(zas, 7.2.13) Dass das argentinische Statistikamt
Indec wahrscheinlich geschönte Inflationszahlen zum Besten gibt, ist bekannt.
2005 hatte der damalige Präsident Néstor Kirchner Änderungen in der
Datenerfassung des Indec veranlasst, im gleichen Jahr, als seine Regierung mit
einem Grossteil seiner Gläubiger einen beträchtlichen Schuldenschnitt
ausgehandelt hatte. Die inflationsgebundenen Zahlungen erfolgten zudem von nun
an in Pesos, nicht mehr in Dollars.
Das erklärt, warum sich der IMF intensiv für eine
argentinische Übernahme seiner internationalen Erfassungsregeln einsetzt. Und erklärt
das Begleitgehechel in hiesigen Medien. Letzten Montag, 4. Februar, plagierte
die NZZ auf ihrer Titelseite: „Der Internationale
Währungsfonds (IMF) liest der Regierung Argentiniens die Leviten, weil sie ihre
Verpflichtungen nicht erfüllt. Trotz gutem Zureden hat es Buenos Aires
unterlassen, die Erhebungsmethoden für das Messen von Inflation und
Bruttoinlandprodukt anzupassen“. Im Wirtschaftsbund gibt ein anderer vor
Kompetenz strotzender Journalist seinen Senf ab: „Der IMF hat genug von diesem Spiel. Mit der offiziellen Rüge schafft
er einen Präzedenzfall und erhöht den Druck auf Argentinien. Die nun in Gang
gesetzte Prozedur könnte im Extremfall gar in einen Ausschluss Argentiniens aus
dem IMF münden … Ob Argentinien spuren wird oder den Konfrontationskurs
weiterführt, bleibt abzuwarten. Vorerst reagierte Buenos Aires, wie so oft,
uneinsichtig … Die Kritik des IMF an Argentinien sei ein Beispiel für die
ungleiche Behandlung einiger Mitgliedsstaaten, liess Wirtschaftsminister Hernán
Lorenzino verlauten. Wie im Falle der
Inflation scheint die Regierung Kirchner ein Problem zu haben, sich mit der
Realität abzufinden.“
„Trotz gutem Zureden“, „genug von diesem Spiel“,
„spuren“, „uneinsichtig“, „sich mit der Realität abfinden“ – die Sprache der
paternalistischen Dressur.
Zufälle
Der IMF veröffentlichte sein Communiqué am gleichen
Tag, als Argentinien vor einem New Yorker Berufungsgericht seine Verteidigung
gegen den Geierfonds des ultrareaktionären Paul Singer vorlegte. Diesen Monat
wird das Gericht entscheiden, ob die Geierfonds privilegiert Anspruch auf 100%
des Nennwertes der von ihnen zu einem Ramschpreis gekauften Staatsanleihen haben.
Allfälliges Zwangsvollstreckungsmittel: Beschlagnahmung der argentinischen
Guthaben inklusive Währungsreserven im Ausland, Blockierung des argentinischen Zahlungsverkehrs
im Ausland. Ein Gerichtsentscheid in diesem Sinne hätte gravierende Folgen weit
über Argentinien hinaus (s. Correos 172, Dezember 2012, Die
Kosten einer Unterlassung). Voll
Zufall, dass der IWF, der die argentinische Schuldenreduktion vergeblich
bekämpft hat, mitten in diesem brisanten Verfahren Druck allein auf Buenos
Aires ausübt, und nicht auch auf Brasilien, dass nach Abgaben des
argentinischen Ökonomen Julio Gambina (¿FMI
o soberanía popular?) die Statistikanforderungen des IMF mit den gleichen
Argumenten wie Argentinien zurückweist. Und voll Zufall natürlich, dass der IMF
zum ersten Mal in seiner 69-jährigen Geschichte mit einem (im Übrigen sehr
unwahrscheinlichen) Ausschluss droht.
Mit Bestimmtheit hat das nichts, aber rein gar nichts damit zu tun, dass
dieses Land nach der Volkserhebung von 2001 als erstes einer Reihe folgender
Schwellenländer den IMF gegen seinen Willen vorzeitig auszahlte und nach Hause
schickte. Das zwang die Washingtoner Institution vorübergehend, etwas Kreide zu
fressen und angeblich selbstkritisch über die Bücher zu gehen – die
einschlägigen internationalen NGOs, auch hierzulande, zeigten sich davon enorm
berührt.
Cristine Lagarde, IMF-Chefin, im Dialog |
Diese Durstphase ist vorbei, die Krise 2007 ff. erlaubt es dem Fonds,
sich wieder als der Bluthund zu präsentieren, der zu sein er im armen Süden
ohnehin keine Sekunde aufgehört hat. Argentinien – das war sozusagen offiziell
die international schallende Bescheinigung des IMF-gesponserten Desasters für
die Bevölkerung. Die Herrschenden haben einen „pädagogischen“ Rache- und
Bestrafungsinstinkt: Argentinien in die Knie zu zwingen, hiesse, die
Fruchtlosigkeit eines Ansatzes zu einer anderen als der imperialistisch
verabreichten Finanzpolitik vorzuführen.
Spontaner Protest vor dem Indec: No somos colonia! |
Es geht nicht um Zahlen. Ginge es darum, müsste als
erster der Fonds schweigen. Jahr für Jahr, Land für Land, Kontinent für
Kontinent, berechnete er Messlatten wie „Schuldendiensttragfähigkeit“ und
wirtschaftliche Folgen systematisch zugunsten seiner Auftraggeber und
zuungunsten der daran Sterbenden falsch. Jetzt auch in Europa. Letzten Monat
hatte IMF-Chefökonom Blanchard in einem Working Paper
ein Heureka-Erlebnis: Er hatte herausgefunden, dass, wenn man die griechische
Wirtschaft systematisch abschnürt, sie nicht gedeiht. „Huch“, sagte er, Budgetkürzungen
wirken sich hier nicht, wie doch vom Fonds behauptet, praktisch vernachlässigbar
auf die Wirtschaft aus, sondern negativ. Berlin bebt derweil, weil der Fonds die
Verelendungsbeschleunigung etwas dämpfen will (um unkontrollierbare Dynamiken
zu vermeiden).
Cristina
Fernández
Es geht eben nicht um glaubwürdige Zahlen, sondern um
Argentinien. Das Land spielte eine Rolle in der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsentwicklung
des letzten Jahrzehnts und soll jetzt den Gang nach Canossa antreten. Die argentinische
Präsidentin Cristina Fernández hat recht, wenn sie in Reaktion auf den IMF sagt:
„somos mala palabra para la rapiña global“,
„Wir sind ein Unwort für die globale Abzockerei.“ Tatsächlich ist der Pawlowsche Kolonialreflex in hiesigen Medien
bei diesem Land auffällig. Die Rebellion von 2001 schrie es auch den hiesigen
Schreibtischtätern und Absahnern (von der CS bis zum EDA) ins Gesicht: „Ihr
seid die Täter!“ Das muss weggewaschen werden, ein gedemütigtes Argentinien muss
vorgeführt werden. (Und wenn schon nicht in der Realität, dann doch in der halluzinierenden
journalistischen Wortwahl.)
Cristina Fernández |
Fernández sagt weiter: „Argentinien hat Schulden reduziert, restrukturiert und bezahlt, ohne sich erneut zu verschulden. Dies
scheint der wahre Grund für den Ärger des IWF zu sein … Jahr 2003: Schulden in
der Höhe eines rachitischen BIP, 90% in ausländischen Devisen. Heute Schulden beim
nationalen und internationalen Privatsektor im Wert von 14% eines robusten BIP,
nur 10% in ausländischer Währung“. Die Präsidentin erfrecht sich weiter
eines Hinweises auf Rodrigo Rato, IWF-Chef von 2004-2007. Der caballero übernahm in der Folge die
Leitung der Bankia, die, seither mit Millarden Euros vom Staat ausgehalten, im
Zentrum der Immobilien- und Finanzkrise in Spanien steht. Fernández: „Heute hat Spanien 26% Arbeitslosigkeit und
aus ihren Wohnungen geworfene Menschen. In welcher Statistik figurieren diese
Tragödien? Mit was für Parametern oder „Prozeduren“ analysiert der IMF Länder,
die Pleite gegangen sind, und Völker, die verzweifeln? Kennt wer irgendeine
Sanktion des IMF, irgendeinen Entscheid über sie, die sich bereichert und die
Welt zugrunde gerichtet haben?“
Unsere
Frage
„Argentinien“ macht es einem nie leicht. Gegen
Angriffe der geschilderten widerlichen Art kann es für Linke nur eine Antwort geben:
solidarischer Schulterschluss. Aber das löst etwa das vom IMF missbrauchte
Problem der statistischen Erfassung nicht. Es wäre an der Zeit, wie das Gambina
in seinem erwähnten Artikel fordert, dass die Regierung endlich auf die
Reformvorschläge von im Amt Beschäftigten und diversen Organisationen eingeht,
unabhängig vom IMF. Doch dies wird vermutlich nicht der Fall sein, hier stösst
das Modell Kirchner (nach der Präsidentin und ihrem verstorbenem Ehemann und Amtsvorgänger
benannt) an seine Grenzen. Denn „Schwachpunkte“ (höhere Inflation, weniger
Realwachstum, weniger Lohnverbesserungen) zuzugeben, hiesse, das existierende
Soja- und Autoexportmodell zu hinterfragen. Und dafür hat diese Regierung vermutlich
kein Musikgehör, im Gegenteil (s. Cristina
Kirchner, Rockefeller, Monsanto y la nueva oligarquía agroindustrial). Weshalb
den auch Gambinas Hoffnung, die Präsidentin möge den neuen Angriff als Chance
nehmen, definitiv aus dem IMF austreten und die ganze Aussenschuld einem Audit
unterziehen, vermutlich nicht Wirklichkeit werden wird. Bei allen
unbestreitbaren politischen Verbesserungen unter der jetzigen Regierung, in Argentinien
bleibt die Bourgeoise am Drücker, das
Land ist nicht zufällig nicht dabei in Alba, dem linkeren Teil des
lateinamerikanischen Staaten- (und Bewegungs-) Bündnis.