Ukraine: Der Landraub «nebenbei»

Montag, 5. Juni 2023

Russische Agrarunternehmen eignen sich ukrainische Güter an. Das ist geläufig. Kaum thematisiert wird hingegen die westliche Grossoffensive zur fortschreitenden Übernahme der ukrainischen Landwirtschaft. Das erfordert Bauernopfer. Vertritt auch die Schweiz.

(zas, 5. 6. 23) Das Papier War and Theft: The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land des Oakland Institute von Februar 2023 ist hochspannend - und provoziert Wut. Die von Frédéric Mousseau und Eve Devillers verfasste Analyse beleuchtet, wie die bäuerische Landwirtschaft in der Ukraine seit den Maidan-Ereignissen von 2014 sukzessive unter das Diktat der «internationalen Märkte» gezwungen wird. Insbesondere ging und geht es um die sog. Agrarmarktliberalisierung, also das Kommando transnationaler Agarunternehmen und Investmentfonds etc. über den extrem fruchtbaren Boden und die BäuerInnen. Diese spezielle Liberalisierung traf aber auf breiten Widerstand in der Bevölkerung, der sie über Jahre in wichtigen Teilen blockieren konnte. So blieb, trotz massiver Erpressungsmanövern von EU, IWF und Weltbank, der Erwerb ukrainischen Landes durch ausländische Investoren grundsätzlich verboten. Diese fanden allerdings auch so Wege zum Besitz, etwa durch Minderheitsbeteiligungen an Agrarunternehmen der ukrainischen Oligarchie. Laut dem Bericht des Oakland Institute befinden sich rund 28 % Prozent des anbaufähigen Landes im Besitz von «Oligarchen, korrupten Individuen und grossen Agrarunternehmen». Auf diesen 28 % weiden schon Investmentfonds wie Vanguard oder von Goldman Sachs, grosse US-Pensionskassen oder etwa der staatliche norwegische Ölfonds. Diese oligarchischen Agrarunternehmen haben bei der zwischenstaatlichen Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (engl. EBRD), gegründet Anfang der 90-er Jahre zwecks Vermarktwirtschaftlichung von Osteuropa, bei der Europäischen Investitionsbank und beim Privatsektor-Arm der Weltbank, der International Finance Corporation (IFC), grosse Schulden aufgenommen und tanzen folglich nach deren Melodie.


 

Die anderen Teile des ukrainischen Agrarlandes sind im Besitz von rund 8 Millionen ukrainischen BäuerInnen.  Der «klassische» Konflikt also: umweltzerstörende, dafür kapitalistisch profitable grosse Monokulturen versus bäuerische Landwirtschaft. Das Oakland Institute schreibt: «Es sind die kleinen und mittleren BäuerInnen der Ukraine, die die Ernährungssicherheit des Landes garantieren, während die grossen Agrounternehmen auf die Exportmärkte ausgerichtet sind». Die Grausamkeit der Lage lässt uns das Institute mit diesem Zitat der Professorin Olena Borodina erahnen: «Heute kämpfen und sterben tausende von Landjungen- und Mädchen im Krieg. Sie haben alles verloren. Die Regeln für freien Verkauf und Erwerb von Land werden zunehmend liberalisiert und annonciert. Das bedroht das Recht der UkrainerInnen auf ihr Land, für das sie ihr Leben geben, wirklich.»

2020 verankerte die Regierung Selenski den Auftrag aus Washington und Brüssel zur Schaffung eines Agrarlandmarktes in einem Gesetz, das, 2021 in Kraft getreten, den vorerst abgestuften und getarnten, ab 2024 offenen Besitztransfer auch an ausländisches Kapital ermöglicht. Der damals neue Präsident Selenski hatte die «Gunst der Stunde» genutz: Die Covid-Pandemie wütete im Land im Lockdown, grosse Strassenmobilisierungen gegen die Liberalisierung wie noch zu Jahresbeginn waren damit vom Tisch. (Den gleichen «Trick» benutzten Selenski & Co. letztes Jahr, um die vom «solidarischen Westen» geforderte brutale Aushebelung von Arbeitsrechten mit Kriegsrecht durchzudrücken.)  

Die Ukraine ist heute der drittgrösste Schuldner beim IWF (nach Argentinien und Ägypten). Das schlägt sich nicht nur im transnationalen Landraub nieder. IWF-Massnahmen seit dem Maidan wie Rentenkonterreform oder Erhöhung der Tarife für staatliche Dienstleistungen haben die Armut explodieren lassen: von 28.6 Prozent 2016 auf 41.3 % im Jahr 2019, wie das Institute Angaben von Unicef wiedergibt.

CH-Komplizenschaft

Dem Institute-Bericht ist ein Hinweis auf die Schweizer Beteiligung am Landraub zu verdanken. Und zwar im Zusammenhang mit den sogenannten «crop receipts» (Ernteschuldscheinen). Der Begriff meint, die BäuerInnen erhalten einen Kredit, wofür sie aber ihre zukünftige Ernte als Garantie einsetzen müssen. In ihrer Mitteilung vom 3 Februar   2020 - IFC and Switzerland Partner to Help Agricultural Capital Markets in Ukraine, Benefiting Small Farmers – schreibt die IFC, was Sache ist: «Da die Ukraine sich dieses Jahr für den Bodenmarkt öffnet, werden BäuerInnen mehr Arbeitskapital für den Anbau benötigen». Mit anderen Worten: «Wir brachten sie in die Bredouille». Die smarte Lösung: «Um die zusätzliche Finanznachfrage der BäuerInnen zu managen, werden auch Kreditgeber neue Instrumente fordern.  In diesem Kontext wird die IFC unter Benutzung ihres Vierjahres-Projekts Ukraine Agricultural Capital Markets mit der Regierung arbeiten, um die lokalen Finanzinstitute mit dem nötigen Instrumentarium und Wissen auszustatten. Das wird ihnen beim Zugriff auf Kapitalmarktliquidität helfen, dank Wertpapieren, die auf einem innovativen, «corn receipts» genannten Instrument beruhen.»

Lassen wir den Begriff «innovativ» für die alte Verschuldungsmasche mit deinem zukünftigen Arbeitsprodukt als Pfand, das du, wenn es für dich schief läuft, an andere verlierst – meist zusammen mit deiner Existenzgrundlage. Lesen wir weiter:

«Ernteschuldscheine, von der IFC 2015 eingeführt, erlauben es ukrainischen BäuerInnen, zukünftige Ernten als Sicherheit anzubieten. Das half bis jetzt mehr als 4000 BäuerInnen, Finanzierung von fast $ 1.3 Milliarden zu erhalten. Das ist signifikant für ein Land, in dem die Landwirtschaft ein entscheidender wirtschaftlicher Treiber und ein grosser Arbeitsgeber ist.  Aufbauend auf dem Erfolg des IFC-Crop-Receipt-Projekts in der Ukraine wird das in Partnerschaft mit dem Seco [Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft] umgesetzte neue IFC-Projekt helfen, einen sekundären Markt für diese Schuldscheine zu schaffen. Das wird mit der Verbriefung dieser landwirtschaftlichen Forderungen, die[also] an der Börse handelbar sind, erreicht werden und zusätzliche Liquidität in den Sektor bringen.»   

Was sollen auch ukrainische Finanzinstitutionen mit den mit IFC- und anderen westlichen Geldern erworbenen Schuldscheinen anfangen? Etwa selber Getreide aussäen? Besser, sie verkaufen sie an das ukrainische oder transnationale Agrobusiness. Und da kauft man diese Dinger nur, wenn sie Profit versprechen, sei es über den Kreditzins oder dass die «begünstigten» BäuerInnen in genügendem Ausmass bankrottgehen. Das bedeutet der Begriff Verbriefung (die Schuldscheine handelbar machen).

Nicole Ruder, damals Kooperationschefin in der Schweizer Botschaft in der Ukraine, heute zu «Vize-Direktorin der DEZA und Leiterin der Abteilung Multilaterales und NGO» aufgestiegen, verklärt den Raubzug in der IFC-Mitteilung zum Halleluja für unten und oben: «Während die Verbriefung von grossen Kreditoren und Marktplayers umgesetzt wird, werden die Endbegünstigten die KleinbäuerInnen sein. Ein erweiterter Zugang zu Finanzen der KleinbäuerInnen wird folglich die landwirtschaftliche Produktivität ankurbeln, Innovation im Bauern fördern und das Wirtschaftswachstum stärken.»

In einer weiteren IFC-Mitteilung vom 23. April 2020, erklärt SECO-Mann Lukas Schneller, vorgestellt als «Vizechef der Privatsektorförderung»: «Der Erfolg des Instruments liegt in seiner Diversifizierung. Viele Segmente jenseits der traditionellen Landwirtschaftsprodukte haben sich für die Ernteschuldscheine registrieren lassen, einschliesslich Gartenbau, Nischen und Bioanbau. Diese Diversifizierung hilft speziell Kleinst- und KleinbäuerInnen.» Man weiss, wo der Hebel anzusetzen ist.