist schwierig, weil sie wissen, dass sie auf eine immense Ablehnung stösst, und in der aktuellen Weltlage ist es nicht einfach, dafür im Sicherheitsrat einen Konsens zu erzielen, wegen der Opposition von China, von Russland. Nicht einfach also, und sie wissen, dass die Menschen das dieses Mal nicht akzeptieren werden.
Aber in den letzten Tagen gab es etwas Wichtiges, nämlich dass die Bevölkerung ihre Verteidigung, ihre Selbstverteidigung aufgenommen hat und die Polizei und diejenigen, die die Bevölkerung begleiten wollen, auffordert, die Banditen zu verfolgen und hinzurichten. Gestern konnten sie mehr als 20 Banditen exekutieren, laut anderen Berichten 40, heute haben sie auch einige erwischt, und letzte Nacht gab es nochmals etwas Neues: In der Hauptstadt haben verschiedene Viertel angefangen, nachts Lärm zu machen, mit Spitzhacken und Steinen, mit allem, was Geräusche macht, und mehrere Nachbarn haben sich versteckt, und das ist eine Sache der Massenselbstorganisation, einer Wachsamkeitsbrigade, die sie anfangen aufzubauen.
Es gab in unserer Geschichte auch schon Zeiten, die noch nicht so lange zurückliegen, in denen diese Formationen oder Gründungen von Bürgerwehrkomitees in einigen Vierteln stattfanden, aber jetzt hat sich das in einem anderen Kontext und massiver entwickelt, weil sich alle bedroht fühlen. Und das Volk weiss, dass es zwar Tausende von Banditen gibt, aber zwölf Millionen EinwohnerInnen. Und von diesen zwölf Millionen gibt es eine Million, zwei Millionen, die bereit sind, mit allem, was sie haben, zu kämpfen. Und das Interessanteste, was gestern und heute passiert ist, ist, dass sie, wenn sie die Banditen ergreifen, ihre Waffen und ihre Munition nehmen all dieses Material auch behalten, so dass sie nicht nur mit Steinen und Macheten herauskommen, sondern einige von ihnen sind bewaffnet. Deshalb könnte die morgige Sitzung des Sicherheitsrates ziemlich gefährlich werden, denn es ist das erste Mal, dass die Bevölkerung der Unsicherheit auf diese Weise mit viel Mut entgegentritt, so dass sie morgen vielleicht versuchen werden, eine Resolution für eine militärische Intervention zu erzwingen, weil Haiti am Rande eines Bürgerkriegs steht, blah blah blah.
Aus diesem Grund haben die haitianischen Volksorganisationen einen Brief an den Präsidenten des Sicherheitsrates geschrieben, der im Moment russischer Botschafter ist, und die Situation klar dargelegt. In diesem Zusammenhang haben wir auch um die Solidarität der Genossinnen und Genossen aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, aus der ganzen Welt gebeten.
Es herrschte eine Art Schweigen, ein "black out", wie man im Englischen sagt, über die haitianische Realität, also müssen wir uns sehr anstrengen, um unsere Realität bekannt zu machen, und was ist in diesem Moment dabei das Ziel? Zu versuchen, Druck auf die derzeitigen Machthabenden in Lateinamerika auszuüben, damit sich diese Barbarei, die sie von 2004 bis 2017 begangen haben, nicht wiederholt, als sie für diese Ungeheuerlichkeit namens MINUSTAH - Mission der Vereinten Nationen zur Stabilisierung Haitis – Truppen schickten, deren Mitglieder, mehrere Mitglieder, 12-jährige Mädchen und junge Frauen vergewaltigten, die Cholera verbreiteten, die uns mehr als 30.000 Opfer kostete, fast eine Million Haitianer. Sie verbreiteten die Cholera, der mehr als 30’000 Menschen zum Opfer fielen, fast eine Million Haitianer wurden infiziert; sie unterdrückten und massakrierten in den Wohnvierteln der Bevölkerung, sie unterdrückten die Mobilisierung der Bevölkerung, sie manövrierten und manipulierten die Wahlen, all diese Dinge muss man wissen. Kürzlich gab auch die OAS selber zu, dass das alles ein Misserfolg war. Wozu ihn also wiederholen?
Es gibt einen unumkehrbaren Willen des Volkes, vor allem in der Hauptstadt, sich den Banditen zu widersetzen und diese Leute, wenn sie gefangen werden, hinzurichten.
MH: Wie siehst du, wie sehen die haitianischen Volksorganisationen die Lösung für diese Situation?
HB: Wir glauben an eine haitianische Lösung für die haitianische Krise, die im Montana-Abkommen vorgeschlagen wird. Das Montana-Abkommen hat fast tausend oder mehr Organisationen aller Art zusammengebracht, und sie haben ein Programm aufgestellt, sie haben es ausgearbeitet, sie haben eine interne Wahl abgehalten, sie haben einen Premierminister vorgeschlagen, und einzig die kolonialistischen Mächte und die herrschenden Klassen Haitis sind gegen diese Lösung.
Für mich liegt die Lösung im Kräfteverhältnis. D.h., es wird, wie es scheint, ein Moment kommen, in dem die wichtigste Waffe, die sie einsetzen, nämlich die Todesschwadronen, um Angst verbreiten zu können, versagen wird. Dann kann es eine Lösung geben, die wir im Moment nicht erblicken können.
Vergiss nicht, Veränderungen, insbesondere revolutionäre Veränderungen, reale, radikale Veränderungen, stehen nicht in Büchern, sie sind keine Rezepte, es gibt kein Buch, in dem man auf einer Seite nachschauen kann, wie man es macht. Die Völker neigen dazu, kreativ zu sein, wenn sie ihre Interessen verteidigen müssen, das ist so. Das denke ich. Deshalb ist es schwierig, dir zu sagen: "So und so ist die Lösung ". Es wäre sogar sehr anmassend von mir, wenn die Genossen, die dort sind, sagen, dass es jetzt neue Elemente zu analysieren und abzuwägen gilt. Wir müssen schauen, wie wir diesen Aufstand sichtbarer machen, diese Entscheidung des Volkes, zu kämpfen und den Banditen entgegenzutreten, die die ausführenden Arme eines makabren Plans sind, der vor allem von den imperialen Mächten der USA, Kanadas, Frankreichs und den widerwärtigen haitianischen herrschenden Klassen ausgearbeitet wurde.
MH: Eine Haltung der Konfrontation mit den Banden, die weder die Polizei noch die haitianischen Streitkräfte haben.
HB: Die Streitkräfte sind eine Karikatur, und auch die Polizei ist unterwandert, sie wird beherrscht, viele sind korrupt, aber es gibt auch andere, die das Volk jetzt bei den Auseinandersetzungen mit den so genannten "Banditen" begleiten, und das ist wichtig.
MH: Das wäre also das Neue an der politischen Situation in Haiti.
HB: Genau, das wäre das Neue, aber aus einer Entscheidung der Massen heraus, nicht von einer Organisation oder etwas in der Art, es ist eine Entscheidung der Massen, die so in die Enge getrieben wurden, dass sie in der Selbstverteidigung den einzigen Weg gefunden haben, nicht zu sterben, weil sie sagen: "Wenn ich keinen Widerstand leiste, sterbe ich, ich ziehe es vor, aufrecht zu sterben". Ich denke, das ist die Haltung, der man folgen, die man verstehen muss.
MH: Und darauf wetten wir.
HB: Darauf setzen wir. Vielen Dank, Bruder, dass du angerufen hast.
Rebelión.org, 5. 5. 23: «Las bandas son un terror planificado para poder mantener el ‘stu quo’”. Mario Hernández ist ein argentinischer Radiojournalist. Henry Boisrolin engagiert sich seit Jahren in Lateiname
______________
Zu Haiti siehe auch Correos 204