Brasilien: Brief an die Freunde und Freundinnen im Ausland

Sonntag, 19. Juli 2020

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Ein von der Regierung angestrebter Massenmord mittels Covid-19. Im Visier: Die unten.

Frei Betto*

In Brasilien geschieht ein Genozid. Heute, am 16. Juli, hat Covid-19, das hier seit Februar existiert, schon über 76'000 Personen getötet. Und fast schon 2 Millionen sind infiziert. Bis Sonntag, den 19. Juli, werden wir 80'000 Todesopfer haben. Wenn Du diesen dramatischen Appell liest, sind es vielleicht schon 100'000.

Denke ich an den Vietnamkrieg zurück, in dem in 20 Jahren 58'000 Leben von US-Militärs geopfert wurden, habe ich ein Mass dafür, wie schwerwiegend das ist, was in meinem Land passiert. Dieser Horror provoziert Empörung und Revolte. Und wir wissen alle, dass die in so vielen anderen Ländern angewandten Massnahmen zur Prävention und Einschränkung diese Zahl an Sterblichkeit hätten vermeiden können.

Dieser Genozid ist nicht auf eine Gleichgültigkeit der Regierung Bolsonaro zurückzuführen. Er ist beabsichtigt. Bolsonaro vergnügt sich am Tod anderer. Als Bundesabgeordneter sagte er in einem TV-Interview: «Mit Wahlen änderst du nichts in diesem Land, nichts, rein nichts. Das wird sich leider erst ändern, wenn wir eines Tages in einen Bürgerkrieg ziehen und die Arbeit erledigen, die das Militärregime nicht gemacht hat: 30'000 zu töten.»

Als er für das Impeachment von Präsidentin Dilma optierte, widmete er seine Stimme dem berüchtigsten Folterer der Armee, Oberst Brilhante Ustra.

Da er so auf Sterben steht, gehört die Befreiung des Waffenhandels zum Kerngeschäft seiner Regierung. Als er vor dem Präsidentenpalast gefragt wurde, ob ihm die Zahl des Pandemieopfer denn nicht wichtig sei, antwortete er: «Ich kann diese Zahl (92 Tote am 27. März) nicht glauben»; «Wir alle werden einmal sterben» (29. März, 136 Tote); «Und? Was soll ich machen?» (28. April, 6017 Tote).

Warum diese nekrophile Politik? Von Beginn weg erklärte er, wichtig sei, die Wirtschaft zu retten, nicht Leben. Daher seine Weigerung, einen Lockdown zu verhängen, die Orientierungen der WHO zu akzeptieren und Beatmungsgeräte und individuelle Schutzausrüstungen zu importieren. Deshalb musste das Oberste Gericht diese Verantwortung an Gouverneure und Präfekten delegieren.

Bolsonaro akzeptierte nicht einmal die Autorität seiner eigenen Gesundheitsminister. Seit Februar hatte Brasilien zwei, beide demissionierten, weil sie sie sich weigerten, die Position Bolsonaros zu übernehmen. Jetzt steht General Pazuello dem Ministerium vor, der nichts von Gesundheitspolitik versteht. Dafür versuchte er, die Opferzahlen der Pandemie zu verheimlichen; berief er 38 dafür nicht qualifizierte Militärs auf wichtige Posten des Ministeriums und schuf die täglichen Presseauftritte ab, über die sich die Bevölkerung orientierte.

Es würde den Raum sprengen, alle Massnahmen zur Unterstützung von Opfern und Familien mit niedrigem Einkommen (über 100 Millionen BrasilianerInnen) aufzuzählen, die nie umgesetzt wurden.

Die Gründe für die kriminelle Absicht der Regierung Bolsonaro sind offensichtlich. Die Alten sterben lassen, um Sozialausgaben zu sparen. Menschen mit Vorerkrankungen sterben zu lassen, um Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen einzusparen. Die Armen sterben zu lassen, um Kosten von Bolsa Familia und anderen Sozialprogrammen für die 52.5 Millionen in Armut und die 13.5 Millionen in extremer Armut (offizielle Angaben) zu optimieren.

Noch nicht zufrieden solchen todbringenden Massnahmen, hat der Präsident jetzt das Veto gegen jenen Teil des Gesetzes vom 3. Juli eingelegt, der das Tragen von Schutzmasken in Geschäften, Kirchen und Schulen für obligatorisch erklärt. Er legte auch das Veto ein gegen Bussen für Nichtbefolgung der Regeln und die Verpflichtung für die Regierung, Masken an die Ärmsten, Hauptopfer von Covid-19, und die Gefangen zu verteilen. Doch diese Vetos können lokale Bestimmungen über das Maskenobligatorium nicht annullieren.

Am 8. Juli legte Bolsonaro das Veto gegen vom Senat verabschiedete Gesetzesbestimmungen ein, die seine Regierung verpflichtet hätten, den indigenen Dörfern Trinkwasser und Hygienematerial, Internetzugang, Essenskörbe, Saatgut und andere Agrargüter zur Verfügung zu stellen. Er belegte mit einem Veto auch den Gesundheitsnotfonds für indigene Gesundheit und die Nothilfe während dreier Monate von 600 Reais (€ 100) für Indigene und Quilombolas[1]. Ebenfalls die Verpflichtung der Regierung für mehr Spitalbetten, Geräte für Beatmung und Messung von Sauerstoff im Blut zugunsten indigener Völker und Quilombolas.

Indigene und Quilombolas werden durch die wachsende sozioökologische Zerstörung insbesondere im Amazonasgebiet dezimiert.

Bitte, macht dieses Verbrechen gegen die Menschheit so bekannt wie möglich. Es ist wichtig, dass die die Medien in Euren Ländern davon erfahren, die Social Media, der UNO-Menschenrechtsrat in Genf, der Internationale Gerichtshof in Den Haag, aber auch die Banken und Unternehmen, die die von der Regierung Bolsonaro so umworbenen Investoren schützen.

Lange, bevor die Zeitschrift The Economist den Begriff verwendete, zirkulierte in den Social Media die Bezeichnung BolsoNero – während Rom brennt, spielt er die Leier und betreibt Propaganda für Chloroquin, eine Arznei ohne wissenschaftliche Evidenz einens Nutzens gegen das neue Virus. Aber seine Hersteller sind politische Alliierte des Präsidenten …

Ich danke für Euer solidarisches Interesse bei der Verbreitung dieses Briefes. Nur Druck aus dem Ausland kann den Genozid stoppen, der unser geliebtes und wunderbares Brasilien heimsucht.

Herzlich, Frei Betto.

·         cartamaior.org, 17.7.20: Carta aos amigos e amigas do exterior. Der Autor ist ein bekannter Befreiungstheologe und Berater sozialer Bewegungen.

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[1] AfrobrasilianerInnen in ursprünglich von geflüchteten SklavInnen bewohnten Territorien.