“Jin, Jian. Azadi" - Was bedeutet Solidarität hier und heute?

Donnerstag, 29. September 2022

 

Redebeitrag1 zur Solidaritätskundgebung mit den Protesten im Iran.

“Jin, Jian. Azadi” - Bremen, 26.09.2022

Hallo zusammen!

Ihr habt schon viel über die Tyrannei des islamischen Regimes im Iran gehört und vor allem über den Mut der Frauen und der jungen Menschen, die sich erneut gegen dieses System erhoben haben, um für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Ihr werdet noch mehr darüber hören, denn neben den Meldungen über die getöteten Menschen auf den Straßen gibt es – wenn auch nur für kurze Zeit – viele Berichte und Analysen über die aktuelle Situation im Iran. Wir als linke Iraner*innen im Exil wollen heute hier eine wichtige grundsätzliche Frage aufwerfen: Was bedeutet Solidarität mit den Protesten im Iran für uns hier, im “Herzen Europas”? Wir solidarisieren uns seit Jahren mit den Aufständen im Iran und anderen Ländern des globalen Südens – und doch werden die Protestierenden bei jedem Aufstand immer brutaler unterdrückt. Im Iran begann das mit Aufstandsbekämpfung gegen die „Grüne Bewegung“ 2009 und verschlimmerte sich mit den Aufständen von 2018, 2019 und 2021.

Gut zwei Jahre lang haben wir uns auch auf das Leidenschaftlichste mit der Bewegung in Rojava solidarisiert. Danach wurde diese Hoffnung gebende Bewegung jedoch allein in den Händen regionaler und globaler Mächte zurückgelassen. Anscheinend war unsere Solidarität keine ausreichende Antwort für Rojava. Um nicht missverstanden zu werden: Unsere Solidarität mit den emanzipatorischen Kämpfen der Unterdrückten weltweit ist zweifellos notwendig – aber: etwas Grundlegendes fehlt. Wir brauchen eine neue politische Strategie, um die unmenschliche Weltordnung zu beeinflussen. Diejenigen, die im globalen Süden ihr Leben riskieren, tun alles in ihrer Macht stehende, um gemeinschaftlich ihre Lebensbedingungen und auf diese Weise die brutale Weltordnung zu verändern. Aber ihre Bemühungen bleiben wirkungslos, solange die Hochburgen des Kapitalismus noch stabil auf festen Füßen stehen. Jetzt mögen manche sagen: “Schon wieder diese anti-imperialistische Meckerei!”. Als Antwort darauf sagen wir: Schaut euch Afghanistan an, das euch bekannter ist und dessen Wunde noch frisch ist. Wie kann die deutsche Außenministerin es wagen, ihre “Solidarität mit den unterdrückten Frauen im Iran” zu bekunden, während afghanische Frauen tagtäglich unter den Stiefeln der Taliban gefoltert werden und ihre Schreie ungehört geblieben sind? Wie können wir die Bedeutung dieser unmenschlichen Weltordnung ignorieren, wenn ihre katastrophalen Folgen auch hier so offensichtlich sind? Wenn ihr noch nicht verstanden habt, dann schaut euch die Unzahl von afghanischen Flüchtlingen an, die hier zu den billigsten internationalen Arbeitskräften geworden sind. Diejenigen, die tagtäglich Rassismus und Ausbeutung ertragen müssen, während ihre Herzen vom Leiden ihrer Lieben und der Menschen in Afghanistan zerrissen werden. Welche Kräfte haben diese endlosen Leiden wohl verursacht?

Aus der Zeit der blutigen Kolonisation Nordamerikas gibt es den kolonial-rassistischen Ausspruch: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.“ Übertragen auf die Weltordnung aus Sicht der Weltmächte heißt das: „Nur ein Mittlerer Osten in Chaos und Tyrannei ist ein guter Mittlerer Osten“ – 1. Wegen Zeitknappheit wurde der Redebeitrag bisschen kürzer als der Text gehalten. auch wenn sie das so natürlich nicht explizit sagen können. Aber die Rechnung geht auf: Denn eine Regierung, die sich gegen die eigenen Menschen stellt, ist die beste Komplizin, um die Ressourcen dieser Menschen zu plündern. Die Phrasen von „Menschenrechten“ und die theatralischen Gesten der westlichen Machthaber dienen nur dazu, dieses alte Prinzip zu verschleiern. Schaut euch an, wie Emmanuel Macron vor wenigen Tagen den iranischen Präsidenten bei den Vereinten Nationen umarmte – während die Protestierenden gegen sein Regime bereits seit Tagen auf den Straßen mit Gewehrkugeln konfrontiert waren. Selbst wenn Macron nicht wissen sollte, welche Rolle der derzeitige Präsidenten Irans bei dem Massaker an politischen Gefangenen 1988 gespielt hat, bei dem etwa zehntausend linke und revolutionäre Gefangene ermordet wurden – die aufklärenden Straßenaktionen von iranischen Regimekritiker*innen direkt vor der Haustür der UN im New York hätten ausreichen müssen, um dieses Treffen abzusagen.

Wir müssen uns also fragen: Warum brauchen die westlichen Mächte solch enge Beziehungen zu Diktatoren des globalen Südens? Müssen wir die intensiven und langjährigen Beziehungen der USamerikanischen Regierung zu Saudi-Arabien oder die langjährigen stabilen Beziehungen der Bundesregierung zu den Diktatoren der Türkei, Ägyptens und Irans wirklich noch erwähnen? Eine unserer Beobachtungen wollen wir aber nicht unerwähnt lassen: Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie Claudia Roth – aktuell Staatsministerin für Kultur und Medien – in Berlin während ihres Redebeitrags auf einer der Solidaritätsdemos 2009 für die Grüne Bewegung wegen der massiven Unterdrückung im Iran geweint hat. Aber wenige Monate später, nachdem sich die Lage im Iran “beruhigt” hatte, reiste sie zusammen mit einer hochrangigen wirtschaftspolitischen Delegation in das Land der Mullahs, um das grundlegende Bedürfnis der Nationalwirtschaft Deutschlands zu stillen: den Durst der hiesigen kapitalistischen Ordnung nach Wirtschaftswachstum um jeden Preis.

Viele politikwissenschaftliche Bücher behaupten, die Ära des Kolonialismus sei vorbei. Doch die alltäglichen Erfahrungen unterdrückter Menschen im globalen Süden zeigen das Gegenteil: Es sind lediglich die Formen und Mechanismen des Kolonialismus, die modernisiert worden sind. Wer das nicht glauben will, ist wahrscheinlich mit seiner oder ihrer privilegierten Position recht zufrieden. Das wiederum heißt: “Nur ein unterdrückter Mensch aus Mittlerer Osten ist ein guter ‚Middle Easter‘“.

Zum Abschluss kurz zum aktuellen Aufstand im Iran:

Die Stärke dieses Aufstands liegt aus unserer Sicht darin, dass sich die verschiedensten Gruppen von Unterdrückten zusammengeschlossen haben, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: die Konfrontation mit dem militärischen totalitären System. Die Aufständischen sind zweifellos unterschiedlich von Unterdrückungsmechanismen betroffen – einige von ihnen tragen sogar zur Reproduktion einiger Unterdrückungsformen bei oder profitieren von ihnen. Der Punkt ist aber: Es ist dieses neo-faschistische Regime, das all diese Unterdrückungsformen reproduziert und verstärkt. Die aufgestaute Wut und die Dringlichkeit der Situation haben trotz aller bestehenden Differenzen den gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Ordnung ermöglicht. Dazu kam die erhebende Kraft des Aufstands – denn eine echte politische Bildung entsteht im kollektiven Kampf. So unterstützen z.B. die Männer nicht nur die Forderungen der Frauen, sondern wiederholen gemeinsam mit den Frauen den Slogan, der zur Frauenbewegung in Rojava gehört: „Jin, Jiyan, Azadi“. Viele der aktuell Demonstrierenden, auch viele Frauen, haben sich in der Vergangenheit – unter anderem aus nationalistischen Gründen und wegen anderer konstruierter Grenzen – von der Rojava-Bewegung entfremdet. Doch das ist ja das emanzipatorische Moment einer Bewegung: neue Subjekte zu bilden. Der aktuelle Aufstand im Iran ist deswegen nicht nur ein Fortschritt im Kampf der Frauen in der Region gegen das Patriarchat und den religiösen Fundamentalismus, sondern er ist viel mehr. Dieser Aufstand kann dazu beitragen, dass sich unter den vielfältigen Nationen des Mittleren Ostens ein neues Verständnis entwickelt: Das Verständnis, dass sowohl unsere Kämpfe als auch unsere Zukunft zusammengehören. Das Verständnis, dass jeder einzelne Kampf, den wir führen – wo auch immer und wofür auch immer –, nicht nur für uns selbst, sondern für alle ist. Das heißt: Unsere kollektive Befreiung von dem herrschenden Albtraum im Mittleren Osten hängt von der internationalistischen Verbindung unserer Kämpfe ab.

Damit kommen wir auf unsere Ausgangsfrage zurück: Was also bedeutet „Solidarität“? Wenn wir eines durch die zunehmenden Bedrohungen angesichts der Klimakatastropheerkannt haben, dann dies: Es ist nicht möglich, in einer schlechten Welt gut zu leben. Die ganze Welt als unser gemeinsames Zuhause ist von allen Seiten bedroht. Daraus lässt sich nur ein Schluss ziehen: Eine echte Solidarität bedeutet, die Kämpfe der anderen Unterdrückten, hier, jetzt, auszudehnen und zu erweitern – um sie zu einem gemeinsamen Kampf gegen das Ganze und ums Ganze zu machen.

Das ist es, was jetzt ansteht – lasst uns loslegen!

(Hier ist Rhodos, hier springe!)

Eine Gruppe von linken Iraner*innen im Exil

Bremen, Sep. 2022