Argentinien/USA: Geierlogik über alles

Donnerstag, 5. September 2013




(zas. 4.9.13) Am vergangenen 29. August fällte das New Yorker Appellationsgericht einen potenziell auf globaler Ebene explosiven Schuldspruch gegen Argentinien und für den vom erzreaktionären US-Milliardär angeführten Geierfonds Elliot Management.
Der Hintergrund: Nachdem 2001 eine Volksrebellion die Politik der seit der Militärdiktatur durchgesetzte Verschuldung unter dem Diktat der transnationalen Zentralen ins Schlingern gebracht hatte, gelang es Präsident Néstor Kirchner 2005, bei den vorwiegend ausländischen Gläubigern eine vorerst massive Schuldenreduktion um fast 2/3 auf den Nennwert der Staatsobligationen durchzusetzen. Diese hatten massiv an Wert verloren, so dass das argentinische Angebot zusammen mit der überzeugenden Warnung, nicht-restrukturierungswillige BondshalterInnen leer ausgehen zu lassen, 93 % der Gläubiger zum Einlenken auf den Deal veranlasste. Viele von ihnen hatten die Papiere, die seit 2001 abgestürzt waren, für 15-28 % ihres Nennwertes erworben, machten also auch mit diesem Schnitt noch Profit. [Abgesehen vom Gewinn aufgrund des damals schon von linken ÖkonomInnen prognostizierten Wertzuwachs der Obligationen seither.] 7 % der Gläubiger mit Galionsfigur Singer willigten nicht in den Deal ein und gingen vor die New Yorker Justiz. Sie hatten die Papiere für einen Ramschpreis aufgekauft, um den argentinischen Staat für 100 % zu schröpfen, wie sie das auch schon in anderen Fällen von krisengeschüttelten Ländern getan hatten – daher der Begriff der Geierfonds.

Seit 2005 ist Argentinien vom internationalen Finanzmarkt abgehängt, was die Kreditaufnahme betrifft. Nicht aber, was die Schuldenrückzahlung angeht. Seit 2003 hat das Land den internationalen Finanzhaien satte $ 173 Mrd. in den Rachen geworfen und weitere $80 Mrd. wegen Kapitalflucht verloren, wie der argentinische Linksökonom Eduardo Lucita in dem gestern auf Rebelión erschienen Artikel Fondos buitre: segundo round festhält.
New York war in den Bonds als Gerichtsplatz festgeschrieben worden. Die meisten internationalen Obligationen, schreibt Floyd Norris in der New York Times vom 30. August 2013 (Not Crying for Argentina but Fearful of a Ruling), werden nach New Yorker oder britischem Recht aufgelegt. Der Entscheid des New Yorker Appellationsgerichts erfolgte nach mehreren juristischen Stationen von Schuldsprüchen gegen Argentinien und dessen Rekursen (s. Die Kosten einer Unterlassung, Correos 172, Dezember 2012, und Kaum öffnen sie den Mund, schon trieft es kolonial, Februar 2013). Buenos Aires zieht jetzt an die Supreme Court weiter, mit sehr ungewissen Chancen.

Gericht erklärt seine internationale Oberhoheit
Was das Appellationsgericht bestätigte, ist, dass die New York Bank Mellon, die die argentinischen Bonds aufgelegt hatte, den argentinischen Schuldenrückzahlungsverkehr für die 93 % der Gläubiger, die 2005 in die Restrukturierung eingewilligt hatten, nicht mehr abwickeln darf, bis alle Forderungen der Elliot Management von Singer voll erfüllt sind. Die Times schreibt: "Der Entscheid besagt im Wesentlichen, dass Argentinien keine Gläubiger auszahlen darf, wenn es nicht alle auszahlt, und sie sagt, Banken – in den USA und vielleicht auf der ganzen Welt – könnten für die Missachtung [des Gerichts] Anklagen bekommen … Das Gericht machte auch klar, dass es alle, die Argentinien bei solchen Zahlungsabwicklungen helfen würden, als 'der Beihilfe zur Verletzung dieser Verfügung' schuldig betrachten würde … Das Gericht wischte alle Einwände, es habe keine Rechtssprechungsgewalt über ausländische Banken, zur Seite"(s.o.), mit dem schlagenden Argument, diese könnten sich ja dann vor ihm verteidigen. Dies geht gegen das Vorhaben der Regierung Kirchner, die Bonds insofern zu restrukturieren, dass die Auszahlung in Argentinien erfolgen würde. Theoretisch hat das New Yorker Gericht dort keine Oberhoheit, doch wird sich noch zeigen müssen, welche argentinische Bank es sich leisten kann, in den USA keine Geschäfte mehr zu tätigen – und seien es bloss Überweisungen. Erinnern wir uns an die Beflissenheit, mit der die Zürcher Kantonalbank, in der Bredouille wegen ihres Supports für US-SteuerhinterzieherInnen, die Bearbeitung selbst von Mitgliederbeiträgen der Zürcher Sektion der Vereins Schweiz-Cuba verweigerte (Kuba/Schweiz: Finma im Angriffsnachvollzug, 25.6.13).

Mutmassungen und Finanzplatz-Ranking
Der US-Gerichtsentscheid wirft mehrere weit reichende Fragen auf. Im vorliegenden Fall drohen die Eigentümer von ganzen 0.45 % der damals defaulteten Bonds eine von der überwiegend grossen Mehrheit akzeptierte Schuldenrestrukturierung zu Fall zu bringen. Das kann m.a.W. zur Folge haben, dass auch systemrelevante Restrukturierungen wie etwa jene der griechischen Schulden in Frage gestellt sind. Zwar referiert der erwähnte Times-Artikel die Ansicht des Appellationsgerichts, der argentinische Fall schaffe keine Präzedenz, da heute viele Bonds sogenannte collective action-Klauseln haben, wonach " holdout [unwillige] BondhalterInnen eine Restrukturierung aufgezwungen werden kann, wenn eine Supermehrheit der HalterInnen einverstanden ist" (s.o.) Doch ein dem Gericht vorgelegtes Papier des IWF argumentiert, dass mit einem Entscheid für Singer es sehr viel schwerer sein wird, diese Supermehrheit zu erreichen – und damit eine Schuldenrestrukturierung überhaupt. Aus ähnlichen Gründen hat sich, so die Times, auch das Treasury Department im Verfahren gegen ein solches Urteil gewandt.
An der Wall Street scheinen jetzt einige zu befürchten, dass der Finanzplatz New York gegenüber der Londoner City ins Hintertreffen geraten könne, wo die rechtlichen Anforderungen für eine Verweigerung eines Schuldenschnittes durch einzelne holdouts nur schon insofern ganz andere sind, als nur die mit der Herausgabe der Obligationen beauftragte Bank (trustee) diesen Schritt tun kann.

Nie wieder ohne IWF!
Das US-Finanzministerium, der IWF also gegen die Geierfonds? In Kaum öffnen sie den Mund, schon trieft es kolonial, Februar 2013, ist das synchrone Vorgehen des Fonds mit Singer gegen Argentinien beschrieben. Auch der argentinische Ökonom Lucita sieht in seinem o. e. Artikel ganz andere Zusammenhänge: "Was das internationale Finanzkapital diskutiert, und es scheint, dass der radikalste Flügel sich durchsetzt, ist, dass es nie wieder eine Schuldenneuverhandlung irgendeines Landes akzeptieren wird, die eine Kapitalminderung impliziert. So ist das argentinische Beispiel ein schlechtes Beispiel. Es geht darum, dass es nicht wieder zu einer direkten Schuldenverhandlung eines Landes mit seinen Gläubigern ohne Intervention des IWF kommen soll. So gesehen gehorcht die Offensive der Geierfonds ihren Wucherinteressen, aber stellt für das grosse Kapital den gesuchten Vorwand dar, um die Entscheidungskompetenz und Monitoringkapazität des IWF bei jeder Verhandlung wiederherzustellen."
Die Geierfonds und ihre Gerichte, die US-Administration und ihr Fonds – mit eingespielter, komplexer Rollenverteilung für eine weitere, unglaublich grausame Verschärfung des Schuldendiktats global. Das ist leider sehr viel plausibler als die mittlerweilen etwas leiser gewordenen Freudesgesänge der "seriösen" internationalen NGOs (auch in der Schweiz) über die neue "soziale Kompetenz" des IWF nach seinem sogenannten Desaster 2001 in Argentinien, aber leider auch als das Vorhaben der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, am morgen beginnenden G-20-Treffen den Geierfonds Grenzen zu setzen.
Cristina Fernández de Kirchner bei ihrer Ankunft in Russland für den G-20-Gipfel. Quelle: Página/12.

Lucita u.a schlagen als einzigen Ausweg für Argentinien vor, auf autarke Wirtschaftskräfte und internationale Solidarität, ausgehend vom südamerikanischen Staatenbündnis UNASUR, zu setzen, angesichts der realen Entwicklung des Landes seit 2005  natürlich keine abstruse Idee. Begleitet von einem Schulden-Audit nach ecuadorianischem Vorbild (ein Grossteil der argentinischen Schulden sind mit Bestimmtheit illegitim), Zahlungseinstellung bis zu dessen Abschluss, Verstaatlichung des Getreideaussenhandels, progressiven Steuerreformen u. a. Die Frage allerdings, welche Kräfte genauer in Argentinien so ein weit reichendes, allerdings auch nötiges Programm durchzuführen willens und im Stande sind, beantwortet Lucita nicht. Leider ist das Problem letztlich nicht ein wirtschaftstechnisches, sondern ein politisches – wer trägt ein solches Projekt heute?