Happy New Deportation Year

Samstag, 2. Januar 2016



(zas, 2.1.16) Am 23. Dezember übermittelte die Washington Post die Drohung, die tags darauf von zahlreichen anderen Medien aufgenommen wurde:  Ab Januar will die US-Migrationsbehörde ICE gezielte Razzien gegen zentralamerikanische Familien oder Kinder ohne Aufenthaltsbewilligung durchführen. Mehr als 100‘000 Familien (mit und ohne Kinder) aus Guatemala, Honduras und El Salvador sind seit letztem Jahr via Mexiko eingewandert, doch, so die Post weiter, „wurde diese Migration von einem parallelen Anschwellen unbegleiteter Minderjähriger in den Schatten gestellt“. „Die Erwachsenen und Kinder“, gibt die Post Migrationsbeamte von ICE wieder, “sollen wo immer sie aufgefunden werden können, festgenommen und sofort deportiert werden. Anvisiert wird eine Zahl von Hunderten oder mehr.“

Würde es sich um „Hunderte“ handeln, gäbe das keine müde Schlagzeile im Provinzblatt. Allein im Fiskaljahr 2015 (Oktober 14 bis September 15) haben die US-Behörden insgesamt 227‘038 MigrantInnen deportiert, wie das das in Kalifornien erscheinende Blatt La Opinión festhielt. Angekündigt wird offenbar eine viel grössere Aktion. Sonst würde sie nicht nach einhelliger Medienmeinung im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen. Mit ein Grund für die geplanten Razzien, so die Post, ist folgender Umstand: „Die Zahl von festgenommenen Familieneinheiten hat im Lauf von Oktober und November im Vergleich zur Vorjahrperiode um  173 Prozent zugenommen.“  Die New York Times präzisierte: „An der mexikanischen Grenze wurden insgesamt 5622 unbegleitete Jugendliche angehalten, mehr als doppelt so viele wie im November 2014.“ Reuters berichtete von 12‘505 an der Grenze gefangen genommener MigrantInnen in den beiden Monaten Oktober und November. Erhellend die folgende Passage aus dem Bericht der Nachrichtenagentur vom 22. Dezember 2015: „Letzte Woche erweiterte der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, den Einsatz von State Guard-Truppen an der Grenze mit Mexiko. Er sagte, dies würde helfen, den Grenzübertritt unbegleiteter Kinder zu stoppen.“
Minderjährige im Auffanglager an der mexikanischen Grenze
 
Weiter ein Anlass für die Razzien ist nach einhelliger, also von den Migrationsbehörden  verbreiteter,  Mediendarstellung ein kürzlich ergangenes Urteil eines Bundesrichters in Kalifornien, das ICE dazu zwang, mit der Freilassung seit langem gefangener Minderjähriger zu beginnen.  (Das Wall Street Journal am 24. Dezember 2015: „Viele Familien blieben während Monaten an der Grenze verhaftet.“) Viele tauchen nach ihrer Freilassung ab. 

Während Faschos à la Präsidentschaftsvorkandidat Donald Trump die angekündigten Razzien als Augenwischerei einer „permissiven“ Obama-Administration abtun, argumentieren in den Medien diverse RepräsentantInnen von migrantischen Rechtsorganisationen mit der für die deportierten drohenden Lebensgefahr durch die ehemaligen Strassenbanden, die Maras, vor deren Terror viele geflohen seien.  Unwillentlich liefern sie damit der gleichen Administration, die diese Razzien anordnet, argumentative Schützenhilfe für deren eskalierenden (auch militärisch geprägten) Kampf  gegen angeblich die Gewaltkriminalität, die Narcos etc. in Zentralamerika. (S. dazu den Vermerk am Schluss dieses Posts.)

Obama ist auch als „Chefdeportierer“ bekannt. Er hatte in den ersten sechs  Jahren seiner Amtszeit mit über 2 Millionen weit mehr Menschen als selbst die Bush-Administrationen  „ausgeschafft“.  Umso erstaunlicher, auf den ersten Blick, dass dieses Jahr die Deportationen zurückgingen. Ein zweiter Blick klärt uns auf: Das mexikanische Regime war Hilfssheriff geworden. So waren es mit 19‘336 aus den USA deportierten HonduranerInnen 40 % weniger als letztes Jahr, wie La Opinión am 28. Dezember 2015 schrieb. Dafür verdoppelte die mexikanische Regierung im Vergleich zu 2014 ihre Deportationen nach Honduras.  Insgesamt hat Mexiko von Januar bis Ende Oktober dieses Jahr 30‘000 zentralamerikanische minderjährige MigrantInnen gefangen genommen, wie die Nachrichtenagentur Efe mitteilte.  Es handelt sich um ein zentrales Element eines bis nach Südamerika hinein ausgelagertes Migrationsregimes der USA, wie wir es entsprechend auch aus der EU-Politik kennen.

Trump steht für den Faschismus in den USA. An einer republikanischen Präsidentschaftsdebatte sagte er: „Dwight Eisenhower. Man wird nicht netter. Man wird nicht freundlicher.“  Unter Eisenhower lief in den frühen 50er Jahren die Operation Wetback (Nasser Rücken, vom Überqueren des Grenzflusses Río Grande). Damals wurden über eine Million mexikanischer Erntearbeiter unter unmenschlichen Bedingungen deportiert. 
Operation Wetback. Quelle: La Opinión

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Vor wenigen Stunden kamen die ersten Berichte, dass heute früher Razzien im Bundesstaat Georgia begonnen haben.
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Im neuesten Correos-Heft bringen wir einen Artikel zur US-Instrumentalisierung und -Manipulation von Menschenrechts- und Gewaltproblemen in El Salvador, Honduras und Guatemala für ihre gewalttreibende Geopolitik in der Region. Hier eine Anmerkung daraus:

„Unbegleitete Kinder“. Meist liessen die Schlepper oder Angehörigen die Kids nach der US-Grenze die letzte Meile zur nächsten Behörde alleine gehen, um dort das Verfahren für eine Aufenthaltsgenehmigung auszulösen. (Die nächste Station, die menschenunwürdigen Kinderlager, waren kein Medienthema.) Beim Anschwellen 2013/14 der Migrationswelle der Kids spielte Obamas Minimigrationsreform eine Rolle. Befragungen des salvadorianischen Aussenministeriums aller deportierter oder in den US-Lagern festgehaltener Minderjährigen ergeben: Entscheidend als Motiv war die Hoffnung auf Familienzusammenführung. Die meisten Kids wollten in die USA zu ihren Eltern. Hauptauswanderungsgrund für die Erwachsenen: die Armut, lange vor Familie und Gewalt. Dass die Verhöre der Kids in den USA andere Zahlen ergeben, hat einen simplen Grund: Nur mit der Mara-Begründung gibt es Aussicht auf ein Aufenthaltsrecht. Doch daraus destillierte der transnationale Diskurs die überzeichnete Karikatur einer real gravierenden Mara-Bedrohungslage. Ähnliches läuft jetzt zum Thema „innere Vertriebene“ in El Salvador. Der UNO-Flüchtlingsapparat UNHCR spricht von 288‘900 intern von Maras und Kartellen Vertriebenen in diesem Land mit etwas mehr als 6 Mio. EinwohnerInnen. Die Zahlen hat er vom Norwegian Refugee Council, der wiederum hat sie von einer Umfrage der Jesuiten-Uni UCA Ende letzten Jahres. Selbst UCA-nahe Personen bezeichnen im persönlichen Gespräch die UCA-Hochrechnung als statistischen „Quatsch“. Vermutlich fallen tausende, nicht hunderttausende Menschen unter die erwähnte Kategorie. Schlimm genug. Aber diese Zahlen fokussieren eine bestimmte Sicht auf „Sicherheit“ mit Betonung der Notwendigkeit der „internationalen humanitären Aktion“. Und erleichtern dem UNHCR und manchen NGOs die Suche nach Projektgeldern. Integration in den Diskurs vom failed state