(zas, 24.1.25) Als die 69 palästinensischen Geiseln im Austausch für die drei israelischen Geiseln freikommen sollten, gab es eine Verzögerung: Statt wie vorgesehen am Nachmittag kamen sie erst nach Mitternacht aus dem Ofer-Gefängnis in der Westbank raus. Eine Qual für die zum Ort der Übergabe der Gefangenen durch das IKRK angereisten Angehörigen. Aber nicht für die IDF. Die Gefangenenanwältin Tala Nasir von der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Addameer in Ramallah berichtete am 20. Januar in Democracy Now: «Gestern war schlimm. Die israelischen Besatzungskräfte begannen die Leute mit Lärmbomben, Gas, Gummigeschossen und scharfer Munition zu beschiessen. Es gab viele Verletzte vor dem Ofer-Gefängnis.» Sie sagte weiter, Ähnliches habe sich in Ost-Jerusalem abgespielt.[1]
In einem weiteren Gesprächsteil sagte sie, angesprochen auf die ebenfalls freigelassene Feministin und PFLP-Aktivistin Khalida Farrar, früher Mitglied des palästinensischen Parlaments: «Khalida kam gestern ebenfalls frei. Sie war jetzt während vier – fünf Monaten von der Aussenwelt totalisoliert. Sie kam in einem entsetzlichen Zustand frei aufgrund der Isolation, der mindestens gegen sie und andere gefangene Frauen verhängten Aushungerung, des Fehlens persönlicher Hygienemittel, der Beschlagnahmung von Kleidern, der Verweigerung medizinischer Betreuung. Sie war wirklich in einer schlimmen Lage. Weltweit haben Menschen Bilder von ihrer Freilassung gesehen. Und es geht nicht nur um Khalida Jarrar, sondern auch um andere weibliche Gefangene, die in einem sehr schlechten Zustand freikamen. Sie waren verschiedenen Folter- und Misshandlungsmethoden ausgesetzt, die zu ihrem schweren Gewichtsverlust führten. Sie wurden im Gefängnis ausgehungert.»
Khalida Farrar, nach ihrer Befreiung. Ihre Familie fuhr sie nach einem kurzem Statement der bekannten Genossin ab Feiernde und Presse zu einer medizinischen Untersuchung. |
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Am 16. Januar veröffentlichte Haaretz den Bericht «The Floor Was Covert With Blood». Lest ihn. (Trotz Paywall gibt Haaretz ein paar Artikel im Monat gratis ab.) Eine schwierige Lektüre, die schmerzt, verfasst vom Anarchisten Jonathan Pollack. Er fängt so an: «Als ich nach meiner Verhaftung an einer Demo im Dorf Beita und danach folgendem langem Gefängnis und Hausarrest wieder in die West Bank ging, war sie völlig anders, als ich sie gekannt hatte. Das Töten von ZivilistInnen, im Verbund mit der Armee erfolgende Angriffe der Siedler, grossräumige Verhaftungen. Angst und Terror hinter jeder Ecke. Und ruhig, erschaudernd ruhig.»
Prügelregime
Jonathan trifft alte Freunde, die in israelischen Gefängnissen gefoltert worden waren. Sie berichten ihm ihre schlimmen Erlebnisse. Vom Alltag mit systematischen Prügeln und Verwundungen. In Gefängnis wie dem Ofer, dem «notorischen Russischen Lager in Jerusalem» oder dem Megiddo, wo sein enger Freund Nazar noch vor dem 7. Oktober in «Administrativhaft», also Geiselhaft, sass. Der Betriff bedeutet, dass weder die Gefangenen noch ihre Rechtsvertretung je über Haftgründe informiert werden. Tawfiq war im Gilboa-Gefängnis eingesperrt. Anlässlich eines behördlichen Inspektionsrundgangs wünschte ein Insasse Hofgang. Die Antwort: «Du willst einen Hofgang? Sei froh, dass du nicht in den Hamas-Tunnels in Gaza bist. Während der nächsten zwei Wochen wurden die Insassen in den Hof geführt und mussten dort zwei Stunden auf dem kalten Boden liegen, auch bei Regen. Während sie dort lagen, gingen die Wärter rum. Manchmal liefen die Hunde zwischen den Gefangenen, manchmal über sie.» Jedes Treffen mit einem Anwalt hatte seinen Preis. Tawfiq: «Ich wusste, jeder Gang vom Besuch zurück würde mindesten drei weitere Prellungen bringen. Aber nie verweigerte ich den Besuch. Du weisst nicht, was eine Zelle mit 12 Menschen ist, die schon mit sechs überfüllt war».
Munther Amira ist der Einzige, der sich mit richtigem Namen zitiere lässt. Die anderen haben alle Angst vor Repressalien, sobald sie den Mund aufmachen. Munther war im Ofer. Administrativhaft. Er kam raus, ohne zu wissen wieso. «Er erzählte mir, dass eines Nachts eine Wärtereinheit mit zwei Hunden in die Zelle stürmte. Sie befahlen den Insassen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen und sich auf den Boden zu legen. Dann schnüffelten die Hunde an ihren Körpern und Gesichtern. Anschliessend wurden sie, wieder angezogen, in eine Dusche gebracht und dort, bekleidet, mit kaltem Wasser abgeduscht.»
«Wir sind dort keine Menschen, sondern verfaulendes Fleisch.»
«Munther verlor in der dreimonatigen Haft 33 kg. Ich weiss nicht, wie viel Khaled vorher wog – er war immer dünn -, aber auf dem Bild, das mir [gleich nach seiner Entlassung] geschickt wurde, sah ich die Skelettüberreste einer Person. Später zeigten die Deckenlampen in seinem Haus zwei tiefe Krater, wo einst seine Wangen waren. Seine Augen waren rot umrandet, wie von jemandem, der während Wochen nicht geschlafen hat. Die schlaffe Haut, die von seinen dünnen Armen runterhing, sah aus wie künstlich angemacht, wie eine Folie.»
Alle berichten Jonathan von minimalsten Essensrationen, die nicht «ungenügend» waren, sondern angelegt auf ein Kaputtmachen. Und oft roch die Nahrung schlecht. Nazar sagte: «Es geht nicht nur um die Quantität. Was sie bringen, ist auch nicht geeignet für menschlichen Verzehr. Der Reis ist nur halb gekocht, fast alles ist verdorben. Und weisst du, da gab es richtige Kinder, die noch nie in einem Gefängnis gewesen waren. Wir versuchten, für sie zu schauen. Aber wenn du auch nur einen Bissen von deinem Essen weggibst, ist das wie Selbstmord. In den Gefängnissen herrscht jetzt Hungersnot. Nicht wegen einer Katastrophe, sondern wegen der Politik des Israelischen Gefängnisdienstes.»
Es geht nicht nur um Essen. «Zum Beispiel ist es den Insassen verboten, mehr als ein Kleidungsset zu besitzen. Ein Hemd, eine Unterhose, eine Hose, ein T-Shirt. Das ist alles, für die ganze Haftdauer. Ich erinnere mich, dass einmal, als Munthers Anwältin Riham Nasra, ihn besuchte, er barfuss in den Besuchsraum kam. Als sie ihn fragte, warum er barfuss sei, sagte er nur: ‘Es gibt keine.’ Einem Gerichtsstatement des Gefängnisdienstes zufolge leidet etwa ein Viertel der Gefangenen an Krätze. Um die Zeit von Nazars Entlassung war seine Haut schon am Heilen. Die Wunden bluteten nicht mehr, aber noch bedeckten Krusten einen Grossteil seines Körpers.»
Nazar sagte: «Der Gestank in der Zelle lässt sich nicht in Worte fassen. Es ist wie Fäulnis, wir sassen herum und verfaulten – unsere Haut, unser Fleisch. Wir sind dort keine Menschen, sondern verfaulendes Fleisch. Aber wie könnte das anders sein? Meistens gibt es überhaupt kein Wasser, gewöhnlich nur eine Stunde am Tag und manchmal tagelang keines. Es gab immer wieder Wochen am Band, wo ich nicht duschen konnte. Es dauerte mehr als einen Monat, bis ich eine Seife erhielt. Wir sitzen da, immer in den gleichen Kleidern, weil niemand andere hat, und sind von Blut und Eiter bedeckt. Und es gibt einen Gestank – nicht von Abfall, sondern von Tod. Unsere Kleider waren getränkt von unseren verfaulenden Körpern.»
Sexuelle Gewalt
Jonathan schreibt: «Vergewaltigungen und sexuelle Angriffe werden meist als Gerüchte berichtet, als etwas, das anderen geschehen ist. Nur Burhan, der im Ketziot-Gefängnis im Negev einsass, sprach deutlich darüber. Bei einer Razzia in seinem Flügel nahmen die Wärter einen nach dem anderen aus der Zelle. Als er wartete, hörte er Hilferufe und Schmerzensschreie und von Seiten der Wärter Fluche. Als er an die Reihe kam, wurde er in an eine allgemeine Stelle gebracht. Er sah seine Zellengenossen liegen, einer auf dem andern, nackt und blutend. Ein Wärter entkleidete ihn, verband ihm die Augen und warf ihn dann unter Fluchen und Prügel auf den Boden. Sie wurden, erzählt er, geschlagen, als sie nackt und mit verbundenen Augen dalagen, während Hunde sie beschnüffelten. Irgendwann spürte er einen starken Schmerz im Rektum, als ein Objekt hineingestossen wurde.»
«Zurück in der Zelle sassen sie alle nur da und starrten vor sich hin. Niemand sagte ein Wort.»
Berichte von Vergewaltigungen sind tabu und werden kaum erwähnt. Aber sexuelle Demütigung ist für alle erkennbar. Videos von nackten Insassen, die von Gefängnispersonal geführt werden, wurden in den sozialen Medien veröffentlicht. Das konnten nur die Wärter selber dokumentieren, die stolz auf ihre Taten waren.»
Als Mann habe er, schreibt der Autor, natürlich keine direkten Berichte von Vergewaltigungen von Frauen gehört, doch werde oft von Mangel an Menshygiene und von Leibesvisitationen gesprochen. Eine Frau berichtete ihm, dass ihre Harnwege bei ihrer Entlassung nach einer Periode unter diesen Bedingungen schwer entzündet und infiziert waren.
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Hält der Waffenstillstand?
Zur Frage, ob der derzeitige Waffenstillstand tatsächlich bis in die entscheidenden Phasen 2 und 3 halten werde, gibt es viele Meinungen und Beiträge. Die Wahrscheinlichkeit, dass USA/Israel es nicht dazu kommen lassen, ist leider gross. Hier sei auf den Artikel There will be no ‘Trump effect’ when it comes to U.S. policy toward Palestine von Mitchell Plitnick vom 22. Januar verwiesen. Die Analysen von Plitnick, der u. a. ehemaliger Leiter des US-Büros der Menschenrechtsorganisation B’Tselem und Co-Direktor der Jewish Voice for Peace war, sind in der Regel ein Fundus für kluge, ehrliche und gut informierte Analysen.
[1] Das israelische Onlinemedium 972.mag betont in diesem Zusammenhang den Versuch der israelischen Sicherheitskräfte, das Verbot von Freudenkundgebungen bei den Freilassungen in der Westbank und in Ostjerusalem durchzusetzen. Over Ziv schreibt im Magazin, Tausende seien zusammengeströmt, um die Ex-Gefangenen zu empfangen. Zwar habe die israelische Armee die Freizulassenden extra nicht nach Ramallah gekarrt, wo es bei den letzten Freilassungen zu grossen Festen gekommen sei, sondern ins Dorf Beituna vor Ramallah, doch «vergeblich. Sobald die israelischen Kräfte, die das Rote Kreuz begleitet hatten, sich zurückzogen, nachdem sie versucht hatten, die Menge mit Tränengas zu vertreiben, worauf palästinensische Jugendliche sie mit Steinen bewarfen, kam es sofort zu grossen Feiern. Feuerwerk erhellte den Himmel, die Leute skandierten nationalistische Parolen und schwenkten palästinensische und Hamas-Fahnen.»