Haiti: Die Föderation der bewaffneten Banden

Donnerstag, 20. August 2020

 

Rehmonco (Regroupement des Haïtien de Montréal contre l’’Occupation d’Haïti) *

 

Seit einigen Wochen lenken die Menschenrechtsorganisationen und andere Gruppen der Zivilgesellschaft die Aufmerksamkeit auf den Entstehungsprozess einer Föderation bewaffneter Banden im Grossraum von Port-au-Prince und in weiteren Städten des Landes. Sie erkennen darin eine Machtstrategie des Parti Haïtien Tèt Kalé (PHTK), um die kommenden Wahlen total zu kontrollieren und sich so an der Macht zu halten. Zwar ist die Existenz bewaffneter krimineller Gruppen seit Jahrzehnten Teil unseres Alltags, doch scheint es bei dieser Föderationsinitiative um etwas Neues zu handeln. Normalerweise sind sie verstreut und bekämpfen sich gegenseitig für die Territorialkontrolle.

Die diversen Fraktionen der Bourgeoisie und die Staatsagenturen bedienen sich regelmässig dieser kriminellen Gruppen, um ein Terrorklima in den Armenvierteln der grossen Städte zu erzeugen. Dies entspricht einer politischen Strategie des neokolonialen Staats von Haiti. Er kann ohne die kriminellen Gruppen, die in den Volksquartieren Terror verbreiten, nicht mehr herrschen. Bar jeglicher Legitimität rekurriert die Macht offen auf Terror, um die unterdrückten Klassen zu unterwerfen.

Die Demokratiepropaganda kann die ausgebeuteten Klassen nicht mehr einlullen. Im Gegenteil, die Erfahrung der bürgerlichen Demokratie hat den Ausschluss der werktätigen Klassen, der Bauern und der Bewohnerinnen der Volksquartiere nur verschärft. Wir sahen diese Demokratie während der US-Besetzung (1915-34) und die ganze Zeit vor und nach Duvalier am Werk. Die Massen wurden systematisch ausgebeutet und die bäuerischen Rebellionen radikal dezimiert, wenn gleich sie nie verschwunden sind.

Gleichwohl geht heute der Kampf weiter und verstärkt sich in dem Mass, wie er sich nicht auf die Forderung nach Reformen beschränkt. Der Kampf zielt auf den Umsturz des Status Quo. Diese Forderungen, die in den Tumulten 2018/19 klar zutage traten, haben die Mafiaoligarchie und ihre Delegierten an der Macht erzittern lassen.

Objektiv stellt die Ausbreitung der bewaffneten Banden die einzige Antwort der Bourgeoisie und der Macht auf die Krise dar. Diese Strategie soll die Volksmobilisierung brechen und verhindern, dass sie die gesamten Armutsviertel der verschiedenen Städte erfasst.

Mit Unterstützung durch die Polizei haben die bewaffneten Gangs die entsetzlichsten Massaker an den Bewohnerinnen und Bewohnern der Bidonsvilles verübt. Sie schrecken vor nichts zurück. Kinder, Alte, Junge werden geköpft und werden, wenn die Gangs sie nicht mit Schüssen durchlöchern oder sie verbrennen, mit Eisenstangen und Steinen zu Tode gefoltert. Die Frauen werden zusätzlich wiederholt vergewaltigt.

Mit dieser unbeschreiblichen Barbarei versuchen die Statthalter der lokalen Oligarchie mit Unterstützung ihrer internationalen Vormunde der kollektiven Vorstellungswelt der haitischen Massen eine tägliche Angstpsychose aufzuzwingen. Sie wollen die werktätigen Klassen und das Bauerntum gesellschaftlich desintegrieren, um so jede Bewegung gegen die gesellschaftliche Ordnung in Haiti zu neutralisieren. Die Unsicherheit der lokalen Bourgeoisie und der Multis in Sachen grenzenlose Ausbeutung der ArbeiterInnen in den outgesourcten Sektoren kommt hinzu. Die formalen Repressionskader des Staates reichen nicht mehr für die Friedhofsruhe. Der Rückgriff auf die Gangs resp. ihre Föderation erklärt sich nicht allein mit der Wahlagenda des PHTK-Regimes.

 

Dieses Phänomen charakterisiert nicht nur die Krise des abhängigen Kapitalismus in Haiti. Es ist Teil einer tiefen Krise auf Weltebene. Das Aufkommen von Regimes mit faschistischer Tendenz in Amerika und einigen Ländern Europas hat mit der Schwierigkeit des reichsten 1 Prozents zu tun, das kapitalistische Ausbeutungssystem in Gang zu halten. Vor dem Ausbruch der Coronapandemie wies die aufständische Bewegung der Volksmassen in den Ländern des Südens diese oligarchische Gesellschaftsordnung zurück.

Im Fall von Haiti unternimmt die herrschende Klasse mit Unterstützung ihrer internationalen Tutoren ihr Möglichstes, um den Prozess des Führungsaufbaus der ArbeiterInnen und der Volksquartiere zu vernichten. Die «Föderation der bewaffneten Gangs» ist ihre letzte Karte.

Es ist kein Zufall, dass die imperialistischen Mächte den Aufbau dieses neuen Unterdrückungsmechanismus unterstützen. Ohne jede diplomatische Zurückhaltung spendet das Bureau Intégré des Nations Unies en Haíti (BINUH) Beifall für den Entscheid der Interamerikanischen Entwicklungsbank BID (oder IADB), 40 Millionen US-Dollar für den Aufbau von Sozialprojekten in den von den Gangs total kontrollierten Territorien zu sprechen.

 

11.8.20, alterpresse.org: Haïti: Les dessous de la fédération des gangs armés.