Eine sandinistische Wahlkampagne mit üblen Elementen. Und dennoch, einmal mehr, wissen die Sandinistas, dass sie einen wichtigen Kampf führen. Ein Bericht aus dem Zentrum des nördlichen Departements Matagalpa.
Gérald Fioretta
Matagalpa, Samstag, den 5. November 2011
Das Haus ist in einen „Befehlsstand“ verwandelt. Seit heute früh sind sechs Köchinnen um zwei Feuer herum damit beschäftigt, die Mahlzeiten für hundert sandinistische fiscales vorzubereiten (offiziellen ParteibeobachterInnen an den Wahltischen). Diese werden bis gegen Sonntag Mitternacht in der Quartierschule eingeschlossen bleiben, wo ein Dutzend Wahltische für die 4000 Wahlberechtigten des Sektors Pancasán Arriba und Pancasán Abajo (im Osten des Departements Matagalpa) stehen. Die fiscales werden vom Obersten Wahlrat CSE eine symbolische Entschädigung erhalten, die sandinistischen Freiwilligen werden kein Auge mehr schliessen, um die Moral hoch zu halten, die Ernährung zu sichern und die Kommunikation mit dem Quartier und der Gemeindestruktur des FSLN nicht zu verlieren. Denn in Nicaragua geht es um die defensa del voto, die Verteidigung der Stimme, und das ist nie eine geringfügige Angelegenheit. Alle Welt erinnert sich hier an die Präsidentschaftswahlen 1996, wo ein naiver FSLN sich seinen kleinen Vorsprung von der Rechtspartei PLC hatte wegschnappen lassen. Die Liberalen hatten an jeden Wahltisch einen Anwalt, einen fetten Geschäftsmann oder einen erprobten Aktivisten plaziert,
imstande, die sandinistischen fiscales zu beeindrucken und zu manipulieren, denen man vergessen hatte, die zahlreichen Subtilitäten eines Wahlprozesses zu erklären, die es den Schlausten erlauben, ein knappes Resultat zu verändern.
Die Bereitschaft der Leute, die Ernsthaftigkeit der jungen Unileute, die mit Telefon und Notebooks die Koordination garantieren, beeindruckt mich. Die Situation ist ruhig, wir erwarten die Anlieferung des Wahlmaterials, das bis morgen früh um 7 Uhr in den Schulzimmer aufbewahrt werden wird, bewacht, von hunderten von Augen, denn jede Partei hat ihre fiscales.
Seit zwei Tagen herrscht die „Wahlstille“. Keine Werbespots mehr, keine Versammlungen und Demos mehr im Takt der lokalen Rapper, die in dem Mass, wie in dieser Kampagne der sandinistischen Front die Jungen die alte Generation in die Minderheit versetzen, die Volksmusik verdrängen. Diese Stille wird über das Reglement hinaus befolgt: Die sandinistischen AktivistInnen haben ihre Mützen, T-Shirts, sogar die Parteiabzeichen zuhause gelassen. Der Sandinismus soll nicht nur die Wahlen gewinnen, sondern auch das Beispiel für „die Liebe und den Frieden“ geben, so der Hauptslogan der sandinistischen Kampagne. Vorallem darf er nicht auf die Provokationen schlechter Verlierer hereinfallen.
Beim Schreiben dieser Zeilen höre ich, dass die Busse mit den Wahlmaterialien wegen Strassenblockaden aus Steinbrocken von Aktivisten des PLC oder des PLI (zwei liberale Rechtsparteien) gezwungen wurden, ihre Route zu ändern. Unsere Leute dürfen die Beherrschung nicht verlieren, das ist die Parole für die beiden kommenden Tage, um den angekündigten Sieg so legitim wie möglich zu machen.
Ich bin sofort hingegangen, aber die Ruhe war schon wieder eingekehrt.
Es muss gesagt werden, dass in den letzten Tagen Bauerngruppen unter der Leitung lokaler PLI-Chefs Büros des Wahlrates vorallem in den ländlichen Zonen von Matagalpa, in La Dalia, Matiguas, Rio Blanco oder Waslala gestürmt haben. Sie wollten so auf ihre Weise das brennende Problem der Aushändigung der Duplikate der für die Stimmabgabe notwendigen Personalausweise „lösen“, zuhanden jener, die sie verloren haben und bis zum letzten Tag zuwarten, bevor sie sich um ihren Ersatz kümmern. Ohne Zweifel ein reales Desorganisationsproblem, instrumentalisiert vom PLI, um im letzten Moment elektorale Gewalt zu provozieren.
In den zwei Wochen, die ich nun in Nicaragua bin, habe ich eine ruhige Wahlatmosphäre mitbekommen, die mir sogar fast ein wenig apathisch vorkam. Ich hatte mehr Agitation, Transparente, Demos erwartet. Tatsächlich hat der FSLN die Tonlage angegeben: eine andere Wahlkampagne, vom Typ ruhige Kraft, seit Monaten charakterisiert von einer Präsenz in den Quartieren, den Besuchen von Haus zu Haus, Diskussionen, aber ohne Propagandamaterial, eine Kampagne unter dem prägenden Einfluss vor allem eines jugendlichen Enthusiasmus, zum Metal- und Reggaeton-Sound. Präsident Ortega und die Regierung haben ihre Energien auf die Schadensbekämpfung in der Folge der letzten Unwetter konzentriert, die einen Teil von Zentralamerika unter Wasser gesetzt haben. So gab es dieses Mal beispielsweise keine der immensen Vorwahlkundgebungen.
Ansonsten schätze ich die „Wahlstille“, denn ich muss keine Wahlspot-Bombardierung mehr ertragen, welche, die sandinistischen eingeschlossen, sich gegenseitig an niederträchtiger Denunziation der (therapeutischen) Abtreibung überboten haben, um die Stimmen der katholischen und evangelischen Kirchen und damit generell der Bevölkerung anzuziehen. Ich stosse nur auf wenig Verständnis, wenn ich die Gewalt solcher Spots kritisiere und den Rückschritt, den sie für die Frauen in Nicaragua bedeuten, thematisiere.
Der Tag geht zu Ende, unser Befehlsstand hat den VerteidigerInnen der Stimmabgabe soeben die dritte Mahlzeit serviert, die Situation in Matagalpa scheint ruhig, aber das Fernsehen bringt Gewaltszenen zum Beispiel im nicht weit entfernten Sébaco, die zeigen, dass heute die Stimmung gespannter ist. Die Leute werden die Nacht durch wach und aufmerksam bleiben, sie wollen nicht in die Falle tappen, die ihnen gestellt wird, sie wollen, dass die Wahlen morgen ruhig verlaufen. Man soll ihnen den erwarteten Sieg weder stehlen noch beschmutzen.