Brasília. In allen Teilen des Landes gehen in Brasilien indigene Gemeinschaften auf die Straße und demonstrieren. Grund ist der Gesetzesentwurf zum "Marco Temporal" (Zeitlicher Rahmen), über den seit mehreren Wochen im Bundesgerichtshof diskutiert wird. Überall im Land kommt es zu Demonstrationen, die sich mit dem Camp "Kampf für das Leben" in Brasília solidarisieren.
Der Entwurf sieht eine Neuregelung für den Zugang zu indigenen Gebieten vor. Die Gemeinschaften sollen in Zukunft nur noch Anspruch auf Territorien haben, wenn sie nachweislich vor dem Stichtag bereits dort gelebt haben. Stichtag ist der 5.Oktober 1988 ‒ der Tag, an dem die brasilianische Verfassung in Kraft trat. Die indigene Bevölkerung befürchtet nun den Verlust eines Großteils ihrer Gebiete und damit einhergehend einen Verlust ihrer Kultur und Lebensräume.
Der Artikel 231 der brasilianischen Verfassung schreibt indes den Schutz der indigenen Gebiete vor und sieht ihr dauerhaftes und exklusives Nutzungsrecht für die Gemeinschaften vor. Das Gesetzprojekt zum "Marco Temporal" soll als "Ergänzung" zum Artikel 231 dienen.
Besonders befürwortet wird es von der Agrarlobby und dem Präsidenten Jaír Bolsonaro. Dieser hatte zuletzt in einem Interview erklärt, dass der Anspruch Indigener auf bestimmte Gebiete dazu führen würde, dass die Agroindustrie im Land zugrunde gehe. Agrarunternehmen erhoffen sich vom "Marco Temporal" Rechtssicherheit: Sie befürchten, dass Indigene jederzeit auf alle Gebiete Anspruch erheben könnten.
Von Seiten der Indigenen wird hingegen kritisiert, dass das vorliegende Gesetz die blutige Geschichte des Landes vernachlässigen würde: Vertreibung, Tötung und Verschleppung von Indigenen habe dazu geführt, dass sich zum genannten Stichtag nicht alle Personen in den ihnen zustehenden Regionen aufhalten konnten. Aktivist:innen weisen zudem darauf hin, dass die unterschiedlichen Gruppen schon lange vor der Gründung des brasilianischen Staates auf dem Kontinent gelebt und daher vollständigen und bedingungslosen Anspruch auf die Territorien haben.
Hintergrund des Gesetzesentwurfes ist ein Rechtsstreit im Bundesstaat Santa Catarina: Die Stiftung für technologische Unterstützung und private Landbesitzer haben Anspruch auf das Gebiet Ibirama La-Klãnõ, auf dem unterschiedliche Gemeinschaften leben, erhoben. Personen der Gruppen Xokleng, Kaingang und Guaraníe könnten nun gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Vom "Marco Temporal" wären konkret 300 indigene Gebiete betroffen./p>Bereits vergangene Woche sollte der Bundesgerichtshof eine Entscheidung über das geplante Gesetz fällen, sie wurde allerdings erneut vertagt. Seit Wochen begleiten verschiedene indigene Gruppen den Prozess in Brasília kritisch. In einem Zeltcamp mit dem Namen "Luta pela Vida" (Kampf für das Leben) organisieren sie sich. Auch sie haben sich entschieden, weiterhin vor Ort zu bleiben und auch weiterhin die Verhandlungen zu begleiten. Vergangene Woche kamen dort 6.000 Vertreter:innen von 170 Gemeinschaften zusammen, aktuell befinden sich rund 1.200 Personen vor Ort.
Es sind die größten indigenen Proteste seit 30 Jahren. Und die Protestwelle reißt nicht ab. Schon jetzt wurden weitere Proteste angekündigt. So wurde für den Zeitraum zwischen dem 7. und 11. September zum "Zweiten Nationalen Marsch der indigenen Frauen" aufgerufen. Unter dem Motto "Indigene Frauen - Aufforstung der Gedanken für die Heilung der Erde" sollen unterschiedliche Aktivitäten stattfinden.
Erwartet werden bis zu 4.000 Frauen aus mindestens 150 unterschiedlichen indigenen Gemeinden.
Stattfinden wird das Event in den Räumlichkeiten der Nationalen Kunststiftung (Funarte). Geplant sind unter anderem ein großer Empfang, ein Nationales Forum für indigene Frauen, sowie eine Demonstration der anwesenden indigenen Frauen.
Ebenfalls soll die anstehende Entscheidung des Bundesgerichtshofs am kommenden Mittwoch um 14 Uhr kritisch begleitet werden.
Indigene Ärzt:innen werden anwesend sein, die sich um die Teilnehmenden kümmern und auch Corona-Tests durchführen. Vor Ort wird Masken- und Testpflicht gelten und es wurde gebeten, dass sich vor allem Menschen an den Protesten beteiligen, die bereits immunisiert sind oder wenigstens ihre erste Impfung erhalten haben.