Venezuela: Militante Destabilisierung im „Hinterhof“, mediales Lügen hier

Donnerstag, 18. April 2013




(zas, 18.4.13) Die Systematik der Lügen im venezolanischen und internationalen Mainstream zu den Vorgängen in Venezuela ist kein Zufall. Sie verdeutlicht, dass das Imperium und die vordem herrschende Klasse im Land versuchen,die Destabilisierung zu eskalieren, um wieder die alte Machtposition in Venezuela zu erlangen.
So schrieb gestern Sandro Benini im Tages-Anzeiger:  „Nach Angaben von Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz kamen bei Zusammenstössen zwischen der Polizei und Demonstranten 7 Personen ums Leben“. Díaz hat diese Angaben nicht gemacht, doch sie passen so sehr ins Cliché: Die castristisch-chavistischen Repressionskräfte haben sieben Demokraten, die gegen Wahlbetrug protestieren, umgebracht. Real hat Díaz über die systematischen Angriffe oppositioneller Strukturen auf mindestens acht  Gesundheitsposten, auf Wohnhäuser von ExponentInnen des chavistischen Lagers, darunter auch jenes der Chefin des Wahlrates CNE, auf Sänger und Medienschaffende aus dem bolivarischen Lager, auf Medien wie Telesur oder den Regierungssender VTV und viele, oft abgefackelte, lokale Basismedien vom letzten Montag berichtet, in deren Verlauf nach neuen Angaben 8 Menschen starben: alles Chavistas. Drei von ihnen kamen bei Angriffen auf Gesundheitsposten um. Am Montag kam es zu mindestens 61 teilweise schwer Verletzten. Um einen Eindruck von der Qualität der „demokratischen Kräfte“ zu gewinnen, ein Zitat der Generalstaatsanwältin: „Unter diesen Verletzten ist eine Person, die sie lebendig in Brand gesteckt haben. Sie haben sie lebendig in Brand gesteckt. Stellen Sie sich die Levels von Aggressivität und Gewalt vor, die in diesem Moment eine Gruppe von Personen hat“.  Angeheizt hatte der unterlegene Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles, als er am späten Montagnachmittag zu landesweiten Demos vor die Büros des Wahlrates CNE aufrief, aus denen sich dann die organisierten Attacken auf verhasste chavistische Ziele entwickelt hatten.  „Para drenar“, um zu drainieren, den Chavismus trocken zu legen, hat er gesagt. (Capriles ging bei den Unterklassen auf Stimmenfang, in dem er log, die chavistischen Sozialprogramme wie die Gesundheitsposten beibehalten zu wollen. Seine Trupps, unter denen auch oppositionelle Abgeordnete waren,  zeigen, wie ernst dieses Witzchen gemeint war.)
Heute schreibt Nicoletta Wagner in der NZZ: „Bei Protesten gegen das Wahlergebnis waren 7 Personen ums Leben gekommen“. Same story, same lie. Auch bei ihr wie beim Grossteil der internationalen Berichte kein Wort darüber, wer denn da ermordet wurde – alles Chavistas- und in welchem Kontext. Gezielte Desinfo, nicht bloss dümmliches Abschreiben.
Quelle: Aporrea


Aprilszenarium
Offenbar gehen solche Attacken, wenn auch auf niedrigerem Niveau, weiter. Capriles sagte die für gestern vorgesehene Grossdemo vor den Wahlrat CNE ab, nachdem Präsident Maduro die Route verboten hatte. Grund, so Maduro: Der Regierung lagen klare Informationen vor, dass bei dieser spannungsgeladenen Demo ins Zentrum von Caracas ein ähnliches Szenario wie im April 2002 repetiert werden sollte. Damals erschossen Scharfschützen und Angehörige der von der Rechten kontrollierten Polizei mehrere TeilnehmerInnen einer plötzlich zum Präsidentenpalast umgeleiteten Oppositionsdemo. Die rechten Medien verkündeten daraufhin weltweit, die Mörder hätten aus einer chavistischen Gegendemo heraus operiert – Vorwand für den nach drei Tagen gescheiterten Putschversuch mit spanischer und US-amerikanischer Begleitung. Die venezolanischen und internationalen TV-Kanäle zeigten Bilder, wie Menschen aus einer chavistischen Demo nahe beim Präsidentenpalast hinter einem Brückengeländer mit Pistolen in Richtung einer unten gelegenen Strasse schossen – angeblich auf die Oppositionellen. Sie zeigten auch später nie die aus einer erhöhten Perspektive aufgenommenen Bilder der gleichen Vorgänge: Die Strasse war praktisch menschenleer, die vor feindlichem Feuer Schutz suchenden chavistischen Schützen schossen nicht auf eine gegnerische Demo, sondern auf sie beschiessende Scharfschützen.
Eine kleine Gruppe von Armeeangehörigen ist verhaftet worden. Nach Maduro sollten diese Militärs im Anschluss an die von Capriles angekündigte Grossdemo und dabei umgesetzten Destabilisierungskationen putschen. Und, bedeutsam, die Regierung beorderte am Dienstag die Polizei landesweit in ihre Kasernen beordert, übertrug die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit der Guardia Nacional und erliess ein allgemeines Waffentragverbot. Im Visier natürlich die unter rechtem Kommando stehenden Polizeikräfte in von der Opposition regierten Zonen, die bei den Ausschreitungen vom Montag offenbar eine wichtige Rolle gespielt haben.

Tote, aber keine Beschwerde
Benini in seinem gestrigen Tagi-Artikel: „Die venezolanische Wahlbehörde hat die Forderung der Opposition nach einer Nachzählung sämtlicher Stimmen abgelehnt und Nicolás Maduro zum Präsidenten ernannt“. Hat sie nicht, konnte sie nicht. Denn so barbarisch das anmuten mag, der CNE, eine vierte Gewalt im venezolanischen Staat, kann nicht etwas ablehnen, das ihm gar nie vorgelegt wurde. Oh ja, Capriles fordert, im Verbund mit Washington und  Brüssel, die Nachzählung. Aber nein, ein Gesuch dafür hat er dem CNE vor den Morden nicht gestellt. Erst gestern Mittwoch hat sein Wahlkampfteam diese Forderung beim CNE deponiert. So ein Gesuch muss konkret begründet werden, und da wird es eng, sehr eng, für Capriles. Zwar weiss er phantastische Zahlen zu nennen – tausende von teils groben Wahlgesetzbrüchen seien erfolgt, hunderte seiner VertreterInnen an den Wahltischen mit Waffengewalt aus den Wahlzentren verwiesen worden  – allein, die wenigen Male, wo er riskiert hat, konkret zu werden, wurde es peinlich. Wie etwa beim viel zitierten Fall des Wahlzentrums in der Schule Antonio José Saldivia in der Gemeinde Carache (Trujillo), wo Capriles mehr abgegebene Stimmen (717) als WählerInnen erkannt hat. Allein, er hatte einen kleinen Umstand übersehen, wie Informationsminister Ernesto Villegas darlegte:  „Nun, der Ex-Kandidat bezieht sich nur auf einen Wahltisch, doch in diesem Wahlzentrum gibt es zwei Wahltische … Das von Capriles angeführte Resultat ergibt sich aus der Summe der an beiden Tischen abgegebenen Stimmen“ (aporrea, 17.4.13). 

 Entlarvende Details hinter dem Rauchvorhang. Sie werden aber an der Hetze für eine verschärfte Destabilisierung kaum etwas ändern.  Da mag das venezolanische Wahlsystem in Sachen Zuverlässigkeit zu den weltbesten gehören, von ExpertInnen der UNO, des Carter Centers, der OAS zigmal bestätigt; da mag die Rechte dies so sehr wissen, dass sie die Organisation ihrer Primärwahlen, bei denen Capriles als Kandidat ermittelt wurde, eben dem jetzt verfemten CNE anvertraute; da mag der Oppositionsvertreter im CNE, der sich ursprünglich auch für eine Totalnachzählung ausgesprochen hatte, jetzt noch so sehr von der Richtigkeit des offiziellen Resultats überzeugt sein, nachdem bei der von Gesetz wegen ohnehin vorgesehenen Überprüfung von 54 Prozent der Resultate, ausgewählt nach einem von der internationalen Fachwelt als narrensicher geltendem Zufallsprinzip, diese Resultate verifiziert worden sind – das alles ist irrelevant, wenn Washington und die internationale Reaktion die Chance wittern, die Aufbruchbewegung in Venezuela zu bekriegen. 

Kerry sagt: Hinterhof
Nehmen wir den OAS-Generalsekretär Insulza. Er, der nach dem Expressputsch vom letzten Juni in Paraguay das Land zusammen mit einer von Honduras (!) geleiteten OAS-Delegation besuchte und keinen Anlass sah, die Putschisten zurechtzuweisen, „forderte“ schon am Montag, kaum hatte Capriles seinen Mund aufgemacht, eine umfassende Nachzählung der Stimmen. Dito das State Department, dessen Chef John Kerry sich gestern weigert, Maduro als Präsident anzuerkennen. Die Ironie, dass ausgerechnet die USA eine „Nachzählung“ fordern, bleibt dem Medienmainstream verborgen, nicht aber dem afroamerikanischen US-Kongressabgeordneten Gregory Meeks, der bei einer Anhörung im House Committe on Foreign Affairs gestern darauf hinwies, dass man beim Wahlmatch Bush/Gore in den USA auf das verzichtet habe, was man jetzt in Venezuela fordere. Offenbar hat Kerry in seiner Antwort  u. a. gesagt: „Die westliche Hemisphäre ist unser Hinterhof“ (Aporrea, 17.4.13). Soviel zu democracy und so.  
Ähnliche Tonlage bei der EU. Hier hatte sich Spaniens Aussenminister Margallo mit der Bemerkung etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt, dass, „was immer das Schlussergebnis der Nachzählung dieses Prozesses sein mag“,  die „sehr starke Polarisierung … einen offenen Dialog“ erfordere  (El Universal, 17.4.13). Maduros Antwort darauf: „Respektieren Sie, damit sie respektiert werden“ (id.). Eine Botschaft, die Madrid, bestimmt mithilfe der spanischen InvestorInnen in Venezuela, richtig interpretierte; Spanien anerkennt nun Maduro als Präsidenten, wie das zitierte Rechtsblatt berichtet.  Eine Kurzstellungsnahme des französischen Aussenministeriums – „Frankreich nimmt Kenntnis von dieser Proklamierung“ (von Maduro durch den CNE  zum Präsidenten) – wird in chavistischen Medien als Anerkennung gewertet.
Ein direkter Durchmarsch der Rechten in den Präsidentenpalast ist verhindert worden. Die Vereitelung der Mittwochdestabilisierung, die, wie von den Kollektiven, der Regierung und der sozialistischen Partei PSUV stets betont, friedliche Aktivierung der chavistischen Basis, die Verteidigung von Gesundheitsposten u. a. mit Quartiermobilisierungen, die Verhaftung einiger Militärs , aber auch die klare Positionierung der südamerikanischen Staatengemeinschaft Unasur und des Mercosur gegen putschistische Umtriebe haben zu einer ersten Beruhigung der Lage geführt.

Darum das Lügen
Doch die Destabilisierung wird weitergehen. Sie wird den Eindruck wecken und verfestigen wollen, bei den Wahlen sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen und die Regierung Maduro sei illegitim. Im Land bedient sich die Rechte emotional anheizender Falschinfos. So geisterten etwa Bilder von der Verbrennung von Wahlmunterlagen erst durch das Internet, danach durch konventionelle Medien. Bilder aber, die nachgewiesenermassen einige Jahre alt sind und von der problemlosen Entsorgung von Materialien früherer Wahlgänge stammen. Doch dies unterschlagen die „freien“ Medien ihrem Publikum, so dass der Hass beim radikalisierten Teil der Rechten wachse.
Im Ausland wird die gewohnte Desinfo weitergehen, auch falls Washington & Co. sich aufgrund der unmissverständlichen Haltung der Unasur genötigt sehen sollten, Maduro anzuerkennen. (OAS-Chef Insulza musste sich unterdessen zu diesem Schritt bequemen, damit der US-dominierten OAS nicht weitere lateinamerikanische Felle davon schwimmen.) Mit Bestimmtheit jedoch wird die Finanzierung und Anleitung aus den USA und Europa für jene „demokratischen“ Organisationen weitergehen, vermutlich intensiver noch als zuvor, die in Venezuela kurz- bis mittelfristig einen Umsturz herbeiführen wollen.

Für den Chavismus stellen sich somit zwei grosse Herausforderungen: Erstens die offene Konterrevolution besiegen, aber zweitens deswegen nicht die notwenige selbstkritische Analyse mit praktischen Folgen zu unterlassen, die das knappe Wahlresultat eindeutig erfordern. Hier bekommen die oft zitierten Themen wie Sicherheit auf der Strasse oder die Abwertung der nationalen Währung und ihre soziale Kompensation ihren Platz. Aber auch Fragen nach einem Politverständnis, das anscheinend etwa die kürzliche Wahlkampagne fast allein unter das Bild von Hugo Chávez stellte und gesellschaftliche Diskussionen relativ marginal behandelte.
Wichtig in diesem Zusammenhang die Aussage von Maduro: „Hier gibt es keinen Pakt mit der Bourgeoisie. Was wir hier haben, ist eine Revolution. Wenn sie mit der Gewalt fortfahren, bin ich bereit, die Revolution zu vertiefen“ (ccs.info, 16.4.13). Lassen wir die nachlässige Formulierung – wer vetieft eine Revolution? Maduro bezog sich direkt auf ein Telefonat mit Capriles, in dem ihm dieser eine Regierung unter Einbezug von rechten Ministern vorschlug. Dahinter aber steckt eine tiefere Frage, die der von allen Medien stets als unabdingbar bezeichneten „Verständigung“ entgegensteht: Hier klüngeln nicht Parteien mit einem weitgehend austauschbaren Programm um Macht und Geld, sondern es geht um zwei entgegengesetzte gesellschaftliche Projekte.  Eine „Verständigung“, wie sie medial propagiert wird, meint ein Ende der revolutionären Dynamik. Eine andere Art der Verständigung, die sich auf beidseits akzeptierte Spielregeln zur Vermeidung von Terror beziehen würde, lehnt die Rechte mit untrüglichem Klassenbewusstsein ab. Das haben ihre gewalttätigen Angriffe in diesen Tagen klar gestellt, auch ihre Attacken auf Gesundheitsposten, wo „Kubaner“ angeblich Urnen versteckt hielten. Beim Putsch von 2002 versuchte Capriles mit einem bewaffneten Mob die kubanische Botschaft zu stürmen, um angeblich hier versteckte Putschflüchtlinge zu „ergreifen“ – er war damals Bürgermeister eines Reichenvororts von Caracas.