El Salvador: Von Angst zu Widerstand …

Montag, 20. September 2021

 

(zas, 20.9.21) Am 16. September wollte die Regierung den Bicentenario feiern, den 200. Jahrestag der Befreiung von der spanischen Krone. Unter seiner Regierung, so Präsident Nayib Bukele, werde das Land seine wahre Unabhängigkeit erreichen. Wie das? Aktuell gerade mit Bitcoin, der Kryptowährung, die seit dem 7. September «neben» dem US-Dollar offizielle Landeswährung ist – eine Weltpremiere. Am 5. Juni kündigte Bukele das per Video einer begeisterten Bitcoin-Konferenz in Miami an, zwei Tage später hatte die bukelistische Parlamentsmehrheit in gewohntem Arbeitstempo den früh morgens gelieferten Gesetzestext abgesegnet. Wie üblich, konnte man sich bürokratische Umtriebe wie Studien, Konsultationen etc. sparen –der Text kam schliesslich vom «Presi»! Erneut zeigtedas allseits bewunderte El Salvador der Welt, wie man Dinge anpackt.

Zwei Dinge trübten am 7. September die Freude. Zum einen hatte der Bloque  de Resistencia y Rebeldía Popular an diesem Tag eine Bitcoinprotestdemo mit ca. 1’200 TeilnehmerInnen durchführen können. Der Bloque  ist ein Zusammenschluss von Sozialorganisationen. Er steht der in der jetzigen Leitung der FMLN-Partei nicht vertretenen Corriente Revolucionaria Socialista nahe. 200 RichterInnen stiessen zur Schlusskundgebung hinzu. Sie protestierten gegen einen vom Bukele-Parlament gerade ergangenen Beschluss für die obligatorische Pensionierung von RichterInnen ab 60 Jahren. Betroffen ist rund ein Drittel der MagistratInnen, ihren Ersatz soll das Bukele gehorchende Oberste Gericht ernennen, nicht mehr der nationale Gerichtsrat. Die Chefetage der Judikative hatte Bukele gleich am ersten Arbeitstag seiner neuen Parlamentsmehrheit zusammen mit dem Generalstaatsanwalt in einem offenen Verfassungsbruch mit gehorsamem Personal ersetzt. Verschiedene Protestaktionen von Ex-Soldaten und Ex-Guerillas (nicht wenige ehemalige Bukele-WählerInnen) gegen die drastische Beschneidung ihrer Renten und Bitcoin in den vorausgegangenen Wochen zeigten, dass die Popularität der sich selbst als «coolsten Präsidenten der Welt» vermarktenden Figur Risse bekommt. Eindrücklich war Ende Juli schon eine kämpferische, vom Bloque und von autonomen studentischen Zusammenhängen organisierte kämpferische Demo gewesen. Es ging dabei um die Erinnerung an ein grosses Massaker 1975 von Studierenden und gegen die neue Militarisierung des Landes. Diese Mobilisierungen liessen spüren, dass die Zeit der politischen Lähmung zur Linken langsam zu Ende ging.

Vernichtende Wahlniederlagen, die grosse Popularität des auf Entrüstungsmanagement via Hassreden und Social Media spezialisierten Präsidenten, das Damoklesschwert der Pandemie hatten eine halbwegs saubere Aufarbeitung schwerer Fehler des FMLN, aber auch zynischer, oft jedoch verinnerlichter Demoralisierungskampagnen alter und neuer Rechter enorm erschwert. Hinzu kam eine neue, verbreitete Angst hinzu. Tausende von nicht-genehmen Staatsangestellten waren entlassen worden, die Justiz ist weitgehend ein Hilfsorgan der Exekutive, die brutale Selbstherrlichkeit von Armee und Polizei erreicht seit der Pandemie neue Gipfel, ein Spitzelwesen wird propagiert, selbst Personen und Institutionen der traditionellen Oligarchie sollen mit Betriebsschliessungen oder etwa Strafandrohungen wegen Steuerhinterziehungen gezwungen werden, die aufstrebende  Oligarchie um die Regierungsclique als Familienoberhaupt anzuerkennen (s. zu einigen Aspekten El Salvador: Tendenz zum Faschismus).

Es handelt sich um eine für El Salvador neue Form der Angst. Im Krieg, hört man, war die Angst, gefoltert, verschwunden zu werden, im Kampf zu fallen. Heute ist sie diffuser, dafür verbreiteter. Offenbar wird El Salvador «modern». Wenn ich in den Beschreibungen mancher Compas manchmal einen verwunderten Unterton über die lähmende Angst vor Stellenverlusten höre, muss ich an den «deutschen Herbst» mit seinen Berufsverboten denken, als etwa LehrerInnen schleichend nicht nur Fragen zur «Terrorismusbekämpfung», sondern generell linke Inhalte vermeiden sollten. Oder wenn ein studentischer Aktivist davon berichtet, dass bei kleinen Protestaktionen mehr filmende Militärs als TeilnehmerInnen zu verzeichnen sind, dürfte das nicht so Wenige hierzulande an eigene Erlebnisse gemahnen. Auch die Antwort – Blitzdemos zur Vermeidung eines Kessels – fällt in diese Rubrik. Lähmende Angst, Selbstzweifel («waren wir korrupt?») gepaart mit der grossen Popularität des Präsidenten, der Arroganz der Sicherheitskräfte in vielen «unpolitischen» Alltagsepisoden inklusive etwa der schikanösen Militarisierung traditioneller FMLN-Gebiete im Departement Chalatenango, der angelaufenen Verdoppelung der Armeebestände zwecks Bekämpfung des «inneren Feindes» (O-Ton Bukele) oder der offenkundigen Absprachen zwischen Regime und Maras wirkten wie ein Narkosemittel. Das scheint sich zu ändern.

Zum andern wollte am 7. September keine Freude über die Einführung von Bitcoin aufkommen, weil sie technisch misslang. Trotz der immensen Regimepropaganda für die tollen Wechselautomaten Bitcoin/Dollar, bei denen du nach Gusto zwischen den beiden Währungen pendeln darfst, crashte die Software landesweit. Out of service, no bitcoin. Bekannt ist, dass die Automatensoftware  von Personal aus dem venezolanischen Regime-Change-Lager stammt, dessen Kader im Bukele-Apparat dem kommunen Kabinett gegenüber weisungsbefugt sind. Zu den an der Bitcoinisierung El Salvadors beteiligten Unternehmen hat man nur Infosplitter aus ausländischen Kryptowährungsmedien. Die Kabinettschefin Carolina Recinos sitzt in der Leitung der staatlich finanzierten, aber zwecks Umgehung der staatlichen Rechnungskontrolle privatrechtlich aufgestellten AG, welche die rund 250 Wechselautomaten betreibt. (Sie war, wie ihr Mann, der jetzige Botschafter in Italien, vor über 20 Jahren am Versuch einer Machtübernahme im FMLN durch nach rechts «offene» Kräfte beteiligt). Sie funktionierte nicht wie gewünscht, die App, aber Informatiker hatten sie schon untersucht und herausgefunden, dass sie (also das Regime) Zugriff auf alle Daten, Kamera, Mikrofon etc. des Handys hat. Nicht gerade der Sachverhalt, den man mit der dezentralisiert über viele Computer rund um den Globus funktionierenden Blockchain-Verschlüsselungssoftware assoziiert.

Feindliche Demo? Abgestürzte Einführung von Zauber-Coin? Kein Problem, teilte Bukele per Twitter mit: «Wie jede Innovation, weist der Bitcoin-Prozess in El Salvador eine Lernkurve auf. So ist jeder Weg in die Zukunft, man kann nicht alles in einem Tag erreichen. Aber wir müssen mit den Paradigmen der Vergangenheit brechen. El Salvador hat das Recht, in Richtung 1. Welt zu schreiten.»

Doch dann kam der Nationalfeiertag vom 15. September. Schon seit Wochen mobilisierte der Bloque für einen zentralen Protest in der Hauptstadt gegen Diktatur, Sozialangriff und Bitcoin. Er löste damit eine überraschende Lawine aus. Rund 50 Organisationen und NGOs, auch solche aus dem bürgerlichen Lager, schlossen sich an. (Diese Dynamik unter dem leicht schwammigen Begriff der «Zivilgesellschaft» zusammenfassen, greift zu kurz.) Mindestens 20'000 Menschen waren an den drei Sternmärschen dabei gewesen, beteiligte Sozialorganisationen sprechen von 40'000. Kurz: Die vom Bukelismo immer verächtlich abgetane «Rumpfopposition» blüht auf. Nicht irgendeine möglichst institutionell orientierte Opposition, sondern eine auf der Strasse, trotz Twitter oder Facebook immer noch das reale Terrain der gesellschaftlichen Kämpfe. Die zahlreichen Inhalte am Protest drückten überwiegend linke, soziale Positionen aus. Es gab durchaus bürgerliche Kräfte in der Mobilisierung, orientiert am Idealbild der liberalen Demokratie. Sie schlossen sich an diesem Tag der Linken an, nicht umgekehrt. 

Schlusskundgebung am 15. September.
 

Demo vom 15. September. Foto: Revista Factum.

Die Demo vereinte so ziemlich alles, was an emanzipatorischen Kämpfen existiert. Da waren unübersehbar die Feministinnen, die die vom Regime geleugneten Frauenmorde und Entführungen und die faktische Komplizenschaft von Regime und Maras bekämpfen. Da waren die Organisationen gegen die Privatisierung des Wassers, wie sie das Bukele-Lager mit einem neuen Gesetz anstrebt (15 Jahre Verfügungsrecht für Unternehmen über immense Wassermengen, zugunsten etwa der Luxusgrosssiedlung Valle del Ángel der Oligarchenfamilie Dueñas bei der Hauptstadt, was binnen weniger Jahre zu schweren Problemen mit der Wasserversorgung in Bevölkerungszentren zu führen droht, oder etwa zugunsten des Coca-Cola-Abfüllers SABMiller). Da waren die linken Gewerkschaftsverbände, die Entlassenenorganisationen, die EinwohnerInnen auf den Schienengeländen der vor Jahrzehnten stillgelegten Eisenbahn, die jetzt wegen eines Megaprojekts (der tren pacífico) von Räumung bedroht sind. Da waren die AgrarproduzentInnen, deren Mais-, Milch- oder Reisproduktion das Regime mit dieses Jahr weiter hochgefahrenen Importen aus Mexiko kaputt macht (angeblich gekauft bei Unternehmen der Drogenkartelle. Im oberen Importsegment hocken viel Leute aus der engsten Regierungsriege). Da waren die LGBTI-Communities und speziell die Transmenschen mit ihrem Kampf gegen die andauernde Gefahr, ermordet zu werden. Da waren die grossen studentischen Kontingente mit Tanzeinlagen und radikalen Parolen. Da waren Gruppen der indigenen Völker, die von der Bukele-Regierung wieder marginalisiert werden, dafür aber für Tourismuswerbung herhalten sollen. Da waren die RichterInnen, die sich gegen ihre politische «Säuberung» und gegen Bevormundung durch ein regierungshöriges oberstes Gericht zur Wehr setzen. (Einer ihrer Wortführer, Antonio Durán, veröffentlichte vor wenigen Stunden über Twitter, dass Polizei- und Armee-Angehörige vor seinem Haus stünden. Eine klare Einschüchterung, die an die Vorgänge bei der Verhaftung von ehemaligen FMLN-Regierungsmitgliedern erinnert. Ein anderer bekannter Richter hat eine Vorladung der Bukele-hörigen Generalstaatsanwaltschaft erhalten). Da waren die nirgends Organisierten, die ihrem Gewissen folgten. Da waren JournalistInnen, die sich gegen eine Hasskampagne der Regierung wehren. Und wichtig: Da waren die FMLN-AktivistInnen zusammen mit den «antipartidarios», den linken Strömungen, denen so etwas wie eine Partei ein Graus ist. Auf der Strasse, im Kampf gegen das neuartig faschistische Regime, fanden sie zusammen.


"Ich tausche dir mein Bitcoin für alle verschwundenen Schwestern". Bild: Gato Encerrado.

"Ich war nicht im Krieg, damit die Diktatur zurückkehrt."

 Worin bestand die Regimefeier dieses Tages, für die sich Bukele vom Parlament $ 1 Million hatte umbuchen lassen? In einer Ansprache in der Casa Presidencial vor diplomatischem Korps und Armeeeinheiten, die obligatorisch über alle TV- und Radiokanäle gesendet wurde. Sie beinhaltete zentral, neben wie gewohnt verlogener Versprechen neuer Wohltaten, eine wütende Attacke auf die gewalttätigen DemonstrantInnen und solches Tun finanzierende ausländische Regierungen. Er sei kein Diktator, habe bisher die Sicherheitskräfte nicht gegen Demos eingesetzt, aber das könne sich ändern, denn die seien gewalttätig. Von wegen «kein Diktator» nur ein Beispiel: Der frühere markant rechte Bürgermeister von San Salvador, Ernesto Muyshondt, ein Feind des als Arbeitsminister fungierenden Mafioso Rolando Castro, ist von Bukeles Generalstaatsanwalt wegen angeblicher Korruptionsdelikte in Untersuchungshaft gebracht worden. Seit Juli hat ein Gericht vier Mal die Verlegung des offenbar an einer neurologischen Krankheit leidenden Mannes in Hausarrest mit Fussfesseln angeordnet. Er ist weiter im Gefängnis. Zur Gewalttätigkeit der markant friedlichen Demo: Stunden vor ihrem Beginn verbrannte eine Gruppe Vermummter ein zuvor auf der Demoroute abgestelltes Motorrad ohne Nummernschild, was dem Wachpersonal des gegenüberliegenden Kinderspitals aufgefallen war. Anscheinend die gleiche Gruppe Vermummter mit Baseballschlägern versuchte Stunden später vergeblich, sich der Demo anzuschliessen. Sie wurde aus einem Wagen mit identischer Marke und Nummer wie die eines bei früheren Werbeaktionen für die Regierung fotografierten Wagens eines Staatsbetriebs versorgt. Bevor sie abzog, zertrümmerte die Gruppe fotogen einen Bitcoin-Wechselautomaten. Die den Event filmenden «Journalisten» wurden als Mitglieder einer bukelistischen Gemeinderegierung und eines für die «Arbeit mit Jugendlichen in Marazonen» zuständigen Büros Bukeles identifiziert, das als Schaltstelle des Regimes zu den Maras fungiert.

Das Bemerkenswerteste an der «Feierrede» des Präsidenten: Mit keinem Wort erwähnte er die seit Anfang Juni aus allen Rohren propagierte Bitcoin. Er sprach aus der Defensive. Zum ersten Mal seit seiner Wahl haben die Bewegungen auf der Strasse, hat die linke Opposition Fakten geschaffen, mit denen er nicht zu Schlag kam. Seine zukünftige Antwort macht aber die ein obskurer Vorgang deutlich: Ein Wagen des salvadorianischen Konsulats in Long Island, New York, ist gestern Sonntag früh anscheinend in Brand gesteckt worden. Sofort verbreitete Bukele einen Tweet weiter, der dafür FMLN und ARENA, in der Regimediktion zwei Seiten der gleichen Medaille verantwortlich macht. Diese, kommentierte er, «werden nicht so einfach weg gehen. Sie zeigten schon, dass sie zu allem bereit sind.» Das Aussenministerium sprach von einem «terroristischen Anschlag» und verlangt von den US-Behörden eine «verstärkte Sicherheit» für seine diplomatischen Vertretungen.