Argentinien: Lesbizid und Kolonialwirtschaft

Montag, 27. Mai 2024

(zas, 26.5.24) Señor, Señora, bitte seien Sie nicht gleichgültig, sie ermorden Lesben in aller Öffentlichkeit». Es war Montag nachts, 6. Mai, als 200 Menschen dies auf der Plaza Colombia im Quartier Barracas in Buenos Aires skandierten. Wenige Stunden zuvor wurde ein Zimmer in einem billigen Familienhotel in der Umgebung mutmasslich von einem Mann aus der Nachbarschaft in Brand gesetzt. Vier Frauen zwischen 42 und 52 Jahren wohnten dort, drei starben in der Folge an schlimmen Brandverletzungen, eine überlebt. Die von den Schreien der Frauen aufgeweckten Nachbarn versuchten vergeblich, das Feuer mit einem Feuerlöscher zu ersticken, und trugen danach die Frauen zur nächsten Dusche. 


 «Sie legten Feuer bei den Lesben. Sie legten Feuer, weil es arme Lesben waren. Sie legten Feuer, weil es arme Lesben waren, die zusammenlebten, sich Schutz gaben». Das las die Sprecherin der Asamblea de Lesbianas de Barracas vor. Die Frauen hatten für 50 Dollar ein einziges Zimmer ohne Bad im baufälligen Hotel gemietet. 


 

«Es war Lesbizid. Gerechtigkeit für die Compañeras!», forderten die Versammelten auf einem Transparent. Die Medien berichteten wenig, die Betroffenheit in der LGBTI-Comunidad war gross.  

Andere waren weniger betroffen. Javier Milei etwa. Sein Sprecher Manuel Adorni erklärte am gleichen Montag: «Es scheint mir ungerecht, nur von dieser Episode zu sprechen, wenn die Gewalt sehr viel mehr umfasst als nur ein bestimmtes Kollektiv.» Eine linke Abgeordnete kritisierte ihn dafür, den Begriff Lesbizid nicht in den Mund genommen zu haben. Das Lexikon der Real Academia de Lengua kenne diesen Begriff nicht, liess er – fälschlicherweise – ein paar Stunden später verlauten. Es kam zu Kritik an der Regierung, sie weigere sich, von einem Hassverbrechen zu reden, lasse aber über ihr Nahestehende Botschaften gegen die LGBTI-Comunidad verbreiten. Milei am folgenden Dienstag auf Instagram: «No amigo … die Wahrheit zu sagen, ist nicht Hass zu verbreiten. Eine andere Sache ist, wenn du die Wahrheit hasst.» Mileis Wahrheit in der Wahlkampagne letzten November: «Wenn du mit einem Elefanten zusammen sein willst und der Elefant einverstanden ist, ist es dein Problem und das des Elefanten. Ich bin nicht gegen gleichgeschlechtliche Ehe.» Seine Aussenministerin Diana Mondino hatte sich zum Thema auch schon was überlegt: «Als Liberale bin ich für das Lebensprojekt jedes Einzelnen. Es geht um weit mehr als nur um gleichgeschlechtliche Ehe. Zugespitzt gesagt: Wenn du es vorziehst, dich nicht zu waschen, und du bist voller Flöhe und das ist deine Wahl, cool, nachher beklag dich nicht, wenn es jemanden gibt, dem es nicht gefällt, dass du Flöhe hast.»

Quelle: El País, 15. 5. 24: «Las mataron por lesbianas”

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Vom Faschowitz zur Kolonialwirtschaft

Milei ist Liebkind am euro-atlantischen Faschotreff in Madrid (dazu bald mehr hier) und beim IWF und damit bei Medien wie der NZZ. Er plagiert damit, das schärfste «Strukturanpassungsprogramm» der Welt in Gang gesetzt zu haben. Sein Dreh ist simpel: Werte die Landeswährung krass ab (im Dezember um 100 Prozent), streiche Sozialleistungen und anderen Ballast (Arbeitsgesetze, Schutzzölle etc.), so dass die lokale Wirtschaft einbricht und nur noch die auf Dollarbasis operierenden transnationalen Teile florieren. Dann hängen die Leute ihre Flausen von sozialer Gerechtigkeit zugunsten eines noch so prekären Einkommens an den Nagel. Erprobtes Rezept.

Kleines Detail: Schuldenzahlungen stehen an, $ 7. 4 Mrd. Ende Juli und ab August die Kapitalrückzahlungen für den von Trump angeordneten IWF-Kredit an die Regierung Macri in der Höhe von Dutzenden von Milliarden[1]. Viele, viele Dollars, die in der Kasse fehlen. Auch wenn das Regime versucht, sämtliche Dollarreserven der Haushalte abzusaugen, die diese zwecks Vermeidung von Notlagen ausgeben müssen.[2] Zu allem Elend hält die Agraroligarchie ihre Exporte zurück, die Dollars ins Land spülen könnten. Sie fordert einen weiteren Kurzsturz des Pesos, um ihre Exportdollars in Pesos gegen hohe Zinsen in kurzfristige Staatspapiere zu stecken und so noch einen Extragewinn zu erzielen, den sie zu dem für Grossunternehmen günstigen Extrakurs in weitere Dollars verwandeln kann. Man nennt das carry trade. Gustavo Idígoras, u. a. Präsident des Getreideexporteurzentrums  (Centro de Exportadores de Cereales) meinte am vergangenen 1. April: «Der Getreidemarkt braucht einen besseren Preis», so dass sie von den 100 Millionen Tonnen Exportgetreide nur so viel ausführen würden, wie sie zur Deckung der Produktionskosten brauche.

Um an Devisen ranzukommen, bleiben Milei damit nur die im Land in zentralen Wirtschaftsbereichen dominierenden Investmentfonds wie BlackRock, Pimco oder Fidelity. (China hatte erneute Yuanhilfe abgelehnt.) Die Fonds halten die Mehrheit der zur Umstrukturierung anstehenden Aussenschuldenpapiere der öffentlichen Hand und fordern für neue Dollarkredite weiteres «Entgegenkommen», was die Milei-Bande mit einem extremen Gesetzespaket zu erfüllen sucht. Das Paket heisst «Basis und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier». Es steckt derzeit im Senat fest. Ein Teil der nicht-«libertären» rechten Opposition will für seine Absegnung Verbesserungen für die eigene Klientel herausholen, aber an seiner wichtigsten Stossrichtung nichts ändern. Diese besteht in der Schaffung transnationaler Wirtschaftsenklaven im Öl- und Bergbausektor. Das im Paket enthaltene RIGI (Investitionsregime für Grossinvestitionen) sieht nicht ausschliesslich, aber speziell in diesen beiden Bereichen für die Investoren Arbeits- und Steuergesetze vor, die nichts mehr mit der nationalen Gesetzgebung zu tun haben.

Zur Absicherung der RIGI-Profite entscheiden das Weltbankgericht (ICSID) und andere einschlägige Investoren-Schiedsgerichte über allfällige Streitigkeiten. Zum Nachtisch sieht die RIGI-Regelung das Instrument eines Vehículo de Proyecto Único (VPU, Gemeinsames Projektvehikel) vor (s. dazu: El RIGI). Zwei Projektpartner schliessen sich offiziell für eine Grossinvestition zusammen (das können auch zwei Filialen desselben Besitzers oder zwei Einzelpersonen sein) und nehmen im In- oder Ausland einen Kredit auf, den sie nun investieren. Aber halt: Sie können genau das, was sie schon vorher machten, produzieren. Keine Änderung. Sie streichen den Kredit ein, seine Bezahlung erfolgt aus den Extragewinnen (Steuerreduktion und andere fiskalische «Anreize»). Kurz: keine neuen Investitionen, keine neuen Arbeitsplätze.

Aber da gibt es noch etwas: die Antarktis. Eine russische Studie ermittelte dort nach einer BRICS-Mitteilung das Vorhandensein von Kohlenwasserstoffen, die über 500 Milliarden Fass Erdöl entsprechen, etwa dem zehnfachen der gesamten Nordseeproduktion in 50 Jahren. Und das Eis entspricht 70 Prozent oder mehr des globalen Süsswassers. Ein Vertrag von Staaten, die Anspruch auf Teile der Antarktis erheben (auch UK, Frankreich und Norwegen), mitgetragen von USA, Russland, China u. a., verbietet den Bodenschatzabbau. Er läuft 2028 aus.

Generell zu RIGI s. Destino final und Pa’todos el invierno.

 

Alte Doktrin

Die Generalin Laura Richardson besucht Argentinien wiederholt. Milei begibt sich bei solchen Anlässen zu ihr, nicht sie zu ihm. Sie hat sich oft zu ihrer Aufgabe als Chefin des US-Südkommandos – einen chinesischen Zugriff auf lateinamerikanische Rohstoffe wie Lithium mit einem US-Zugriff zu verhindern - geäussert. 2022 sagte US-Botschafter Marc Stanley: «Argentinien kann die Welt mit Energie und Nahrung versorgen, um dem Wachstum seiner eigenen Wirtschaft zu helfen.» Es ist das alte Lied der nachperonistischen Militärdiktatur, als sie die Industrie des Landes zerschlug. Die freien Medien plappern das auch heute gehorsam nach: Argentinien soll billige Nahrungsmittel und Rohstoffe bereitstellen und mit dem Erlös teure westliche industrielle Produkte kaufen. 

US-Botschafter, Präsident, US-Generalin, Verteidigungsminister



[1] 2018 gab der IWF der neoliberalen Regierung Macri seinen grössten je vergebenen Kredit von $ 57 Mrd., der sonnenklar die Rückzahlkapazitäten des Landes bei weitem übersteigen würde (auch nach Abzug der letzten Tranche von rund $ 13 Mrd., welche die peronistische Nachfolgeregierung von Alberto Fernández ausschlug). Den Grossteil der Fondsgelder transferierte die transnationale Oligarchie (argentinisches Grosskapital, Multifilialen) auf ausländische Konti, ein Teil diente der gescheiterten Wiederwahlkampagne Macris. Trotz ihrer Wahlversprechen unterwarf sich die Regierung Fernández dem IWF und weigerte sich, die enorme Verschuldung zu untersuchen, beglich dafür aber untragbare Zinszahlungen. Die damit produzierte Krise legte das Fundament für den Wahlsieg Mileis, der seit Monaten mit Macri zusammenspannt.

[2] Das wurde in der NZZ auch schon als «Vertrauen» in Mileis Politik dargestellt, da die Leute ihre Dollars jetzt dem Bankensystem anvertrauten.