Argentinien (und Schweiz): Die Strategie der Kanaillen

Donnerstag, 2. Januar 2025

 

(zas, 2.1.25) Es ist verdienstvoll, dass Medien auch Wundersames mitteilen. Wie weihnachtlich der NZZ-Korrespondent Alexander Busch zu Argentinien: «Die Armutsrate ist in den vergangenen drei Monaten gesunken. Ende des Jahres könnte sie sogar unter dem Niveau liegen, auf dem sie sich vor einem Jahr befand, als Javier Milei die Regierung übernahm (...) Unabhängige Wissenschaftler bestätigen inzwischen die Verbesserung der Armutssituation. So hat nach Einschätzung des Observatoriums für soziale Schuld der Katholischen Universität (UCA) die rückläufige Inflation die Lebensmittelpreise gesenkt. Gleichzeitig (…) Für Milei sind das überraschend gute Nachrichten. Denn sein radikales Sparprogramm, mit dem er das Haushaltsdefizit des Staates in einen Überschuss verwandelte und damit die Inflation stark senkte, wird heftig kritisiert. Viele machten die Kürzungen für wachsende Armut und die zeitweise schwere Rezession verantwortlich.»

Kein «überraschendes» Wunder, sondern Lüge.

Ihre unmittelbare Quelle ist das erwähnte Ministerium für Humankapital (nur schon der Begriff transportiert den Angriff auf die unten).  Die zum Ministerium gehörende Statistikbehörde verwendet bewusst einen falschen KonsumentInnenspreisindex und damit eine verlogene Inflationsberechnung. Der Index basiert zum Beispiel auf Ergebnissen der Haushaltserhebung von 2004-05. «Ein mehr als veraltetes Foto, das nicht auch nur annähernd zeigt, wie die Familien ihr Geld ausgeben», kommentierte am 8. Dezember Leandro Renou in der Zeitung Página/12. Ein neuer Preisindex ist zwar erarbeitet, bleibt aber ungenutzt. Wir erfahren: «Technisches Personal des IWF war im September in Argentinien (…) untersuchte den neuen Index und verlangte dessen Veröffentlichung so schnell als möglich.» Der Fonds will für seine Raubzüge eine einheitliche Methodologie.

"Der Lohn ist tot". An einer Demo gegen die Politik der Verarmung.

 Falscher Zahlenzauber

«So schnell als möglich» heisst für Milei und seinen Wirtschaftsminister Luis Caputo: wohl in den ersten Monaten des neuen Jahres. Denn der neue Index würde ein weniger geschöntes Bild von Armut und Inflation ergeben. Dem jetzt gebrauchten Index zufolge machen auf der Basis der Haushaltsbefragung 2004 die Essenskosten 26.9 % der Haushaltsausgaben aus, diejenigen für Wohnen und staatlich regulierte Dienstleistungen 9.44 %. Der neue Index beziffert die gleichen Ausgaben auf der Basis neuerer Erhebungen anders: 22.7 % für Nahrung, 14.5 % für Dienstleistungen (Strom, Wasser, Gas, Transport, Internet). Detail: Milei kürzte die Subventionen bei den staatlichen Tarifen in seinem Regierungsjahr dramatisch. Nochmals Renou: «Heute verschlingen die Dienstleistungen bis zur Hälfte des Haushaltsausgaben; deshalb sagen die Leute auf der Strasse weiterhin, dass das Geld nicht reicht, auch nicht bei einem sich entschleunigenden Index.» Gleichzeitig nahmen die Nahrungspreise in den letzten Monaten ab, weil sie so teuer wurden, dass sie «niemand mehr kaufen konnte».

Renou weiter: «Mit der Verschiebung des neuen Warenkorbes spielte man statistisch mit dem geringeren Anstieg der Nahrungsmittel, um die grösseren von der Regierung autorisierten Erhöhungen bei Tarifen, privaten Krankenkassen, Privatschulen, Mauten, Strom, Gas, Transport und Wasser zu kompensieren. Im Wirtschaftsministerium verbergen sie nicht, was sich in den Zahlen zeigt. Jedes Mal, wenn die Regierung sah, dass die Nahrung – die Rubrik, die heute einen Gutteil des Konsumentenpreisindex ausmacht – tief war, wurden Tariferhöhungen bewilligt.»

Warum benutzt das Regime den realistischeren Index erst nächstes Jahr? Dann stehen Parlamentswahlen an. Die Preisindexangaben des ersten Semesters werden erst danach veröffentlicht.  Sie werden die Inflationszunahme nicht von den jetzt gehandelten Daten aus berechnen, sondern «logisch» ab 1. Januar mit seinen dann upgedateten Startangaben. So wird der Kaufkraftverlust deutlich geringer ausfallen. 


 «Wissenschaftliches», Geheucheltes und ein relevanter Hinweis

Es kommen weitere Elemente des Lügenkonstrukts hinzu (nochmals Busch): «Gleichzeitig erhöhte die Regierung die Sozialausgaben für die Ärmsten und für Kinder und schaltete vor allem Mittler wie Kooperativen, Suppenküchen und politische Organisationen aus. Statt dass wie zuvor 50 Prozent der Hilfe über Vermittler verteilt würden, erreichten nun 93,5 Prozent der Sozialhilfe direkt die Bedürftigen, erklärte» das Ministerium für Humankapital. Diese «Erhöhung der Sozialausgaben», von der es auch die «unabhängigen Wissenschaftler» der Katholischen Universität haben, bezieht sich auf das Programm AUH (Kindergeldzulagen für arme Haushalte) und der damit verbundenen Tarjeta Alimentar (Essenskarte). Letztere verlor 2024 zwar 14.3 % an Wert, die AUH aber stieg um 43 %, wie das Angaben der OPC, der Parlamentarischen Budgetstelle, wiedergebende Rechtsblatt La Nación schreibt. Nur: Die AUH machte laut OPC 7 % der Gesamtausgaben für Sozialprogramme aus. Und diese fielen im gleichen Zeitraum insgesamt um 45.6 %. Diese massiven Kürzungen bezeichnet die OPC zusammen mit den Mileis Rentenreduktion als Hauptdrivers für den gepriesenen Budgetüberschuss. Dieser geht in die Schuldenzahlung an IWF und private Raubritter.

Die Katholische Universität UCA gilt je nachdem, wer von ihr sich gerade äussert, mal als progressiv, mal als reaktionär. Ihre Armutsstudie stand unter Leitung von Agustín Salvia, der bislang offenbar nicht als gekauft taxiert werden musste. Nebenbei äusserte Salvia denn auch Distanz zu seiner Hauptbotschaft. Dazu das schwer rechte Medium Infobae: Salvia erklärte zu seiner «Lageverbesserung», «dass man diese wegen der neuen Zusammensetzung der fixen Ausgaben der Haushalte, die sich aus der Teuerung von Dienstleistungen in den Sektoren Kommunikation, Transport, Kochgas und Strom ergibt, möglicherweise weder am Geldbeutel spürt noch an einer Zunahme des Konsums ersieht.» Er meinte, «dass die Dimension der wirtschaftlichen Veränderung eine gravierendere soziale Situation hätte erzeugen können, aber dass die Kapitalreserven oder früheren Ressourcen dämpfend gewirkt haben». Ein Hinweis etwa darauf, dass das Regime auch die letzten Dollarreserven unter der Matratze in Richtung Schuldenrückzahlungskonti der Zentralbank «lockt», z. B. über die von Milei ermöglichte Wohnungsmiete in Dollars[1]. Als wäre damit die Armutsbedrohung zurückgegangen. Natürlich wusste Salvia, dass die Hauptbotschaft der Studie, nicht seine Relativierungen, das mediale Rennen in Argentinien machen würde. Und dies trotz seines Befundes von massiv wachsender Kinderarmut (wo es doch sonst eigentlich aufwärts geht…). Klassische Heuchelei. 


Relevanter ein Hinweis des wie gewohnt kritischen Ökonomen und Journalisten Alfredo Zaiat in Las fake económicas del 2024. Er schreibt: «Die am schlechtesten gestellten sozialen Gruppen (…) hatten Einbussen bei Essen in Suppenküchen, Medikamenten und bei der Transportsubvention. Letzteres stellte einen schweren Schlag im Budget der Leute dar (…) Für Nutzer des [staatlich regulierten] Verbundtickets von U-Bahnen, Bussen und Zügen kostet ein Kurzstreckenticket von bisher 52.96 Pesos neu 370 Pesos. Mit anderen Worten, die indirekten monetären Einkünfte stürzten ab, was eine rigorosere Bewertung der monetären Bemessungslinie von Armut und extremer Armut erfordert. Eine Lohnerholung, die einem Sektor erlaubt, die Armutsgrenze zu übertreffen, registriert den Verlust indirekter Einkommen (Nahrung, Medikamente, Subventionen) nicht. Das stellt ein Stadium generalisierter Verarmung unabhängig von dem, was Statistiken sagen, dar.»

Erstaunlicherweise hält Zaiat dennoch einen Rückgang der Armut für möglich, bloss nicht in dem vom Regime propagierten Ausmass. Dies besonders wegen des Sozialprogramms AUH, trotz der harten, auf offiziellen Zahlen beruhenden parlamentarischen Widerlegung dieser These.

«Das soziale Geflecht zerstören»

Eine Bemerkung noch zu dieser perversen NZZ-Schreibe: Die Regierung «erhöhte die Regierung die Sozialausgaben für die Ärmsten und für Kinder und schaltete vor allem Mittler wie Kooperativen, Suppenküchen und politische Organisationen aus. Statt dass wie zuvor 50 Prozent der Hilfe über Vermittler verteilt würden, erreichten nun 93,5 Prozent der Sozialhilfe direkt die Bedürftigen, erklärte [das] Ministerium für Humankapital.» Die Angabe 93,5 Prozent bezieht sich auf das oben erwähnte AUH-Programm und wird allein durch die vom Regime in Aussicht gestellte Jahresinflation von 120 oder 130 Prozent mehr als halbiert. Doch zentraler ist die Essensverweigerung für Hungrige als Waffe im Sozialkampf.

Die «Mittler» sind primär Barrio- und Piquetero-Organisationen mit ihren Volksküchen, comedores comunitarios, entstanden um die Jahrhundertwende aus den Kämpfen gegen die neoliberale Verheerung. Staatlich registriert waren landesweit 41'000 Suppenküchen, von denen etwas mehr als die Hälfte von der Regierung unterstützt wurde. Eine vor wenigen Tagen in Página/12 zusammengefasste Untersuchung der Universität von Buenos Aires und der wichtigen Unterklassenorganisation UTEP (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economá Popular) zeigt, dass von den Comedores-Mitarbeiterinnen rund 80 Prozent Frauen und 70 Prozent der Essenden Kinder und Jugendliche sind. Johanna Duarte von der UNEP wird so zitiert: «Die Gemeinschaftsnetze retten uns vor so viel Entmenschlichung, es sind die kommunitären Sozioarbeiterinnen, die unserem Volk zu essen geben, die im schulischen Bereich helfen, die unsere Kids vor den Klauen des Drogenhandels retten und die unsere Betagten pflegen.» Jetzt sind diese comedores für 72'000 Menschen da. Milei strich ihre Unterstützung, 40 Prozent ihrer Ressourcen erhalten sie aus der lokalen Solidarität – Kleinhandel, Familien, Volksorganisationen -, 34 Prozent aus eigenen ökonomischen Aktivitäten wie Bäckereien und je 13 % von Gemeinde- und Provinzregierungen. Seit letztem Februar kommen auffallend mehr Erwachsene, auch viele, die wegen Arbeitsunfällen oder Krankheiten nicht mehr lohnarbeiten können und deren Renten unter Milei absackten.

 

Quelle: Página/12

Letzten Mai publizierte das Medium eldestape.web eine Auswertung von dank Informationsfreiheitgesetz erlangten Dokumenten des Ministeriums für Humankapital über dort gelagerte Trink- und Essensvorräte, mindestens 5000 Tonnen. Der Skandal war perfekt. Der Regierungssprecher sprach mal von Notvorräten für Katastrophenfälle, mal von betrügerischer Geschäftsführung der comedores. Kabinettschef Nicolás Posse sah im Mai «ein System der modernen Sklaverei», die «Humankapital»-Ministerin Sandra Petrovello «Kartelle» am Werk. Gegen VertreterInnen der in den comedores engagierten Organisationen strengte das Regime Strafuntersuchungen an. Nachdem ein Gericht der Regierung befohlen hatte, die 5000 Tonnen schnellstens auszuliefern, rekurrierte diese mit der Begründung, die Justiz habe sich nicht in die öffentliche Politik einzumischen. Das sah vor zwei Monaten auch ein Bundesrichter in der Provinz Córdoba so. 

Lorena Corral, die eine hauptstädtische Volksküche leitet, sagt: «Bei uns reicht es, weil wir von der Stadt Nahrungsmittel erhalten, neben vielen Schenkungen. Aber im Quartier schliessen comedores, weil sie nichts ausgeben können. Die Lage wird jeden Tag schlimmer.» Alejandro Gramamajo von der UTEP erklärte damals: «Wir erleben Gewalttaten in den comedores, was wir nie gesehen haben und was uns sehr besorgt. Die Leute streiten sich buchstäblich wegen eines Tellers Essen (…) Wir haben eine unglaubliche, nicht tolerierbare Situation. Es ist unerhört, dass all dieses Essen eingelagert ist, während sich in den Quartieren jeden Tag mehr Leute um einen Teller Essen drängen. Was Milei will und was erneut klar wird, ist, das soziale Geflecht zu zerstören. Es gibt keine andere Erklärung dafür.»

Das Milei’sche Labor, das in El Salvador und nacheifernden Ländern des Südkontinents seine Entsprechung findet, soll auch in den USA Einzug halten – offen. An einer solchen Strategie der Kanaille erlaben sich Herrschaftsgruppen, wie sie etwa in der NZZ den Ton angeben, solange sie nicht befürchten, am Widerstand aufzulaufen.  Und vergessen wir nicht: Milei kam nicht aus dem Nichts. Seine Vorgängerregierung unter Alberto Fernández öffnete ihm die Tür mit der Verarmung infolge Befolgung der via IMF transportierten «Sparkommandos» der globalen Oligarchie. Wer «links» antritt und eine rechte Politik betreibt, öffnet heute dem Faschismus die Tore.



[1] Der Direktor von Avenir Suisse begrüsste vor zwei Monaten eine «Entspannung am Wohnungsmarkt» dank Mileis Abschaffung von Mieterhöhungsbeschränkungen. Er berief sich dabei auf den ausgewiesenen Experten Busch, der die wohltuende Wirkung der von Milei erlaubten Mieten-Dollarisierung beschrieb. Die Meisten haben keine Dollars, werden dafür herausgeschmissen, weil Dollarmieten lukrativer sind. Und manche opfern ihre Dollars, um in der Wohnung bleiben zu können. Hoch der Wohnungsmarkt! Der werde noch bestehende Probleme lösen. Gewinne auf der einen, casas de cartón auf der anderen Seite. Diesen gilt das bekannte, ursprünglich mexikanische gleichnamige Lied.