(zas, 23.8.22) Wenn einer auf einer ganzen NZZ-Seite (Wissen, wer Feind ist und wo der Feind steht) angesichts des Kriegs in der Ukraine dafür plädiert, sich wieder an Carl Schmitt zu orientieren, ist höchste Gefahr im Verzug. Der Autor Konrad Paul Liessmann ist Philosoph und Ex-Dozent an der Universität Wien. Von Schmitt, jahrelanger «Kronjurist Hitlers», zitiert er nicht die bekanntesten Gedanken wie den folgenden, nach der «Nacht der langen Messer» 1934 (Ausmerzung interner Konkurrenz zu Hitler) formuliert: «Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft» (zit. von Linus Schöpfer in NZZ, 9.4.22, Advocatus Diaboli). Er geht auch nicht auf Schmitts bekannte Maxime – «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» - ein. Er vermittelt Krieg als Mass aller Dinge. Widerstrebend, scheinbar, aber wahrheitsliebend halt. Das geht so: «Für viele Zeitgenossen bringt der Krieg [in der Ukraine] eine ungeheure Klarheit in ihre Gedanken. Man weiss nun, wo der Feind steht. Und darüber gibt es keine Diskussionen. Die Monate seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine waren auch Monate des Erwachens aus dem tiefen Schlummer einer illusionären Weltdeutung. Zu dieser gehörte der Glaube an die friedliche Koexistenz von Staaten, zu dieser gehörte die Hoffnung, dass Europa neben der ökonomischen Integration nur das Label ‘Friedensprojekt’ benötige, um eine transnationale Zukunft zu haben.»
Die von Kriegsbeginn an von Macht und Medien pausenlos eingehämmerte Botschaft vom «Erwachen aus der Naivität» also. Das habe Schmitt schon 1932 erkannt, als er «im Freund-Feind-Verhältnis die zentrale Bestimmung allen politischen Handelns» ausgemacht hatte. Mit der Zuspitzung auf Krieg. Darum: «[S]eit Putin wissen wir wieder, dass internationale Politik bedeutet, zu erkennen, welchen Staaten man nicht trauen darf.»
Dieses klare Freund/Feind-Denken, das lange «ein Unding schien», legt heute so Zeugs wie «das Vorantreiben sozialer Fortschrittsprojekte» oder internationale Verständigung bei gegenseitiger Interessenberücksichtigung ad acta. Denn: «Mit dem Feind geht man (…) keine innigen Verbindungen ein. Genau das definiert das Wesen von Feindschaft. Die Beschwörung der Werte ist demgegenüber nicht viel mehr als moralische Tünche.» Und dann geht’s zur Schmitt’schen Sache: «Nicht zuletzt die EU macht die ernüchternde Erfahrung, dass die oft beklagte mangelnde politische Einheit nun durch einen Feind erzwungen wird. Wie selten zuvor erlebt sich die Gemeinschaft als politisches Subjekt. Das Beschwören von Tugenden wie Geschlossenheit, Härte und Konsequenz in Fragen der Sanktionen, die über Russland verhängt wurden, drückt dies aus. Das aber bedeutet: Nicht der Wille zum Frieden treibt das Einigungsprojekt voran, sondern der Wille, sich, wenn bis anhin auch nur indirekt, an einem Krieg zu beteiligen.»
Der Autor fühlt auch Weltschmerz. Wer Frieden will, rüstet auf und denkt in «potenziell tödlichen Gegnerschaften. Wie dieses dennoch einigermassen human gestaltet werden kann, bleibt wohl bis auf weiteres eine ungelöste Aufgabe.»
Letzten April hatte sich, wie oben erwähnt, Linus Schöpfer in «Advocatus Diaboli» ebenfalls Carl Schmitt gewidmet. Inhalt: Der Nazi werde in Kreml-nahen Kreisen, vor allem aber in der chinesischen Führung gut rezipiert. «Niemand … nehme einen in China ernst, wenn man nichts über Carl Schmitt zu sagen wisse», zitiert er einen westlichen Politologen. Wie das auch bei Schöpflin durchschimmert: Der Autor Karlheinz Ott vermittelt ihm die Erkenntnis, dass «der Westen angesichts des Ukraine-Kriegs nicht um die Erkenntnis herumkommt, nicht bloss Feindbilder zu haben, sondern echte Feinde.» Schmitt würde beipflichten. Weiter sagt Ott, nicht nur Rechtsextreme seien von Schmitt angezogen, sondern auch «[w]er in linker Weise in glasklaren Feindbildern denkt, ist mit Schmitt ebenfalls bestens bedient». Lassen wir das mit den «Linken» für den Moment, denn die haben «bloss» Feindbilder, «wir» aber Feinde.
Interessant Schöpflins Hinweis auf den Bremer Politologieprofessor und Autor Philip Manow, der bei Schmitt mit den Jahren «eine Verschiebung von der Politik zur Wirtschaft als wahrem Träger der Macht» sieht. «Schmitt sei» nach Manov «einer der frühesten und fundiertesten Theoretiker der Globalisierung gewesen.»
Der Nationalsozialismus war mitnichten nur primitiv und retro. Er war auch brutal modernisierend. Das macht ihn für zeitgenössische Stürmer attraktiv. Dass damals die nazistische Modernisierung z. B. nicht nur von deutschen Kadern, sondern auch von zahlreichen atlantischen Historikern, Ökonominnen und Polit- und Mediengrössen, etwa auch von einem Keynes, analysiert und in ihren Sozialkriegs- und kriegsökonomischen Belangen übernommen wurde, belegt Detlef Hartmann in Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2. So etwa die Verbindung von defizitfinanzierter Kriegswirtschaft und Massenproduktion mit Erschliessung beherrschter Zonen (Osteuropa im Fall der Nazis, Lateinamerika für Roosevelts New Deal) und einem tendenziell globalisierten Sozialkrieg gegen unten, die «moralische Ökonomie» der Subsistenzgesellschaften etwa in sowjetischen Dörfern mit Verlängerung in die Fabriken oder im jüdische Stetl in Polen. Die Verbindung also eines neuen produktiven und finanztechnischen Waffenarsenals mit der von den Nazis antisemitisch verdichteten Vernichtung. Eine Blaupause, die vom US-Konstrukt Bretton Woods (IWF, Weltbank u. a.) nach dem 2. Weltkrieg, beginnend mit Lateinamerika, für grosse Teile der Welt übernommen wurde.
Die Nazis waren Vorreiter eines Keynesianismus. Aber sie waren nicht allein. Hier eine Bemerkung zu Karlheinz Otts Hinweis auf «Linke». Die bolschewistische Führung betrachtete Fordismus/Taylorismus als neutrales Instrument, dessen Einsatz durch eine revolutionäre Führung nur Gutes bewirke. Was im Stalinismus grauenhaft gipfelte, war, das belegt Hartmann anhand zahlreicher Arbeiten mit Informationen aus den seit einigen Jahrzehnten zugänglichen Archive der KP der Sowjetunion, unter Lenin schon früh aufgegleist: mit der Pervertierung der Sowjets zu Transmissionsriemen der bolschewistischen Kommandos oder der «Entkulakisierungs»-Hetze mit klarer Tendenz zum Massenmord. Falls sich also Ott z. B. ebenfalls auf Schmitt-Rezeptionen in China bezöge, wäre das genauer zu betrachten. Allerdings nicht entlang der dummen Linie von «rechts und links berühren sich», sondern umgekehrt vom Begriff einer gemeinsamen kapitalistischen Basis aus. (Wie die bolschewistische Organisation oder etwa die Khmers Rouges, ja ebenfalls aus dem Widerstand entstanden, sich derart «modernem» massenmörderischen Kommando unterordnen konnten, ist eine existentielle Frage.)
Wie erreichten Roosevelt und seine New-Deal-Kader den Wirtschaftsaufschwung? Nicht mit Vollbeschäftigungsmassnahmen à la klassischer Keynes-Rezeption. Mit einer Politik der Aufrüstung. Und wie die Nazis? Mit der massiven Förderung der Kriegsindustrie. Wie die Sowjets? Dito. Und was läuft heute? In Ost und West Kriegstrommeln, Kriege. Die EU – ein taugliches Projekt dank Kriegsorientierung, wie der Wiener Philosoph plaudert.
«Strange fruits» (Billie Holliday)
Wir verstehen, welche Früchte beim «Aufwachen» vom Himmel fallen sollen. Wie die, die der Philosoph antönt: Schluss mit Genderscheiss oder Gefühlsduselei in Sachen Migrationsbekämpfung. Oder wenn es von «Verantwortungsbewusstsein» zeugt, dass die olivgrüne deutsche Aussenministerin die Frontex-organisierte Gefangennahme geflüchteter SklavInnen durch die libysche Miliz («Küstenwache») expressiv verbis begrüsst. Oder dass Proteste dagegen, dass Soldaten in der Übung mit der Polizei in Bern die Ausweise derer kontrollieren, die das Bundesamt für Gesundheit frequentieren, wird auf der Rückseite des Philosophenartikels als «wahres, totalitäres Gesicht» der Linken ausgemacht.
Vieles wird noch kommen.
Ukraine: Die einen bomben, andere befehlen: Weiter so! |