(zas, 30.5.24) Die Historikerin Liat Kozma und der Biostatistiker Wiessam Abu Ahmad, beide von der Hebräischen Universität von Jerusalem, veröffentlichen in der Haaretz einen Artikel (weiter unten kopiert) mit dem Titel: «Warum die Todesrate in Gaza vermutlich höher ist als berichtet». 34'000 Tote, 70'000 Verwundete und 11'000 unter den Trümmern Begrabene sind «nur ein Teil des Bildes». Die AutorInnen vergleichen die aktuelle Lage mit jener der Nakba 1948. Es gibt Parallelen, aber auch schlimme Unterschiede wie etwa das Ausmass, wie heute Menschen zusammengepfercht werden. Für Rafah mit 1.5 Millionen Flüchtlingen sagen sie: «Die Leute sind so dicht zusammengepfercht, dass Implikationen lebensbedrohlich sind.»
Damals brachten Unicef und andere Hilfswerke viele Nahrungsmittel wie Mehl oder Früchte, um eine Hungersnot zu vermeiden. Heute schreiben die AutorInnen von Familien, die «sich mit Viehfutter, Insekten und normalerweise nicht-essbaren Pflanzen ernähren – eine schlechte, für den menschlichen Konsum ungeeignete Ernährung.» Wir lesen UNO-Zahlen zu Kindern mit schwerer Unterernährung (33 % in Gaza-Nord, 10 % in Rafah) und: «Die Zahl der Hungertoten ist noch unbekannt, aber feststeht, dass viele Menschen unwiderruflich Schaden erleiden. Menschen, die sich während Monaten von Gräsern und Viehfutter ernähren, werden nicht lange überleben.»
Während bei der ersten Nakba frisches Wasser verteilt werden konnte, «schätzen Hilfsorganisationen [heute], dass [die Bedingungen] für alle über Wasser übertragene Krankheiten in Gaza schon reif sind (…) Die WHO-Sprecherin Margaret Harris sagte im Guardian, dass Durchfall bei Kindern in Lagern in Gaza schon hundertmal über dem normalen Niveau lag.» Zusammengepferchte Menschen und viele herumliegende Leichen oder Teile davon sind ein ideales Beet für Bakterien und übertragbare Krankheiten. Durch Wasser übertragene Krankheiten können nicht verhindert werden.
1948 bauten humanitäre Organisationen Spitäler und Kliniken. Heute werden sie zerstört. «Chronische Krankheiten wie Herz- und Nierenprobleme, Krebs und Diabetes werden nicht behandelt – und es ist sehr zweifelhaft, ob chronische PatientInnen den Krieg überlebt haben. Ausser den wenigen Glücklichen, die es aus Gaza raus geschafft haben und in Ägypten medizinisch betreut werden.»
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Beim Lesen des Artikels erkennst du Merkmale einer bewussten Strategie des Genozids über die Bomben hinaus. Im Ohr hast du das bösartige Kläffen in Medien; du siehst die Komplizenschaft in Parlamentsausschüssen; das forcierte Wegschauen zionistischer Organisationen, um weiter zu lügen, dass Judaismus und israelische Staatsdoktrin ein und dasselbe sind; du weisst von den Subjekten in den Universitätsleitungen, denen die akademische Kooperation mit Mördern so viel näher am Herzen liegt als Solidarität mit jenen, die dagegen aufstehen. Du fragst dich, was denn die nächste Stufe des Horrors sein wird, heute, wo ein Genozid allenfalls zu einer «prekären humanitären Lage» wird. Heute, wo Fanatiker des Atomkriegs der Zeit des Kalten Kriegs als grosse Denker bewundert werden, weil der Atomkrieg zwar nicht stattfinden werde, aber die Möglichkeit seiner Durchführbarkeit genau vermessen werden muss. Immer nach dieser alten Lüge aus Rom, dass wer Frieden will, den Krieg vorbereitet (weshalb Rom ja von einem Eroberungskrieg zum nächsten schritt). Und du fragst dich, was du dagegen tun kannst.
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Opinion |
Why Gaza's Death Toll Is Probably Higher Than Reported
The scope of the killing, as well as the incidence of illness and deaths due to a lack of basic sanitary conditions, food and medical care, demand an urgent public debate in Israel
Liat Kozma and Wiessam Abu Ahmad May 28, 2024The fatality numbers in the Gaza Strip over the past seven months are appalling. According to the UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, over 34,000 people have been killed and over 77,000 have been wounded, with another 11,000 trapped under the rubble of their homes and considered missing.
But this is just part of the picture. We believe that the morbidity and fatality numbers in Gaza are actually higher. Our conclusion is based on comparisons with the public health challenges in refugee camps immediately after the 1948 war and a familiarity with epidemiological data in general. We believe that the scope of the killing, as well as the incidence of illness and deaths due to a lack of basic sanitary conditions, food and medical care, demand an urgent public debate in Israel.
Aid organizations estimate that all waterborne disease are already rife in Gaza.
A read through historical documents raises several important parallels, as well as differences, mostly to the detriment of the current situation. Then as now, hundreds of thousands of people had to leave their homes with no ability to return.
In 1948, around 700,000 refugees were dispersed to the West Bank, Gaza and Arab countries. In the West Bank, a population of 400,000 absorbed 300,000 refugees, whereas the 80,000 people of Gaza took in three times as many refugees. In the current war, the siege on Gaza and the closure of the border with Egypt over the winter forced around 1.5 million people into Rafah, an area with a population normally one-tenth this number. The people are so tightly packed together that the implications are life-threatening.